Wahlen im Irak: Triumph und TragödieNiedrige sunnitische Wahlquote überschattet Triumph der hohen WahlbeteiligungVon Robert Fisk - The Star / ZNet 01.02.2005 Selbst als in Bagdad die Explosionen donnern, strömen sie zu Hunderten, dann zu Tausenden - ganze Familien, auf ihre Söhne gestützte behinderte alte Männer, die Kinder gehen an der Seite, Mütter mit ihren Babies auf dem Arm. Still gingen die schiitischen Muslime Bagdads gestern zur Wahlurne - beispielsweise in der Märtyrer-Mohamed-Bakr-Hakim-Schule in Jadriya. Schweigend wanderten sie durch autoleere Straßen. Als ein Regen aus Mörsergranaten auf das Gelände der amerikanischen und britischen Botschaft niedergeht, verändert sich der Luftdruck um sie her. In drei Kilometer Entfernung tötet sich der erste Selbstmordattentäter des Tages mit seinen Opfern - überwiegend Schiiten. Auch die Kurden strömten zu Zehntausenden an die Wahlurnen. Die Sunniten allerdings - 20% der irakischen Bevölkerung - boykottierten die Wahl oder waren zu eingeschüchtert, um zu den Wahllokalen zu gehen. Dabei war der Sunniten-Aufstand der Hauptgrund für diese Wahlen. Die Wahlbeteiligung - sie wird auf rund 72% der 15 Millionen registrierten Wähler im Irak geschätzt -, ist Symbol des Siegs und der Tragödie zugleich. Während die immens mutigen Schiiten millionenfach an die Wahlurne strömten, blieb die sunnitische Stimme stumm. Die gewählte Nationalversammlung besitzt somit nur Semilegitimität. Dabei soll die Existenz dieser Nationalversammlung den USA eine politische Rechtfertigung liefern, um sich aus ihrem ‘kleinen Vietnam’ im Mittleren Osten wieder herauszuwinden. Natürlich kam es zu der erwarteten Gewalt. In Bagdad gab es neun Selbstmordanschläge. Neun Selbstmordbomber - soviele Menschen hatten sich im ganzen Nahen/Mittleren Osten noch nie an einem einzigen Tag getötet. Unter den ersten Opfern ein amerikanischer Söldner und ein amerikanischer Soldat. Sie starben bei Mörsergranatexplosionen auf jene Verwaltungsgebäude, die die Amerikaner sich in Zentral-Bagdad eingerichtet hatten. Anschließend wurden mehr als 20 Wähler niedergemäht. Vor Sonnenuntergang dann die Nachricht: Ein C-130-Hercules-Transportflugzeug der Royal Airforce unterwegs nach Balad abgestürzt. Balad befindet sich zum großen Teil in aufständischer Hand. Insgesamt starben im Irak an diesem Tag fast 50 Menschen. Aber das wirklich Atemberaubende dieses Tages war der Anblick tausender Schiiten - die Frauen überwiegend in ihren schwarzen Hejabs, die Männer mit Lederjacke oder im langen Gewand, und nebenher trotten die Kinder. Osama bin Laden sprach im Zusammenhang mit der Wahl von “Abtrünnigkeit”. Anscheinend interessieren sich diese Menschen - 60% der irakischen Bevölkerung - nicht für seine Drohungen. Sie kamen, um ihren legitimen Machtanspruch auf das Land geltend zu machen. Das war auch der Grund, weshalb der schiitische Großmarja des Irak, Ajatollah Ali al-Sistani, sie mahnte, zur Wahlurne zu gehen. Wehe den Amerikanern und Briten, falls sie diese Botschaft nicht begreifen. Sollte diese Wahl zu einer Koalition im Parlament führen, die die Schiiten spaltet und ihre größte Partei in die Opposition verbannt, wird sich der Sunniten-Aufstand in einen nationalen Aufstand verwandeln. “Ich bin hier”, sagt ein junger Mann im Wahllokal Jadriya, “weil unser Großmarja sagt, die Wahlen heute seien wichtiger als beten und fasten”. Und ein vor Freude strahlender älterer Mann: “Mein Name ist Abdul-Rudha Abu Mohamed. Ich bin heute so glücklich. Sie müssen einen Präsidenten aus unseren Reihen wählen, und wir müssen eins sein mit allen Irakern - was wir brauchen, ist Gerechtigkeit”. Sogar der lokale Wahlagent ist den Tränen nahe. Taleb Ibrahim gibt zu, an den Ein-Personen-Wahlen unter Saddam Hussein teilgenommen zu haben. Aber heute sei der Tag, an dem die Schiiten des Irak - die keine Rache an den Unterdrückern der Baath nahmen -, ihre Großherzigkeit unter Beweis stellten. Selbst wenn die Sunniten die Wahl boykottieren, so Ibrahim, “es gibt ein altes Sprichwort: Der Vater mag zornig sein, aber mit seinen Söhnen haben wir kein Problem. Wir werden gewährleisten, dass die Söhne - die Sunnis - die gleichen Rechte bekommen wie wir”. Überall in Bagdad der gleiche Anblick: Ganze Familien, die geschlossen zum Wahllokal marschieren, während rundherum die Explosionen donnern. Schon kurz nach Eröffnung der Wahllokale waren in der Stadt 30 Explosionen zu hören - in weniger als zwei Minuten. Dennoch strömten die Menschen wie beim Familienausflugstag. Mittlerweile sind die Bomben der Herzschlag des Irak. Der dumpfe Knall der Explosionen übertönt selbst noch die niedrigfliegenden Apache-Helikopter der Amerikaner. Dennoch stoppen Nachbarn auf der leeren Straße, unterhalten sich und zeigen sich gegenseitig die unlöschbare Tinte am Finger. Um Doppelstimmabgaben zu vermeiden, war von offizieller Seite unlöschbare Tinte eingeführt worden. Es war der sicherste und der gefährlichste Tag. In einem Wahllokal frage ich einen der jungen irakischen Soldaten, die uns durchsuchen, ob er keine Angst habe. Um nicht erkannt zu werden, tragen sie alle schwarze Wollmasken. “Das ist egal”, sagt er. “Ich bin bereit, für diesen Tag zu sterben. Wir müssen wählen”. Sieben Stunden später spreche ich wieder mit dem Soldaten. Jetzt hat auch er unlöschbare Tinte am Finger. “Man hat das Gefühl, seine Zukunft und seinen Glauben ändern zu können”. “Zuvor kannten wir nur Militärcoups und Revolutionen. Wir konnten zwischen ‘ja’ und ‘ja’ wählen. Jetzt wählen wir für uns.” Sehr eingängig der falsche Optimismus der westlichen TV-Stationen - der ganze Blödsinn vonwegen “historischer” Tag im Irak. Historisch ist er nur dann, wenn er das Land verändert. Viele fürchten allerdings, dies wird nicht der Fall sein. Ich traf gestern niemanden, der an ein Ende des Aufstands glaubt. Viele waren sogar der Meinung, der Aufstand werde sich noch verschlimmern. Einstimmig sagten mir die Schiiten in den Wahllokalen, sie gingen auch deshalb zur Wahl, um die Amerikaner aus dem Irak zu entfernen - und nicht etwa, um deren Anwesenheit zu legitimieren. Dies ist eine Botschaft, die, falls von Amerikanern und Briten ignoriert, deren Untergang bedeutet. Gestern schickten die Amerikaner tausende Soldaten auf die Straßen Bagdads. Die meisten versuchten, sich einigermaßen respektvoll gegenüber den Menschen zu benehmen und beobachteten nur. Normalerweise bedrohen sie die Leute mit ihren Gewehren - in dieser gefährlichen Hauptstadt. Ein gewisser Captain Buchanan aus Arkansas hatte sogar einen politischen Gedanken: “Schade, dass die Sunniten nicht wählen gehen - es ist zu ihrem Nachteil” - und natürlich zum Nachteil des Irak und der Schiiten, möglicherweise auch zum Nachteil der Amerikaner. Wer wird schon an das neue Parlament und die Verfassung, die es ausarbeitet bzw. an die Regierung, die daraus hervorgehen soll, glauben, wenn diese vitale Komponente, diese Minorität, nicht beteiligt ist? Ich fragte einen Sicherheitsmann, einen Sunniten, wie er die Zukunft seines Landes sieht. Er gehört zu den Nichtwählern. In vielen sunnitischen Städten öffneten nur 1/3 der Wahllokale. Aber er hat viel über die Frage nachgedacht. “‘Demokratie’ ist nichts, was man uns so einfach schenken kann. Das ist nur einer eurer westlichen, ausländischen Träume. Davor hatten wir Saddam. Er war ein grausamer Mann, er behandelte uns grausam. Aber was passiert nach dieser Wahl? Ihr werdet uns viele kleine Saddams geben”. Quelle: ZNet Deutschland vom 01.02.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Triumph And Tragedy For Iraq . Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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