Ich werde Arafat vermissenInterview des Haaretz-Journalisten Ari Shavit mit Uri Avnery Uri Avnery ist unerschütterlich in seinem Glauben, Yasser Arafat sei ein Gigant und ein Partner für Israel gewesen - seine einzige Gelegenheit, die Israel tatsächlich versäumt hat. Der zornige junge Mann in Jenin kümmert sich nicht um Abu Ala oder Abu Mazen. In Wirklichkeit haben Sharon und Bush das Feld Osama bin Laden überlassen. Uri Avnery hat in seinen 81 Jahren eine ganze Menge erreicht. Er kämpfte in der vorstaatlichen Untergrundgruppe Lehi, dann im Unabhängigkeitskrieg mit “Samsons Füchsen; er schrieb die bedeutendsten Echtzeit-Bücher über den Krieg (“Auf den Feldern der Philister” und “Die andere Seite der Medaille”); er war der Herausgeber des Wochenmagazins, das das Gesicht des israelischen Journalismus (Ha’olam Hazeh) veränderte; er baute die politische Bewegung auf, die die israelische Linke gestaltete (“Ha’olam - Koah Hadash”); er war einer der führenden Sprecher der arabisch-israelischen Kultur Doch vor allem, vollbrachte Uri Avnery einen wichtigen politischen Akt: er brachte Yasser Arafat in unser Leben. 1974 war Avnery der erste Israeli, der Gespräche mit Arafats Vertretern begann. 1982 war er der erste Israeli, der Arafat traf und ihn interviewte. 1994 saß er an Arafats Seite, als der palästinensische Führer in den Gazastreifen zurückkehrte. Seit 30 Jahren ist Avnery der begeistertste Anhänger von Arafats politischer Option. Selbst wenn andere der Linken über den Vorsitzenden verzweifelt sind und ihn verlassen, fuhr Avnery fort in die Muqata zu pilgern, Arafats Hauptquartier in Ramallah. Selbst in den gewagtesten Zeiten fungierte er als Arafats menschliches Schutzschild und sein Anwalt. Loyal, hartnäckig, sein Leben riskierend kämpfte der israelische Journalist die Schlacht des Führers der palästinensischen Nationalbewegung mit. Avnery ist eine ausgesprochen nüchterne Person. Rational, kühl und präzise. Immer sorgfältig gekleidet, immer elegant, (in seiner hebräischen Sprache) immer noch den nachklingenden deutschen Akzent. Aber Dienstag nacht, als die palästinensische Führung zugab, dass der Rais (Chef) im Sterben lag, hat ihn das Drama von Arafats Tod doch plötzlich ergriffen. Im Wohnzimmer seiner Tel Aviver Wohnung schaute Avnery trauriger und verwundbarer aus als je. Auf einmal schien es, dass wahrer menschlicher Kummer in seinen stahlblauen Augen hoch kam. Ein großer FehlerUri Avnery, als einer der Arafat nahe stand, glauben Sie nicht, dass es etwas Demütigendes gibt über die Art und Weise, wie der Tod über ihn kam? Avnery: Bedauerlicherweise hat Suha (Arafats Frau) nicht den Test der Geschichte bestanden. Sie war Arafats großer Fehler. Er heiratete sie in einem Moment der Schwäche, als er plötzlich nach allem eine Familie wollte. Aber dieser Wunsch verging sehr schnell angesichts der Opposition, die sie nach der Hochzeit hervorrief. Die Leute konnten nicht verstehen, warum der Mann, der mit der Revolution verheiratet war, plötzlich heiraten wollte. Und nicht einmal eine muslimisch arabische Frau, sondern eine Christin, eine moderne Frau, eine Außenseiterin, eine Blondine. Ihm wurde bald klar, dass er sich von ihr distanzieren muss - und sie wurde bitter. Die Folge war das Ende, das wir gerade erlebt haben, das unpassend war und auch mich zweifellos verletzte. Und zwar sehr. Arafat hat etwas anderes verdient. Aber in ein paar Wochen wird dies alles vergessen sein; was bleiben wird, ist ein Tod, der einen großen symbolischen Wert in sich trägt. In einer endgültigen Analyse, die in die Geschichte der Palästinenser eingehen wird, ist es, dass die Person, die sie fast 50 Jahre geführt hat, im Ausland gestorben ist. Wie die meisten Palästinenser. Und was wird in die palästinensischen und arabischen Mythen eingehen? Dass der Führer der Befreiungsbewegung an der Schwelle der palästinensischen Unabhängigkeit gestorben ist, ohne sie noch zu erleben. Das wird symbolische Bedeutung haben, die Jahr zu Jahr größer wird, wie die Gestalt Arafat selbst. Was meinen Sie damit? Wird Arafat nichts weniger als ein palästinensischer Moses werden? Da besteht eine große Ähnlichkeit zum Tode von Moses, der ein Volk aus der Sklaverei führte und auf seinem Marsch zur Freiheit 40 Jahre lang, fast genau wie Arafat, führte. Es gibt zudem eine Ähnlichkeit in der Tatsache, dass auch Arafat nur die Schwelle zum Verheißenen Land erreicht hat. Er sah es von ferne, konnte es aber nicht mehr betreten. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht. Die Symbolik ist hier sehr groß. Genau deshalb wird der tote Arafat eher noch stärker sein als der lebende. Glauben Sie wirklich, dass Arafat ein großer historischer Führer war? Ein sehr großer. Yasser Arafat wird als einer der größten Führer des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis bleiben. Manchmal wird er mit Nelson Mandela verglichen. Aber Arafats Aufgabe war 1000 mal schwieriger als die von Mandela, der 28 Jahre im Gefängnis verbrachte und so völlig unbeeinträchtigt von externen und internen Kämpfen und jeder Verbindung zum Terror blieb. Und am Ende übernahm er einen bestehenden Staat. An einem Tag war er der Führer einer Befreiungsbewegung - am nächsten Tag war er Präsident. Im Gegensatz dazu, empfing Arafat ein weit zerstreutes Flüchtlingsvolk, das unter arabischen Diktaturen lebte. Ein Volk, dessen Führung von Geheimdiensten von einem halben Dutzend Ländern verfolgt wurde, einschließlich Israel. Die Folge davon war, Arafat war gezwungen zu lügen, manchmal gegenüber diesen arabischen Führern, manchmal gegenüber einem anderen. Er musste seine Zuflucht zu Ambivalenz nehmen und musste manövrieren. Diese Fähigkeit ist vielleicht seine bedeutendste Eigenschaft. Arafat hatte einen Staat aus dem Nichts zu schaffen einen Staat, in dem es keine Infrastruktur, keine Wirtschaft, keine Regierungsapparate gab. Außerdem musste er die Spannungen zwischen der alten Führungsschicht aus Tunis und der jungen lokalen Führung überbrücken, auch zwischen Christen und Muslimen, zwischen Frauen und Männern und zwischen den Hamulas (Clans); zwischen Flüchtlingen und den Bewohnern der (besetzten) Gebiete. Er musste das ganze Paket zusammenhalten - fast allein und unter unglaublichen Umständen. Und es gelang ihm. Es gelang ihm auch, nicht nachzugeben. Er stand fest gegen Clinton und (den früheren israelischen Ministerpräsidenten Ehud) Barak und kapitulierte nicht. Da gibt es also bei mir keinen Zweifel, dass er einer der größten Helden der arabischen Geschichte werden wird. Er wird ins Pantheon der arabischen Helden aufgenommen werden, wie Kalif Omar und Salah a-Din. Denken Sie wirklich so - nachdem er nur der Führer einer sehr problematischen Nationalbewegung eines kleinen arabischen Volkes war? Diese kleine Nation wurde zum Symbol für die ganze arabische Welt. Weil die arabische Welt heute in einem gedemütigten Zustand ist. Ihr ganzer Vorstoß richtet sich gegen die westliche Expansion. Wenn ein 18jähriger in Kairo, Riad oder Damaskus sich nach einem Vorbild umschaut, dann sieht er nur Arafat. Jeder Araber, der die Demütigung der arabischen Nation empfindet, identifiziert sich mit Arafat als einer Person, die nicht bezwungen wurde, als jemand mit Mut und der trotz aller Verleumdungen davon unberührt blieb. In diesem Sinne ist Arafat völlig anders als die anderen Führer in dieser Region. Er überragt die hässlichen und armseligen Bilder von Leuten wie Mubarak, Abdullah oder Assad. Tatsächlich gibt es nur noch eine Gestalt, die mit Arafat konkurriert: Osama Bin Laden. Und diese beiden vertreten die Gegensätze der arabischen Welt. Arafat war religiös, ja, aber seine Führung war säkular. Er vertrat eine im Wesentlichen säkulare nationale Bewegung. Er vertrat den arabischen Nationalismus in einer europäischen Form. Im Gegensatz dazu, vertritt Bin Laden einen anti-nationalen, islamischen Fundamentalismus, der arabischen Nationalismus genau wie der Haredi (Ultra-Orthodoxen) Judaismus israelischen Nationalismus ablehnt. Deshalb machten sowohl Israel als auch die USA einen schrecklichen Fehler, indem sie sich nicht mit Arafat verbündeten. Weil in Zukunft alle arabischen Revolutionen einen fundamentalistischen Charakter haben werden. Arafat wäre die letzte Chance für einen Sieg des arabischen Nationalismus nach westlichem Format gewesen. Er war die letzte Barriere gegenüber den extremen islamischen Mächten gewesen. Ich bin mir nicht sicher - ob ich das verstanden habe - können Sie dies noch genauer darlegen? Die größte Gefahr, der Israel gegenüber steht, ist die Gefahr durch Salah a-Din, durch einen Gegenkreuzzug, in dem die arabische Welt sich unter dem islamischen Banner vereinigt. Das ist eine wahre existenzielle Gefahr für Israel. Arafat war das ganze Gegenteil davon, zum einen im kleinen palästinensischen Raum und als Symbol für die ganze arabische Welt. Der ägyptische Denker Mohammed Sid Ahmed sagte deshalb, wenn Arafat nicht existiert hätte, dann hätte Israel ihn erfinden müssen. Arafat war ein natürlicher Partner, um Israels Zukunft abzusichern. Aber wir haben uns töricht benommen. Wir brachen ihn. Wir verstanden nicht, dass er ein wichtiges Element im Wall gegen den Fundamentalismus war. Wir verstanden nicht, dass Arafat der einzige Gegenpol zu Bin Laden und seinen Gefolgsleuten und Nachfolgern war. Behaupten Sie also, dass die Anti-Arafat-Politik, die von Ministerpräsident Sharon und Präsident Bush praktiziert wurde, eine Katastrophe war? Sharon ist ein Ignorant und Bush auch. Das verbindet beide. Sie sind beide entsetzlich primitive Menschen, die nicht fähig sind, weite historische Zusammenhänge zu begreifen. Die gemeinsame Bemühung beider, Arafat zu brechen, stellt eine historische Kurzsichtigkeit unhistorisch denkender Leuten dar. Leute, die Geschichte nicht verstehen und die Geschichte nicht leben. Beide haben tatsächlich das Feld Bin Laden überlassen. Dadurch, dass Bush den Irak zerstört und beide gemeinsam Arafat gebrochen haben, führen sie sowohl Amerika als auch Israel in eine Katastrophe. Amerika kann damit fertig werden. Auch wenn die Folge eine weitere Zerstörung von hundert Türmen ist und die Umwandlung der USA in eine faschistische Diktatur, Amerika wird sich letzten Endes erholen und geheilt werden. Für Israel ist es allerdings ein existentielles Problem. Indem wir Arafat ruiniert haben, machten wir einen historischen Fehler, den wir wahrscheinlich nicht mehr berichtigen können. Freundlich und warmherzigLassen wir das Urteil der Geschichte eine Weile beiseite. Sie trafen Arafat viele Male und verbrachten Hunderte von Stunden mit ihm. Was für eine Art Mensch ist er? Arafat ist immer eine Überraschung für den, der ihn zum ersten Mal begegnet. Wieso? Der Unterschied zwischen seinem TV-Image und der Wirklichkeit ist erstaunlich. Zunächst mal sein Bart. Im Fernsehen sieht er immer wie ein Zweitagebart aus. In Wirklichkeit ist er gefleckt, schwarz und weiß gesprenkelt. Dann die Augen. Im TV sehen sie ein bisschen verrückt, ein bisschen fanatisch aus. In Wirklichkeit aber sind sie genau das Gegenteil: sehr freundlich, sogar feminin. Alles in allem ist Arafat eine sanfte Person. Seine Hände sind sanft, seine Körpersprache ist sanft. Er ist eine sehr warmherzige Person. Voller Mitgefühl. Deswegen hat er eine unglaubliche Fähigkeit, persönlichen Kontakt zu knüpfen. Er ist direkt, unförmlich, emotional. Er ist kein Mensch von abstrakten Ideen, sondern von Gefühlen; nicht analytisch, sondern intuitiv. Viele seiner Dialoge finden weniger mit Worten als mit Gesten statt. Er liebt Gesten. Er hat ein phänomenales Gedächtnis und er hat unglaublich schnell aufgenommen. Er konnte eine Situation in einer Tausendstel Sekunde erfassen. Gleichzeitig war er sicher kein Intellektueller. Ich glaube nicht, dass er Bücher las. Ich denke, er hat überhaupt nicht gelesen. Er ist einer von den Führern, für die Zusammenfassungen vorbereitet wurden. Aber er neigte dazu, in Details zu gehen. Und er hatte die Fähigkeit, kühne Entscheidungen in Lichtgeschwindigkeit zu machen. Wegen dieser beiden Charakterzüge, war es für ihn schwierig, die Macht zu delegieren. Er war immer sehr zentralisiert. Er hielt die Karten sehr nah an seiner Brust. Wenn man ihn mit Abu Mazen und Abu Ala sitzen sah, erschienen diese im Vergleich zu ihm wie kleine Kinder. Er war es, der entschied. Er allein. Deshalb denke ich, dass er unersetzlich ist. Da gibt es niemanden in der palästinensischen Ära, der so wie er Entscheidungen treffen konnte. Er hatte auch Sinn für Humor. Er liebte Witze. Manchmal machte er Witze auf Kosten seiner Mitarbeiter. Aber er war nicht anspruchsvoll und nicht unnahbar. Er ließ die Leute ihn unterbrechen und korrigieren. Die von ihm geschaffene Atmosphäre war wie die eines chassidischen Führers in seinem Hof. Nach der letzten Analyse denke ich, ist sein hervorragender Zug seine totale Identifizierung mit seiner Rolle. Er selbst, Arafat, war der palästinensische Befreiungskrieg. Daher das Gefühl, dass er nicht ersetzt werden kann, dass nur er es tun konnte. Da gab es auch das Gefühl persönlicher Voraussicht, als er wie durch ein Wunder einen Flugzeugabsturz in der Libyschen Wüste überlebte. Wie Arik Sharon, war Arafat total davon überzeugt, er halte das Schicksal seines Volkes in der Hand. Doch während Sharon der Säkularste der Säkularen ist, hatte Arafat immer eine religiöse Dimension. In diesem Sinne war er wahrlich ein gläubiger Muslim. Waren Sie beide aufrichtig befreundet? Da gab es ein vollkommenes gegenseitiges Vertrauen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Als wir uns in Tunis trafen, bedeckte er seinen Kopf nicht. Ich habe ein Photo, auf dem er ohne Kopfbedeckung zu sehen ist und auf dem er mir eine Orange schält. Er tat dies sehr sorgfältig und war ganz darauf konzentriert. Aber ohne die Keffiyeh - er ähnelte sehr seinem Bruder. Arafat wusste, dass ich dies Photo nicht veröffentlichen werde. Er wusste, dass obwohl ich ein Journalist war, nie etwas veröffentlichen würde, was nicht veröffentlicht werden soll. Historische KonzessionenIst Arafats Tod ein natürlicher Tod gewesen oder ist Israel daran beteiligt? Verschwörungstheorien kommen in solchen Situationen immer auf. Ich habe keinen verschwörerischen Geist. Zuweilen haben Verschwörungstheorien aber recht. Was ich als persönliches Zeugnis geben kann, ist, dass, als ich ihn vor gerade drei Wochen, bevor er krank wurde, sah, er gesund war - gesünder als ich ihn je in der Vergangenheit gesehen habe. Eine Sache ist sicher: Israel ist verantwortlich dafür, dass er zwei und ein halbes Jahr in zwei bis drei Räumen ohne Luft und Licht verbringen musste. Selbst ein Strafgefangener, der zum Tode verurteilt ist, hat das Recht für einen täglichen einstündigen Spaziergang im Gefängnishof. Arafat dagegen verließ die Muqata jahrelang nicht. Dafür ist Israel verantwortlich. Israel ist dafür verantwortlich, einem 75jährigen lange Zeit den Spaziergang zu verbieten. Wollte Sharon ihn töten? Zweifellos. Haben Sie einen Verdacht? Wenn jemand einen plötzlichen, unerklärlichen Kollaps unter diesen Umständen hat, hat man automatisch einen Verdacht. Aber ich habe keinerlei Beweis. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Arafat davon überzeugt war, dass Sharon ihn töten wollte. Er sprach viel davon. Also hat schließlich General Sharon General Arafat vernichtet. Nein, das denke ich nicht. Der tote Arafat wird den lebenden Sharon zerstören. Was verstehen Sie darunter? Zwei Dinge: Wenn Sharon in zwanzig Jahren wieder mit seinen Vorfahren vereinigt sein wird, wird sich keiner mehr an ihn erinnern. Im Gegenteil - an Arafat wird man sich noch nach weiteren hundert oder fünfhundert Jahren erinnern. Vielleicht auch nach 1000 Jahren. Jeder Araber erinnert sich an Salah a-Din auch noch 800 Jahre nach seinem Tod. Man wird sich auch an Arafat erinnern. Aber da ist noch etwas anderes, Aktuelleres. Das von Arafat hinterlassene Erbe wird das palästinensische Volk daran hindern, vor Sharons Plan zu kapitulieren. Es geschieht genau durch seinen Tod, dass Arafat die Grenzen der palästinensischen Konzessionen festlegt. Jetzt wird kein palästinensischer Führer es wagen, diese Grenze zu überschreiten. Der tote Arafat wird keine Konzessionen erlauben, die der lebende vielleicht gemacht haben hätte. Hat Arafat wirklich Konzessionen gemacht? Hat er wirklich die Zweistaaten-Idee mit allen ihren Folgen verinnerlicht? Arafat machte zwei historische Konzessionen: er erkannte Israel an, und er erkannte die Grüne Linie an. Indem er dies tat, akzeptierte er unsere Präsenz hier als legitim und gab 78 % des Territoriums auf, das vor 1948 Palästina umfasste. Das sind ungeheure Konzessionen. Jede weitere Konzession ist praktisch unmöglich. Trotzdem machte Arafat in Camp David drei weitere Konzessionen. Er war mit einem begrenzten Landaustausch einverstanden. Er war mit den neuen jüdischen Vororten in Ost-Jerusalem einverstanden und mit der israelischen Kontrolle über die Klagemauer. Aber diese Konzessionen wurden mündlich und nicht schriftlich gemacht, und darum werden es seine Nachfolger sehr schwer haben, sie zu erfüllen. In anderen Worten: wir gehen zur Situation bis zum letzten Quadratmeter, bis zur Grünen Linie zurück? Ich denke so. So geschah es mit Sadat und auch mit Hafez Assad. Sehen Sie einen arabischen Führer, der in der Lage ist, etwas anzuerkennen, was Arafat nicht explizit anerkannt hat? Zweifellos wird jetzt ein Kompromiss über den Tempelberg nicht möglich sein. Wenn dem so ist, was können wir dann erwarten? Werden Abu Mazen und Abu Ala in der Lage sein, die Situation zu stabilisieren? Werden sie in der Lage sein, irgendein Abkommen mit Israel zu erreichen? Ich habe Abu Mazen seit 20 Jahren gekannt und Abu Ala seit 15. Sie sind beide gute Leute, ehrlich und anständig. Aber wenn man als junger Palästinenser aus Jenin, mit einer Waffe in der Hand, ihre Namen hört, wird er fragen: Was sind das für Kerle? Die wollen mir sagen, was ich tun soll? Ihre Autorität wird also ziemlich schwach sein. Es ist möglich, dass sie zunächst Unterstützung erhalten, weil das palästinensische Volk keinen Bürgerkrieg wünscht. Das Trauma von 1930 ist noch tief in ihrem Gedächtnis. Aber diese Ruhe wird notwendigerweise vorübergehend sein. Sie wird in dem Augenblick verschwinden, wenn die Führung bestimmte Entscheidungen trifft. Das ist das wirkliche Problem von Abu Mazen und Abu Ala: sie werden keine Entscheidungen treffen können. Die fundamentalistische WogeSie sagen also, dass Arafats Tod verantwortlich dafür ist, wenn sich die Tore zur Hölle öffnen? Zwei oder drei gute Leute, die irgendwie sich an Händen halten und eine Menschenkette bilden, um diese Entwicklung zu verhindern, sind keine Lösung. Ich sehe zwei Lösungen voraus. Die eine, die mich sehr erschreckt, ist eine fundamentale Welle in der arabischen Welt, die über das palästinensische Volk schwappt. Das ist eine sehr ernst zu nehmende Sache. Aber der Zeitplan für diese Entwicklung liegt völlig in der Luft. Die Islamische Revolution kann auch erst in 20 Jahren ausbrechen - oder morgen früh. Sie mag in Saudi-Arabien oder Ägypten oder auch in Gaza und Ramallah ausbrechen. Das weiß keiner. Da gibt es aber noch eine andere Möglichkeit, die unmittelbarer ist. Schon heute erzählt uns der Shin Beth (Sicherheitsdienst), dass es Hunderte von Palästinensern gibt, die bereit sind, an jedem beliebigen Tag Selbstmordattentäter zu werden. Das war der Fall, solange Arafat noch mit seinem zügelnden Einfluss hier war. Aber ohne Arafat wird es nicht fünf oder sechs militante Organisationen sondern 50 oder 60, oder gar 500 oder 600 geben. Und keiner wird mehr in der Lage sein, sie zu kontrollieren. Da wird es keine einschränkende Autorität geben, die sie am die Kandare nimmt. Eine chaotische Situation dieser Art wird zunächst für die Palästinenser schrecklich sein. Aber es wird auch das Leben der Israelis zur Hölle machen. Ignorieren Sie völlig die Tatsache, dass dieser Mann ein Terrorist war? Ich war auch ein Terrorist. Falls mir mein Kommandeur der Irgun-Organisation - als ich 16 war - einen Gürtel mit Sprengstoff gegeben hätte, hätte ich ihn genommen und mich ohne Problem mitten unter Zivilisten in die Luft gesprengt. Deshalb habe ich Verständnis für diese Art von Terrorismus. Ich weiß, was Gewalt bedeutet. Und ich weiß, dass ein Volk, dem keine politische Lösung angeboten wird, auf Gewalt ausweicht. Deshalb war es für mich immer klar, dass Arafat alle Mittel anwenden würde, um die Wünsche der Palästinenser zu erfüllen. Er war keine gewalttätige Person. Ich denke, er war kein gewalttätiger Mensch. Er war ein Mensch, der Gewaltlosigkeit bevorzugte. Aber es war mir auch immer klar, dass er als nationaler Führer Gewalt anwenden würde, wenn die Straße des Friedens für ihn blockiert ist. Ich finde das selbstverständlich. Glauben Sie nicht, dass es in Arafats Kampf etwas besonders Gewalttätiges gab? Gab es nicht etwas Pathologisches in der Weise, wie die palästinensische Nationalbewegung Gewalt anwendete und Frauen und Kinder töteten? Die einzige Pathologie ist diese Behauptung. Die Algerier z.B. töteten nur Zivilisten. Eine halbe Million Menschen wurde im Krieg für Algerien getötet. Unmittelbar nach der Befreiung wurden 200.000 Leute als Kollaborateure hingerichtet. Eine Million französischer Bürger wurden innerhalb von Tagen vertrieben. Im Vergleich zur FLN ist der Kampf der PLO steril. Die Mau-Mau in Kenia gingen von Farm zu Farm und massakrierten die Familien der Weißen. Von Malaysia ganz zu schweigen. Und die Kurden. Und die Iren. Da ist nichts Außergewöhnliches in der palästinensischen Kampfmethode. Und wie ist es mit den Selbstmordattentätern? Sprach Arafat nicht von einer Million Märtyrer - Märtyrern, die bereit sind, nach Jerusalem zu marschieren? Ich beurteile dieses Phänomen realistisch. Ich stelle mir zwei Fragen. Gab es einen anderen Weg? Hätte Arafat dies verhindern können? Meine Antwort auf beide Fragen ist negativ. Und die Tragödie von Camp David? Ist nicht Arafat dafür verantwortlich, dass der Friedensprozess völlig zusammenbrach? Es ist Ehud Barak, der dafür verantwortlich ist. Barak ist der Riesenidiot des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Er ist auch der Hauptkriminelle. Ein normaler Staatsmann, ein Staatsmann der kein Psychopath ist, würde nach dem Fehlschlag der Konferenz nicht sagen, dass es keinen Partner gibt. Er trägt die Hauptverantwortung für den schrecklichen Verlust an Menschenleben der vergangenen Jahre. Er ist schlimmer als Sharon. Sie sind im allgemeinen eine sehr kritische Person. Doch wenn man auf Arafat zu sprechen kommt, haben sie gar keine Kritik. Haben Sie nie irgendwelche Zweifel an ihm? Hatten Sie nie den Verdacht, dass er Sie gebraucht? Natürlich gebrauchte er mich. Dessen war ich mir völlig bewusst. In verschiedenen Situationen passte es ihm, neben sich einen Israeli wie mich an seiner Seite zu haben. Aber dies war ja der Grund, warum wir uns trafen. So konnten wir einander für die gemeinsame Sache, an die wir beide glaubten, gebrauchen. Liebten Sie ihn? Ich denke, dass Liebe nicht das richtige Wort ist . Aber es gab eine tiefe Verbindung zwischen uns. Bewunderten Sie ihn? Ich hatte hohe Achtung vor ihm als Mensch. Ich liebe Patrioten. Ich hasse Verräter. Und die Tatsache, dass Arafat ein großer palästinensischer Patriot war, hat meine Haltung ihm gegenüber bestimmt. Wir sprachen niemals darüber. Aber unserer Beziehung lag die Tatsache zugrunde, dass wir beide wussten, was es heißt, in einem nationalen Kampf zu töten. Wir haben es beide getan. Er gab Befehle, die den Tod von Israelis verursachten, und ich war ein israelischer Soldat, der Araber tötete. Aber irgendwie trafen wir uns in der Mitte beider Armeen. Wie jene Soldaten des 1. Weltkrieges, die am Weihnachtstag aus ihren Schützengräben krochen und gemeinsam feierten, dann zurückgingen und einander töteten. Gibt es eine Verbindung zwischen der Tatsache, dass Sie 1948 aktiv an der Vertreibung der Araber und der Zerstörung arabischer Dörfer teilnahmen und Ihrem späteren Wunsch, mit Arafat Kontakt aufzunehmen? Ganz sicher. Ich bin mir dessen sehr bewusst, dass der Staat Israel, den ich mit zu errichten half, auf einer schrecklichen historischen Ungerechtigkeit aufgebaut ist. Ich weiß auch, was ich im Krieg tat - ich leugne es nicht. Und wenn ich einen Palästinenser treffe, frage ich ihn immer, aus welchem Dorf er kommt. Das ist eine zwanghafte Frage für mich. Und die Antwort, die ich erhalte, erwähnt oft den Namen eines Dorfes, an dessen Eroberung ich teilgenommen habe. Und ich erinnere mich noch daran, wie es unmittelbar nach der Eroberung ausgesehen hat, als das Feuer im Herd noch brannte und das Essen auf dem Tisch noch warm war. Yasser Arafat ist damit verbunden, weil er Pathos hat. Er verkörperte das Pathos der palästinensischen Situation. Ich verstand dieses Pathos. Weil ich genau so wenig wie Arafat kein wirklich privates Leben habe. Ich habe kein Leben außerhalb des politischen Lebens. Und ich sehe das Pathos des Konfliktes. Ich sehe, wie die beiden Nationen sich gegenseitig an die Kehle gehen, unfähig und nicht willens sind, den festen Griff los zu lassen. Und ich möchte diese tödliche Umarmung lösen. Glauben Sie wirklich, dass Arafat ein Partner gewesen wäre? Glauben Sie wirklich, dass er die Person gewesen wäre, um den Konflikt zu beenden? Es wäre möglich gewesen, mit Arafat Probleme zu lösen. Glauben Sie mir, man hätte Vertragsabschlüsse mit ihm machen können. Ich wusste wie. Ich kannte die Bedingungen. Ich bin absolut davon überzeugt, dass eine Person wie ich mit ihm einen Monat hätte zusammensitzen können. Es wäre ein Friedensvertrag dabei herausgekommen. Deshalb habe ich jetzt das schreckliche Gefühl, eine nationale Gelegenheit versäumt zu haben. Ich war mir sicher, dass er noch 10 Jahre lebt. Und die letzten vier Jahre saß er hier, und wir ließen die Zeit verstreichen. Wir haben eine Gelegenheit verpasst, die nie wieder kommen wird. Es ist ein schrecklicher Verlust. Ruhe in FriedenWenn sie die Gelegenheit hätten, mit ihm in Paris ein Abschiedsgespräch zu führen, was würden Sie ihm sagen? Ich würde ein paar Dinge sagen. Ich würde ihm sagen: Sie sind ein großer Führer. Sie taten etwas für Ihr Volk, das niemand anderes hatte tun können. Und ich würde ihm sagen: Ruhe in Frieden. Wenn er noch mal für einen Augenblick aufwachen würde und ich ihm sagen könnte, dass dank seiner Mühe das palästinensische Volk das Land des Friedens und der Ruhe erreichen wird - das würde ihm das Sterben erleichtern. Gibt es ein Gefühl des “Lebewohl, mein Freund”? Ja, absolut. Er ist ein Gefühlsmensch, wie Sie wissen. Als er in den Hubschrauber gebracht wurde, warf er viele Handküsse in die Menge. Meine Frau Rachel mochte das gar nicht. Sie dachte, das sei lächerlich. Aber ich denke da anders. Weil er wusste, dass er niemals mehr zurückkehren würde, dass dies sein Ende sei. Und die Handküsse, die er in die Menge warf, waren sein symbolischer Abschiedsgruß. Die Menschen, die dabei waren, hatten Tränen in den Augen. Gab es auch bei Ihnen Tränen? Ich weine nicht. Ich weinte nicht, als mein Vater starb. Ich weinte nicht, als meine Mutter starb. Aber wenn ich weinen könnte, dann würde ich weinen. Sie sind gewöhnlich eine distanzierte Person, aber in den letzten Tagen hat Sie doch plötzlich der Kummer gepackt, ist es nicht so? Zweifellos. Wir taten so viel gemeinsam. Es war eine emotionale Verbindung geknüpft worden, die man nicht beschreiben kann. Gestern zitierte ich auf einmal, was Hamlet über seinen Vater sagte: “Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem. Ich werde nimmer seines gleichen sehen.” Und wie ist das Gefühl jetzt? Sie vermissen ihn? Als Issam Sartawi - ein Berater Arafats, der in den 70ern mit Israelis sprach - ermordet wurde, sagte der österreichische Kanzler Bruno Kreisky zu mir: “Es ist sehr tragisch, wenn ein Freund stirbt, weil man in meinem Alter keine neuen Freundschaften schließt.” Und nun ist ein Freund tot. Aber außerdem weiß ich, dass es keinen wie ihn gibt. Es wird keinen anderen geben, mit dem ich diese Beziehung hatte. Wir werden weitermachen. Wir werden mit der neuen palästinensischen Führung zusammenarbeiten. Aber es wird nicht dasselbe sein. Die Welt ohne Arafat ist nicht dieselbe. Nicht für Israel und nicht für mich. Quelle: Haaretz vom 14.11.2004. Übersetzung: Ellen Rohlfs. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|