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Der andere Tsunami - der menschgemachte

Von John Pilger - ZNet Kommentar 07.01.2005

Die Kreuzzügler des Westens - USA und Großbritannien - helfen den Tsunami-Opfern mit einer Summe, mit der man keinen Stealth-Bomber bzw. keine einzige Woche blutiger Besatzung im Irak finanzieren könnte. Die Summe, die George Bushs Amtseinführungsparty kosten wird, würde weitgehend ausreichen, die Küste Sri Lankas instand zu setzen. Erst als offensichtlich war, dass Menschen weltweit spontan Millionen spenden würden, stockten Bush und Blair ihre anfangs tröpfelnde “Hilfe” auf - ein Public-Relations-Problem dräute. Der “großzügige” Beitrag der Regierung Blair ist nur ein Sechzehntel jener 800 Millionen Pfund, die die Bombardierung des Irak (vor Beginn der Invasion) kostete und kaum ein Zwanzigstel jenes Milliardengeschenks an das indonesische Militär (bekannt als “sanfter Kredit”) zum Erwerb von ‘Hawk’-Kampfbombern.

Am 24. November - nur einen Monat vor dem Tsunami - hatte die Blair-Regierung eine Rüstungsmesse in Jakarta unterstützt, “um den (indonesischen) Streitkräften die dringend benötigte Möglichkeit zur Eruierung ihrer Verteidigungskapazitäten zu geben”, so die Jakarta Post. Das indonesische Militär war für den Genozid in Osttimor verantwortlich. Das indonesische Militär tötete in Aceh mehr als 20.000 Zivilisten und “Aufständische”. Einer der Ausstellungsteilnehmer war Rolls Royce - jene Firma, die die Hawk-Motoren herstellt. Die Hawk-Kampfflugzeuge - im Verein mit ‘Scorpion’-Panzerfahrzeugen, Maschinengewehren und Munition aus Großbritannien - terrorisierten und töteten Menschen in Aceh noch bis zu dem Tag, an dem der Tsunami die Provinz in Trümmer legte.

Die australische Regierung, die sich jetzt ihrer bescheidenen Reaktion auf die historische Katastrophe, die die asiatischen Nachbarn heimsuchte, rühmt, hat im geheimen die indonesischen Kopassus-Spezialkräfte trainiert. Die Gräuel dieser Einheit in Aceh sind bestens dokumentiert. Seit 40 Jahren unterstützt Australien die Unterdrückung in Indonesien und war insbesondere Diktator Suharto, dessen Truppen 1/3 der Bevölkerung Osttimors töteten, sehr gewogen. Die (heutige) australische Regierung unter John Howard - berüchtigt, weil sie asylsuchende Kinder einsperren lässt - , verstößt gegen internationales Seerecht, indem sie Osttimor Öl- und Gaslizensen im Wert von rund 8 Milliarden Dollar vorenthält. Ohne diese Einnahmequelle jedoch kann Osttimor, das ärmste Land der Welt, weder Schulen noch Krankenhäuser noch Straßen bauen und keine Arbeitsplätze für seine jungen Leute schaffen, von denen 90 Prozent ohne Arbeit sind.

Bei den Herrschern der Welt und ihren Handlangern steht Heuchelei, Narzissmus und Ablenkungspropaganda obenan. Beim Thema ‘humanitäre Ziele’ greift man zu Begriffen der Superlative. Gleichzeitig dominiert in den Nachrichten die Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Opfern. Wer Opfer einer gewaltigen Naturkatastrophe wird, gehört zu den würdigen Opfern (fraglich, für wie lange allerdings), die Opfer eines von Menschen gemachten Imperial-Desasters gelten als unwürdig; häufig dürfen sie nicht einmal erwähnt werden. Aus irgendeinem Grund können sich Journalisten nicht überwinden zu berichten, was in Aceh - mit Unterstützung “unserer” Regierung vor sich geht.

Der einseitige moralische Spiegel erlaubt es uns, die Schneise der Verwüstung und des Schreckens, die der ‘andere Tsunami’ schlug, zu ignorieren. Man denke nur an das Elend in Afghanistan - wo sauberes Wasser unbekannt und der Tod im Kindbett normal ist. Beim Labour- Parteitag 2001 kündigte Blair seinen berühmten Kreuzzug zur “Neuordnung der Welt” mit der Beteuerung an: “An das afghanische Volk - wir verpflichten uns, wir werden nicht weggehen… wir werden mit Ihnen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass (ein Weg) aus der Armut, Ihrer misslichen Existenz, (gefunden wird).” Kurz davor hatte die Blair-Regierung an der Eroberung Afghanistans teilgenommen. Dabei starben sage und schreibe 20.000 Zivilisten.

Noch nie seit Menschengedenken - bei all den großen humanitären Krisen - wurde ein Land derart geschunden bzw. wurde einem Land sowenig Hilfe gewährt wie Afghanistan. Lediglich 3 Prozent der internationalen Hilfen für das Land flossen in den Wiederaufbau. 84 Prozent gingen an die militärische “Koalition” unter Führung der USA. Die restlichen Krumen flossen in die Notfallhilfe. Häufig wird als Wiederaufbauhilfe deklariert, was eigentlich private Investition ist - wie jene 35 Millionen zur Finanzierung eines geplanten Fünf-Sterne-Hotels, vorwiegend für Ausländer. Ein Berater des Ministers für ländliche Angelegenheiten in Kabul sagte mir, seine Regierung habe bislang weniger als 20 Prozent der dem Lande versprochenen Hilfsgelder erhalten. “Wir haben nicht einmal genug Geld, um die Löhne auszuzahlen, geschweige denn den Wiederaufbau zu planen”, so der Berater. Der Grund hierfür liegt in der - selbstverständlich verschwiegenen - Tatsache, dass die Afghanen die unwürdigsten aller Opfer sind. Als amerikanische Helikopter-Kampfflugzeuge ein abgelegenes afghanisches Bauerndorf wiederholt mit Maschinengewehrfeuer angriffen - 93 Zivilpersonen starben - fühlte sich ein Pentagon-Offizieller zu der Aussage bemüßigt: “Die Leute dort sind tot, weil wir wollten, dass sie tot sind”.

Der ‘andere Tsunami’ - dass er existiert, wurde mir 1979 bewusst. Damals berichtete ich aus Kambodscha. Nach 10 Jahren amerikanischen Bombardements und der Pol-Pot-Barbarei war Kambodscha in einem vergleichbar desolaten Zustand wie heute Aceh. Krankheiten führten zu Hungersnöten; die Menschen litten unter einem kollektiven Trauma, das nur wenige ausdrücken konnten. Nachdem das Regime der Roten Khmer kollabiert war, vergingen 9 Monate, ohne dass westliche Regierungen effektive Hilfe schickten. Stattdessen unterstützten der Westen und China ein UN-Embargo gegen Kambodscha. Dieses Embargo kam praktisch der Verweigerung der gesamten Hilfsmaschinerie / der Maschinerie des Wiederaufbaus gleich. Das Problem der Kambodschaner: Sie hatten sich von den falschen Leuten befreien lassen. Ihre Befreier, die Vietnamesen, standen im Kalten Krieg auf der falschen Seite. Kurz zuvor hatten sie die Amerikaner aus dem Land gejagt. Somit waren die Kambodschaner unwürdige und verzichtbare Opfer.

Eine ähnliche Belagerung hat man in den 90gern dem Irak aufgezwungen - auch darüber wurde kaum berichtet. Während der “Befreiung” durch Briten und Amerikaner intensivierte sich die Belagerung noch. So berichtet Unicef im September 2004, dass sich die Zahl der unterernährten Kinder im Irak seit der Besatzung verdoppelt habe. Die Kleinkindersterblichkeit im Irak ist mittlerweile so hoch wie in Burundi - und höher als in Haiti oder Uganda. Im Irak herrscht lähmende Armut und chronischer Medikamentenmangel. Krebs ist massiv auf dem Vormarsch - vor allem Brustkrebs. Radioaktive Verseuchung ist ein weitverbreitetes Phänomen. Mehr als 700 Schulen haben Bombenschäden. Von den Milliarden Dollar, die angeblich für den Wiederaufbau des Irak bereitstehen, wurden bislang nur 29 Millionen tatsächlich ausgegeben - das meiste für Söldner, die Ausländer bewachen. Im Westen erfährt man davon kaum etwas in den Nachrichten.

Der ‘andere Tsunami’ - er schlägt weltweit zu. Tag für Tag sterben daran 24.000 Menschen - Menschen, die an Armut, Verschuldung und Spaltung zugrundegehen. Das alles als Produkt eines Hyperkults namens ‘Neoliberalismus’. Mit der Paris-Konferenz 1991, zu der sie die reichsten Staaten luden, gestanden die Vereinten Nationen dies auch ein. Ziel der Konferenz war die Implementierung “eines Aktionsprogramms” zur Rettung der ärmsten Länder der Welt. 10 Jahre später sind praktisch alle Versprechen, die die westlichen Regierungen damals gaben, gebrochen. Das Geschwätz des damaligen britischen Schatzkanzlers Gordon Brown, die G8 “teilen den Traum Großbritanniens” zur Beendigung der Armut, entpuppte sich als genau das, was es war: Geschwätz. Die “Basislinie” der Vereinten Nationen - 0,7 Prozent der Staatseinnahmen in Auslandshilfe zu investieren - selbst diese lausige Mindestforderung wurde von keiner einzigen Regierung eingehalten. Großbritannien gibt 0,34 Prozent und macht damit das ‘Department of International Development’ zum schlechten Witz. Am wenigsten unter den Industrienationen geben die USA: 0,15 Prozent.

Millionen Menschen wissen, ihr Leben wurde für entbehrlich erklärt - wenngleich viele im Westen das nicht sehen bzw. es sich nicht vorstellen können. Wenn unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds (IWF) Zölle aufgehoben und Subventionen für Nahrungsmittel und Benzin gestrichen werden, wissen die Kleinbauern und Landlosen, die Katastrophe naht. Das ist auch der Grund, weshalb Bauernselbstmorde mittlerweile epidemische Ausmaße annehmen.

Laut WTO haben nur die Reichen das Recht, ihre heimischen Industrien, die heimische Landwirtschaft zu schützen. Nur sie seien berechtigt, den Export von Fleisch, Getreide oder Zucker zu subventionieren und diese Produkte künstlich verbilligt in den armen Ländern abzuladen. Dadurch werden Existenzen, wird Leben, vernichtet.

Ein gutes Beispiel ist Indonesien - das Land, das die Weltbank einst als “Musterschüler der globalen Wirtschaft” bezeichnete. Viele Menschen, die am zweiten Weihnachtsfeiertag auf Sumatra in den Tod geschwemmt wurden, waren Enteignete - enteignet durch die Politik des IWF. Die Schulden Indonesiens belaufen sich mittlerweile auf 110 Milliarden Dollar - ein Betrag, der nie rückbezahlt werden kann.

Laut ‘World Resources Institute’ kostet dieser ‘andere Tsunami’ jedes Jahr zwischen 13 und 18 Millionen Kindern das Leben. 12 Millionen dieser Kinder sind unter 5 Jahren, wie aus einem Entwicklungsreport der Vereinten Nationen hervorgeht. Der australische Sozialwissenschaftler Michael McKinley schreibt: “In den formalen Kriegen des 20. Jahrhunderts starben 100 Millionen. Warum sollten sie privilegiert sein gegenüber der jährlichen (Todes-)Rate, die Strukturanpassungsprogramme seit 1982 unter Kindern fordern?”

Das System, das dies verursacht, tritt mit dem Kampfruf “Demokratie” an. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt begreifen, dass dies Hohn ist. Das zunehmende Bewusstsein - ja, klares Bewusstsein - ist mehr als ein Grund zur Hoffnung. Die Kreuzritter in Washington und London verspielten die Weltsympathie für die Opfer des 11. Septembers 2001, um ihre eigene Kampagne der Dominanz schnell voranzutreiben. Die kritische, intelligente Öffentlichkeit ist nun aufgerüttelt und sieht Leute wie Bush und Blair als Lügner, deren schuldhafte Aktionen als Verbrechen.

Dass einfache Leute im Westen den Opfern des Tsunami massenhaft Hilfe leisten, ist die spektakuläre Wiederaneignung von etwas, was den Menschen von ihren Regierungen und der Konzern-Propaganda vorenthalten wird - Moral, Internationalismus und die ‘politics of community’. Die Berichte der Touristen, die aus den betroffenen Ländern heimkehren, quellen über vor Dankbarkeit, angesichts der Großzügigkeit und Offenherzigkeit, mit der sich die Allerärmsten ihrer annahmen und ihnen Schutz gewährten. Diese Aussagen sind die Antithese zu einer “Politik”, für die nur die Habgierigen zählen.

“Der spektakulärste Ausdruck öffentlicher Moral, den die Welt je sah” - so beschrieb die Schriftstellerin Arundhati Roy vor fast 2 Jahren die zornige Antikriegs-Welle, die um die Welt lief. Eine neue französische Studie geht davon aus, dass an jenem Februartag 2003 35 Millionen Menschen demonstrierten. So etwas habe es zuvor noch nie gegeben. Aber das war erst der Anfang - und ich meine das durchaus nicht rhetorisch.

Der Neubeginn der Menschen ist nicht einfach nur ein Phänomen, es ist die Fortsetzung eines Kampfes, der manchmal zwar zu Eis erstarrt scheint, aber als Same unter der Schneedecke lebt. Beispiel Lateinamerika: Lange Zeit war die Region vom Westen für entbehrlich, für unsichtbar, erklärt worden. “Den Lateinamerikanern wurde Impotenz gelehrt”, schrieb Eduardo Galeano einmal. “Die Pädagogik dazu stammt aus der Kolonialzeit, gelehrt durch gewalttätige Soldaten, ängstliche Lehrer und schwächliche Fatalisten, (sie) hat in unseren Seelen den Glauben an die Unantastbarkeit der Realität verankert, alles, was uns zu tun bliebe, sei, den Kummer, den jeder Tag mit sich bringt, still zu schlucken”.

Heute feiert Galeano in seiner Heimat Uruguay die Wiedergeburt echter Demokratie. Die Menschen Uruguays haben “gegen die Angst” angewählt, gegen die Privatisierung und die damit verbundene Unmoral. In Venezuela fanden im Oktober Wahlen statt - auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene. Sie brachten der einzigen Regierung der Welt, die den Ölreichtum des Landes mit ihren ärmsten Bürgern teilt, den neunten demokratischen Sieg. Und in Chile wird endlich auch der Letzte jener Militärfaschisten, die damals von westlichen Regierungen, vor allem Frau Thatcher, unterstützt wurden, durch die wiedererstarkten Kräfte der Demokratie strafrechtlich verfolgt.

Diese Kräfte sind Teil einer Bewegung gegen Ungleichheit, Armut und Krieg - einer Bewegung, die sich in den vergangenen sechs Jahren herausbildete. Sie ist vielschichtiger, aktiver, internationaler und toleranter (was Unterschiede betrifft) als alles, was ich in meinem Leben sah. Es ist eine Bewegung unbelastet vom westlichen Liberalismus - der glaubt, der Vertreter einer überlegenen Lebensform zu sein. Die Allerweisesten wissen, in Wirklichkeit handelt es sich um Kolonialismus - unter anderem Namen. Und diese Weisen wissen auch: So wie die Eroberung des Irak allmählich offenbar wird, könnte sich auch das ganze Herrschafts-Verarmungs-System offenbaren.

Quelle: ZNet Deutschland vom 09.01.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “The Other, Man-made Tsunami”

Veröffentlicht am

11. Januar 2005

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