Leben mit Vision - Revolutionäre, Visionäre, TräumerVon John Dear
Eines der Opfer unserer Kultur ist der Verlust unserer Vorstellungskraft. Wir können uns keine Welt mehr ohne Krieg oder Atomwaffen oder Gewalt oder Armut vorstellen. Nur noch wenige träumen von einer gewaltlosen Welt. Wenn wir es dennoch tun, werden wir als naiv oder idealistisch verschrien werden. Doch ohne diese Visionen vom Frieden werden wir niemals aus dem Kreislauf der Gewalt entkommen, der uns zerstören will. Anfang der 1980er Jahre saß im Keller einer Kirche in Ostdeutschland eine kleine Gruppe zusammen, um ein paar herausfordernde Fragen zu stellen: “Wie wird Deutschland in tausend Jahren aussehen, wenn die Mauer endlich gefallen sein wird?” Dass die Mauer noch zu ihren Lebzeiten fallen könnte, war absolut unvorstellbar. Der Kommunismus war eine Realität. Die Sowjetunion hatte das Land fest im Griff. Hoffnungslos war die Zukunft der Menschheit dem selbstmörderischen Konkurrenzkampf der beiden Atomsupermächte ausgeliefert. Und doch wagten sie es, diese Frage zu stellen: Wie würde eine Welt ohne die Mauer aussehen? Und was müssen wir tun, um diesen großen Tag Wirklichkeit werden zu lassen - auch wenn es tausend Jahre dauern sollte? Ich bin überzeugt davon, dass es tatsächlich den Gang der Geschichte beeinflussen kann, wenn wir solche Fragen aufwerfen, unseren Vorstellungen freien Lauf lassen und es wagen, von einer neuen Welt zu träumen. So wurde damals auch diese kleine Gruppe aufgerüttelt, als sie über ihre Träume sprachen, und sie beschlossen, sich in ein paar Wochen wieder zu treffen. Andere erfuhren davon und begannen, sich in ihren Kirchen zu treffen, um von einer neuen Welt ohne Mauer zu träumen. Eine Bewegung entstand und zog immer größere Kreise. Menschen auf beiden Seiten der Mauer ließen sich hinein nehmen in die Vision von Einheit und Versöhnung. Sie trafen sich, organisierten Treffen, beteten und erzählten weiter, was hier geschah. Dann - völlig unerwartet - hörte man von Michael Gorbatschows neuer Politik der “Perestroika”, der Neugestaltung des politischen Systems. Die polnische Solidaritätsbewegung trieb die Sowjets aus ihrem Land, und eine neue Demokratie wurde geboren. Die Ereignisse überstürzten sich. Der Kommunismus brach zusammen und die Sowjetunion fiel auseinander. Der Gott des Friedens ist an der Arbeit; sein Plan ist eine Welt ohne Waffen. Aber Gott braucht unsere Hilfe. Gott braucht jeden einzelnen von uns, um teilzunehmen an dem Kampf um Frieden und Gerechtigkeit. Gott braucht uns für die gewaltlose Revolution, um eine Welt ohne Waffen zu schaffen. Durch eine Handvoll glaubender Träumer kam Bewegung in die Dinge, und im Herbst 1989 gingen Zehntausende in Ostdeutschland auf die Straße und forderten den Fall der Mauer. Täglich wurden es mehr. Bald marschierten Hunderttausende. Und plötzlich geschah das Wunder: am 9. November 1989 fiel die Mauer. Die Welt wurde total überrascht. Aber dieses Wunder hätte niemals auf gewaltlose Weise geschehen können, wenn nicht ein paar Menschen davon geträumt, sich jahrelang immer wieder getroffen, diskutiert und organisiert hätten. Ihr Festhalten, ihr Suchen und ihr Leben mit Vision erinnert mich an die Menschen, die sich eine Welt ohne Sklaverei erträumten. Ihre Vision und Entschiedenheit ebnete den Weg für die Abschaffung der Sklaverei. Wir können noch viel lernen von diesen Visionären. Wie sie, müssen auch wir unsere Fantasie anstrengen. Wir müssen wieder von neuen Möglichkeiten träumen. Wir müssen uns dazu aufraffen, uns eine neue Welt vorzustellen, egal was andere Leute von uns denken. In unserer Welt der Kriege und der Atomwaffen bedeutet das, uns eine gewaltfreie, waffenlose Welt vorzustellen und darauf zu vertrauen, dass diese Vision einmal Wirklichkeit wird. Wenn wir den Segen des Friedens entdecken wollen, müssen wir den Krieg abschaffen und uns einer neuen friedlichen Welt widmen. Jeder Mensch muss an dieser Campagne für den Frieden teilnehmen, wenn wir der globalen Katastrophe entkommen wollen. Wir müssen die Kultur des Teilens wieder entdecken und nach den höheren Werten der Liebe und Gerechtigkeit streben. Wir müssen Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erziehung, medizinische Versorgung und ein menschenwürdiges Dasein für alle Kinder fordern. Wir müssen unser Leben hingeben für die Zukunft des Friedens. Gewalt macht blindWenn wir eine solche Welt ins Auge fassen, müssen wir erkennen, dass wir blind sind, dass wir nicht mehr klar sehen können. Wir können uns den Weg zum Frieden nicht mehr vorstellen. Wenn wir uns eine neue Welt ohne Krieg vorstellen wollen, müssen wir unsere Sichtweise ändern. Wir müssen uns in Kirchenkellern und in kleinen Gruppen treffen, um diese kühne, provozierende Frage zu stellen: “Wie würde eine Welt ohne Kriege aussehen?” Wenn wir diese Frage stellen, werden wir anfangen, uns eine solche Welt vorzustellen. Dann können wir darüber reden und uns auf den Weg machen, um eine solche Welt Wirklichkeit werden zu lassen. Um unsere Vorstellungskraft zu schulen, müssen wir einander lehren, dass Krieg kein unvermeidliches Schicksal ist, dass wir nicht dazu vorherbestimmt sind, einen Atomkrieg zu erleben, dass Frieden für alle Menschen möglich werden kann. Wenn wir uns diesen Frieden erst einmal vorstellen können, dann werden wir dafür beten und dafür arbeiten unsere Kultur umzuwandeln - Leben mit Vision statt Blindheit, Vorstellungskraft statt Interesselosigkeit, Frieden statt Krieg. Da unsere blinden Führer uns an den Rand des Abgrunds führen, müssen wir dem Rad in die Speichen fallen und einander wegführen vom Abgrund. Von den Kriegstreibern und ihren Medien können wir keine Visionen erwarten. Nur Friedensleute können sich den Weg in eine Welt des Friedens vorstellen. Um Friedensleute zu werden, müssen wir über Gewaltlosigkeit nachdenken. Gott muss unsere Herzen gewaltlos machen und uns den Weg zum Frieden zeigen. So können wir prophetische Menschen werden, die nicht nur die weltweite Gewalt als gottlos, unmoralisch und böse bezeichnen, sondern die Gottes Weg der Gewaltlosigkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens verkünden. Die Vision der GewaltlosigkeitIn seiner berühmtesten Rede sprach Martin Luther King einst von seinem Traum einer neuen Welt der Gerechtigkeit und des Friedens. Fünf Jahre später, in der Nacht, bevor er ermordet wurde, sagte er, dass er auf einem hohen Berg stünde und das gelobte Land sehen könne. “Seit Jahren reden wir über Krieg und Frieden,” sagte er, “aber jetzt müssen wir aufhören, nur davon zu reden. Es geht nicht mehr um Gewalt oder Gewaltlosigkeit. Es geht um Leben oder Tod.” Mit seinen letzten Worten zeigte der große Visionär den Weg, wie aus einem Traum Wirklichkeit werden kann. Gewaltlosigkeit stellen wir uns als eine waffenlose, versöhnte Menschheit vor, in welcher Gott die Herrschaft übernommen hat. King nannte es “das gelobte Land”, in dem alles Leben geheiligt ist, in dem alle Menschen Brüder und Schwestern sind, alle Kinder des einen Friedensgottes, versöhnt und eins miteinander. Wenn wir uns diese Vision zu Herzen nehmen, können wir niemals mehr einen anderen Menschen verletzen oder töten; nie mehr können wir schweigen, wenn unser Land einen Krieg beginnt, Atomwaffen unterhält, Menschen hinrichtet oder Millionen verhungern lässt. Gewaltlosigkeit ist eine Macht, sagte Gandhi. Gewaltlosigkeit wirkt ansteckend, kann Nationen entwaffnen und die Welt verändern. Sie beginnt in unseren Herzen, indem wir der Gewalt, die in uns selbst steckt, absagen. Dann wirkt sie nach außen, reißt andere mit, wird zu Liebe in unseren Familien, Gemeinden, Nationen und schließlich in der ganzen Welt. Wenn wir selbst im Angesicht von Gewalt Gewaltlosigkeit üben, werden wir zu Vorkämpfern für Gerechtigkeit und Frieden auf nationaler und internationaler Ebene und schließlich für die Entwaffnung der ganzen Welt. Wo Gewaltlosigkeit praktiziert wird, hat es immer Folgen, wie Gandhi es in der Indischen Revolution und Martin Luther King im Civil Rights Movement zeigten und wie es die Volksbewegung auf den Philippinen und Erzbischof Tutus Kampf gegen die Apartheid in Südafrika gezeigt haben. Am 6. August 2005 erleben wir den 60. Jahrestag des Atomangriffs auf Hiroshima, dem 130.000 Menschen zum Opfer fielen. Meine Freunde und ich versuchen, uns eine Welt vorzustellen, wo eine derart schreckliche Gewalttat niemals mehr geschehen kann. Wir arbeiten zusammen mit der weltweiten Friedensbewegung, um unseren Stimmen Gehör zu verschaffen, damit eine solche Welt Realität werden kann. Diese Friedensvision würde bedeuten, dass wir den Geburtsort der Atombombe Los Alamos in Neu Mexiko/USA schließen und Neu Mexiko und das ganze Land umwandeln aus einem Land der atomaren Gewalt in ein Land der Gewaltlosigkeit. Ich hoffe und bete, dass wir alle uns dieser Friedensvision anschließen und den kommenden Jahrestag dazu benutzen, um wieder einmal dazu aufrufen, die Waffen abzuschaffen. Kurz bevor er starb, wurde John Lennon gefragt, warum er dem Friedensgedanken so viel Zeit und Energie widmete. “Ist das keine Zeitverschwendung?” fragte ihn der Reporter. Lennon antwortete, er sei davon überzeugt, dass Leonardo da Vincis Traum vom Fliegen nur deshalb Wirklichkeit werden konnte, weil er darüber nachgedacht hatte, Zeichnungen anfertigte, darüber diskutierte und die Menschen mit dem Gedanken vertraut machte. “Was ein Mensch plant, kann irgendwann einmal Wirklichkeit werden”, sagte John Lennon. “Und deshalb will ich den Frieden planen. Durch meine Lieder, durch Gespräche und durch Taten will ich die Menschen dazu bringen, dass sie sich vorstellen können, was Frieden wirklich bedeutet. Und ich weiß, dass - so gewiss, wie ich hier stehe - der Friede einmal möglich sein wird.” Wenn wir es wagen, uns eine neue Welt ohne Kriege vorzustellen und den Frieden für möglich zu halten, wie John Lennon glaubte, werden wir die Gewissen der Menschen neu wecken und den Weg zu einer neuen gewaltlosen Welt ebnen. Unsere Mission, unsere Pflicht, unsere Berufung ist es, die Vision vom Frieden wieder zu beleben und für die Abschaffung von Krieg, Gewalt und Atomwaffen zu wirken. Wir müssen nur unsere Augen öffnen und konkrete Schritte tun auf dem Weg zum Frieden. John Dear ist ein jesuitischer Priester und Autor vieler Bücher, u.a. “Jesus der Rebell”, “Mohandas Gandhi”, “Der Gott des Friedens” und “Die Fragen Jesu.” Quelle: Bruderhof Gemeinschaft . © 2004 Bruderhof Communities. Used with permission. 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