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Die ganze Wahrheit

Von Andrea Noll - ZNet Deutschland 03.02.2005

Früher schnappte man sich bei einer Rattenplage einfach eine junge Ratte und nagelte sie lebendig ans Scheunentor. Das stundenlange Schmerzgefiepe der Gequälten signalisierte dem Rest der Sippe: höchste Gefahr, alles schnell weg hier! Es ist ein großer Irrtum zu glauben, Hartz IV ziele auf die Erwerbslosen. Bei 5 Millionen Arbeitslosen und 268.300 gemeldeten offenen Stellen kann nicht einmal Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut an die Mär von “den faulen Arbeitslosen” glauben, ans “Fördern und Fordern”. Hartz IV ist vielmehr eine potente Waffe gegen die abhängig Beschäftigten. Arbeitslose und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger werden nachhaltig gequält, um allen Nocharbeitsplatzbesitzenden zu signalisieren: Nehmt die zunehmende Deregulierung des Arbeitsmarktes gefälligst klaglos hin, oder ihr verliert eure Jobs und werdet im nächsten Jahr selber gehartzt.

Am 2. Februar verkündete Wirtschaftsminister Wolfgang Clement - der “Master of Desaster” (Rainer Brüderle) - die neuesten Arbeitslosenzahlen. Clement spricht von “der ganzen Wahrheit”. Laut ‘offizieller’ Arbeitslosenstatistik überschritt die ‘offizielle’ Arbeitslosigkeit im Januar ‘offiziell’ die 5 Millionengrenze. Damit erhöht sich die ‘offizielle’ Arbeitslosenquote bundesweit auf ‘offiziell’ 12,1%. Die inoffizielle Quote ist sicher doppelt so hoch. Neben 1,5 Millionen Arbeitslosen in sogenannten “öffentlich geförderten Maßnahmen”, die aus der Statistik herausfallen, “verschwinden” vor allem im Westen immer mehr Frauen in der Familie. Von einer sogenannten “stillen Reserve” ist die Rede - überwiegend qualifizierte weibliche Fachkräfte, die in der Kinderbetreuungswüste Deutschland jobtechnisch verschmachten. Vergessen auch die Familien der Arbeitslosen.

Auf die meisten Gehartzten kommen weitere Ko-Gehartzte: Ehepartner und Kinder. Hier wird deutlich, wie sich die Massenarbeitslosigkeit inzwischen in die Gesellschaft hineinfrißt. Hartz IV übertrifft die schlimmsten Befürchtungen: 80% aller bisherigen Arbeitslosenhilfebezieher ohne Kind erhalten durch das neue ALGII ab Januar 2005 weniger bis gar nichts mehr. Gehartzte Sozialhilfeempfänger gehen fast aller ‘einmaligen Leistungen’, wie Kleidergeld, Beihilfen für Hausrat, Möbel, Renovierung, usw., verlustig - notwendige Überlebenshilfen, für die ein paar Euro mehr kein Ersatz sind.

Auch die Kinderarmut ist dank Hartz IV weiter auf dem Vormarsch. Als direkte Folge von Hartz IV rutschen eine halbe Million Kinder zusätzlich unter die Armutsgrenze - armes Deutschland! “Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen haben eine verheerende erste Bilanz der Arbeitsmarktreform Hartz IV gezogen. Die massiven, gesetzlich vorgegebenen Verschlechterungen für Erwerbslose würden durch zahlreiche Pannen und eine rechtswidrige Leistungsgewährung verschärft, erklärte eine Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen in Frankfurt. “Uns erreichen zahlreiche Hilferufe von Betroffenen, die selbst Ende Januar noch keine Leistungen auf dem Konto hatten…”. Auch im Februar könnten noch viele ohne Geld dastehen. Zudem seien rund 90 Prozent aller bei den Initiativen vorgelegten Hartz-IV-Bescheide fehlerhaft”. 1

2002 verfaßte Aziz Choudry einen Artikel für den ‘Asia-Europe Dialogue’ (übersetzt bei ZNet Deutschland) [2]. Darin beschreibt er Neuseelands “erstaunliche Transformation von einer der geschütztesten Volkswirtschaften in der OECD… zu einem Versuchslabor für radikale Marktreformen”. Die Transformation, die 1984 mit dem Regierungsantritt der Labour-Partei startete, zeigt deutliche Parallelen zu Deutschland im Jahr 1 nach Hartz IV. Die wichtigste Parallele: In Neuseeland konnte der neoliberale Umbau der Gesellschaft bizarrerweise nur unter einer sozialdemokratischen Regierung erfolgen - also mit einer (konservativen) Opposition, die den Wandel mitträgt; wer in Deutschland im Jahr 2002 Rot/Grün wählte, entschied sich, ohne es zu ahnen, für das neoliberale Modell Schwarz/Gelb.

Die Neoliberalisierung Neuseelands war gekennzeichnet durch: Deregulierung des Arbeitsmarkts - verbunden mit massiven Sozialkürzungen - Privatisierung staatlicher Unternehmen und eine Öffnung des Landes für ausländisches Kapital. Choudry: “Zwischen 1988 und 1993 war Neuseeland das weltweit führende Land im Ausverkauf von Staatsbesitz an ausländische Investoren - meist transnationale Aktiengesellschaften… Während dieser Zeit wurden um die NZ $14 Milliarden umgesetzt… Der Marktwert des Besitzes, der seit 1987 an ausländische Investoren verkauft wurde, entspricht in etwa 2/3 des Werts von 200 der wichtigsten neuseeländischen Konzerne” 2 .

1990 verlor die Labour-Regierung die Wahl an die Konservativen (National Party). Diese setzten das Verarmungsprogramm noch effizienter fort: “Ein Report vom Februar 1995 (‘Income-and-Wealth’-Report der Joseph-Rowntree-Foundation) legt offen, daß in den vorangegangenen 15 Jahren in Neuseeland die Schere zwischen Arm und Reich viel schneller auseinanderdriftete, als in jeder anderen vergleichbaren Industrienation der Welt. Die Regierung der National Party hatte im Juli 1991 den Sozialhilfe-Etat um sage und schreibe NZ $1,3 Milliarden gekürzt. Es war die “Mutter aller Budget(kürzungen)”. 1996 wurde dieses Geld als Steuerersparnis an die Reichen weitergeleitet - mittels eines 1,4 Milliarden Steuerentlastungspakets. Lediglich 29 Prozent der Steuererleichterungen kamen Erwerbstätigen-Familien im unteren bis mittleren Einkommensbereich zugute.

In ihrer Studie vom September 1998 - ‘Wie der Staatskuchen in Post-Reform-Neuseeland verteilt wird’ - vergleichen die Ökonomen Srikanta Chatterjee und Nripesh Podder Daten über (private) Haushaltseinkommen - um festzustellen, wie sich die Einkommensverteilung zwischen 1983/1984 und 1995/96 veränderte. Sie fanden heraus, daß die unteren 80 Prozent der neuseeländischen Einkommensbezieher nur noch ein reduziertes bereinigtes Einkommen zur Verfügung hatten. Die reichsten 10 Prozent der Haushalte hingegen konnten sich in dieser Zeit 15 Prozent mehr aus dem Staatskuchen herausschneiden - die 5 Prozent der Allerreichsten sogar 25 Prozent. Basierend auf dieser Datenanalyse kommt Paul Dalziel (Professor für Ökonomie an der Canterbury Universität/Christchurch) zu dem Ergebnis, daß die 40 Prozent Haushalte mit den niedrigsten Einkommen in den Jahren 1984 bis 1996 eine um über 3 Prozentpunkte reduzierte Kaufkraft besaßen. Der Lebensstandard der 10 Prozent ärmsten Haushalte Neuseelands ging um ganze 8,7 Prozent zurück”.

Eine der Folgen dieser Verarmung war die Ausbreitung von “Krankheiten wie… Tuberkulose, Skorbut, Rachitis, Keuchhusten und Meningokokken-Infektionen…” 2 . Eine Grundvoraussetzung für die Neoliberalisierung Neuseelands war die Ausschaltung der Gewerkschaften bzw. die Deregulierung des Arbeitsmarktes (als direkte Folge des Verkaufs staatlicher Gesellschaften an (ausländische) Privatinvestoren), so Choudry: “Eng verknüpft mit diesen ‘Investitionen’ waren Arbeitsplatzverluste in großem Stil - indem vormalige Staatsunternehmen wie die Telekommunikations-Dienstleister, Staatsbahnen, die Staatswälder und vergleichbare Sektoren in Aktiengesellschaften umgewandelt, privatisiert und verkauft wurden.” Die offizielle Arbeitslosigkeit stieg auf bis zu 15%. “Was bei dem Ganzen zudem auf der Strecke blieb, war Service-Qualität, war die Sicherheit und Gesundheit der Arbeiter und der Allgemeinheit. Die neuen Besitzer haben diese (wichtigen) Güter vielfach der Kostendämpfung geopfert.” 2

“1991 - mit dem ‘Employment Contracts Act’ (Arbeitsvertragsgesetz) - vollendeten die Nationalen, was Labour begann: die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Durch dieses Gesetz wurden Arbeitsverhältnisse praktisch zu einer individuell aushandelbaren Angelegenheit.” 2 Auf der Agenda der deutschen Regierung für 2005 - so meine feste Überzeugung -, steht genau das an oberster Stelle: die weitere Beschneidung des Kündigungsschutzes, die Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes - zur flächendeckenden Schaffung prekärer Jobverhältnisse. Spätestens nach den beiden Landtagswahlen wird man diese Ziele vehement in Angriff nehmen, nachdem die Medien ein entsprechendes “Handlungsklima” geschaffen haben werden.

Von “Flexibilisierung am Arbeitsmarkt” nuschelte, stotterte und stammelte Wolfgang Clement auf seiner Pressekonferenz am 2. Februar. Er warnte vor “Schockstarre”, die “Zeit für unrealistische Forderungen” sei vorbei. Man müsse die “Bremsen wegtun”, so Clement rhetorisch geschliffen. Warum? Damit BDI und BDA die deutsche Wirtschaft endgültig in den Graben fahren können? Kaum waren die neuesten Arbeitslosenzahlen in der Presse, forderte Arbeitgeberpräsident Hundt weitere Sozialkürzungen. Die Arbeitslosenversicherung sei um einen Prozentpunkt zu senken, und bei den Arbeitslosen müsse weiter gekürzt werden.

Macht Sinn. Wer wie Hundt die unsäglichen 1-Euro-Jobs auf die Privatwirtschaft ausgeweitet wissen will, braucht Hungerleider. Nur Hungernde sind bereit, für Hungerlöhne zu arbeiten. Auf keinen Fall dürfe es zu “einem Stillstand der Reformen kommen”, sagt Clement. Wann hört die deutsche Regierung auf, Feuer mit Benzin zu löschen? Befremdend, wie geradezu genüßlich Clement seinen Offenbarungseid zelebrierte.

Erinnern wir uns: Im Jahr 2002 versprach dieselbe Regierung eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen innerhalb der nächsten 3 Jahre. Heute, ein halbes Jahr vor der Deadline, brüllt der Wirtschaftsminister - verantwortlich für die miserabelste Arbeitslosenstatistik seit dem Zweiten Weltkrieg - seine katastrophalen Arbeitslosenzahlen geradezu triumphierend ins Mikro. Hätte dieser ‘Master of Desaster’ nicht allen Grund, die eigene Pleite herunterzuspielen?

Dahinter steckt ein raffinierter Plan. Medienwirksam bereitet Clement den nächsten Coup der Bundesregierung vor - ein Plan, der sich gegen alle abhängig Beschäftigten und die Gewerkschaften richten wird. Wie gesagt, 2005 wird das Jahr der großen Deregulierung am Arbeitsmarkt - zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, selbstverständlich.

In Neuseeland führte der ‘Employment Contract Act’ zur radikalen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Folge: eine massive Schwächung der Gewerkschaften. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad ging von 43% auf 21,7% Prozent zurück - also um die Hälfte. Choudry: “Es folgten der Rückgang der Reallöhne um 2,2 Prozent und eine de facto Einfrierung der Löhne im Öffentlichen Dienst.” Die Bilanz des neuseeländischen Experiments? “Immer wieder wird im Zusammenhang mit Neuseeland (zwischen 1985 und 1992) von einem ‘Wirtschaftswunder’ gesprochen. Tatsächlich ging das Wirtschaftswachstum ‘Down Under’/Neuseeland um 1 Prozent zurück - während das der übrigen OECD-Staaten im Durchschnitt um 20 Prozent anstieg.

Zwischen 1992 und 1995 erholte sich die neuseeländische Wirtschaft zwar sprunghaft… fiel aber erneut ab. Jane Kelsey, Professorin für Recht an der Universität Auckland: “Neuseelands Umarmung des globalen freien Markts kommt das Land inzwischen gesamtökonomisch ebenso teuer zu stehen wie viele der armen Länder. Innerhalb der OECD ist Neuseeland von Platz 9 (1970) auf den 19. Platz (1999) abgerutscht. Unsere Wirtschaftswachstumsrate war sogar mit die niedrigste in der gesamten OECD… Eine Untersuchung anhand von 45 Ländern, durchgeführt im Jahr 1998, ergab, daß nur 5 der Getesteten während der vergangenen 6 Jahre Marktanteile eingebüßt hatten - darunter Neuseeland.” 2

Etliche der neuseeländischen Radikalreformer kamen nach dem abrupten Ende ihrer Politkarriere wundersamerweise bei WTO, Weltbank oder IWF unter - bei jenen Organisationen mithin, die den globalen Neoliberalismus vorantreiben. Mit der ‘Agenda 2010’ ist das neuseeländische Labor-Experiment 20 Jahre später auch in Europa angekommen. “Viele Nicht-Eingeborene Neuseelands artikulieren (diese Prozesse) als eine Erfahrung des Kontrollverlusts bzw. als Verlust von Souveränität über das eigene Schicksal. Für die Maori (Ureinwohner Neuseelands) ist das alles nichts Neues. Der Prozeß der Privatisierung, Kommerzialisierung und Deregulierung stellt für sie lediglich eine zweite Kolonialisierungwelle dar: eine erneute Aneignung und Unterwerfung ihres Landes und ihrer Ressourcen…” Die Maori Leoni Pihama, Universitatäsabsolventin und Autorin: “Kolonialisierung bleibt Kolonialisierung - egal, welchen neuen Namen wir der Sache geben. Globalisierung, freie Marktwirtschaft, Neoliberalismus, Profitorientierung, Kapitalismus - bei alldem geht’s im Prinzip nur um eines: Kolonialismus.” 2

Die europäische Variante dieses Kolonialisierungsprojekts nennt sich ‘Agenda 2010’ bzw. ‘Lissabon-Strategie’. Die im Jahr 2000 auf dem EU-Gipfel in Lissabon verkündete Agenda besteht aus einem Strategiekatalog, mit dem die EU “bis 2010 zur führenden Wirtschaftsmacht” weltweit werden will - besser, wollte. Inzwischen macht sich Katzenjammer breit, die Agenda mußte “nachgebessert” werden.

Armut und Reichtum

Das Beispiel Neuseeland ist deshalb so instruktiv, weil es quasi im Zeitraffer zeigt, was passiert, wenn eine soziale Marktwirtschaft neoliberalisiert wird: Verelendung weiter Teile der Bevölkerung, während die Mittelschicht schneller abschmilzt als die Polkappen.

In vielen Landesteilen gehen Zigtausende auf die Straße. Die von den Sozialkürzungen Betroffenen stürmen Verwaltungssitze und Ämter, blockieren U-Bahnen und Verkehrstraßen. Beim Treffen Putin/Köhler kommt es zu einem Menschenauflauf. Nein, hier ist nicht von Deutschland im Jahr 1 der Hartz-IV-Reform die Rede - leider. Wer hier so heroisch kämpft, sind die russischen Rentner, denen Putin lebensnotwendige Sozialvergünstigungen strich. Es ist dieser entschlossene Massenprotest, diese Form der ‘direkten Aktion’, die sich in Deutschland erst noch entwickeln muß. Deutsche Krankheit. Es gelingt den herrschenden Eliten - in Komplizenschaft mit den Medien - immer noch, die einzelnen Gruppen der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen. Kinderreiche werden gegen enteignete Rentner gehetzt, Familien mit Kleinkindern gegen Studierende (Kindergartengebühren versus Studiengebühren), Arbeitnehmer gegen Gehartzte, Inländer gegen Immigranten, Ost gegen West, Nord gegen Süd - und das ist die ganze Wahrheit, Herr Clement. 2005 ist ein entscheidendes Jahr. In den kommenden Monaten wird sich manifestieren, ob die Gewerkschaften endgültig vor den regierenden Arbeitgebern kapitulieren, ob Tarifautonomie und Kündigungsschutz zerschlagen werden können - und das ist die ganze Wahrheit. Wozu “individuelle Lohnvereinbarungen” unter Aushebelung des Tarifrechts führen, illustriert das Beispiel Neuseeland.

In allen neoliberalisierten Industrieländern - ob Neuseeland, USA, Großbritannien oder Holland - taugt die Arbeitslosenstatistik nur noch für den Papierkorb. Die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse durch prekäre Jobs bzw. Minijobs führte in diesen Ländern zum Massenphänomen der ‘working poor’ - Menschen, die trotz eines oder mehrerer Arbeitsplätze weiterhin auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. In Dänemark wurde der Kündigungsschutz radikal abgebaut. Dies führt dazu, daß heute im Durchschnitt jeder vierte Däne / jede vierte Dänin einmal im Jahr arbeitslos wird. Wie lange hält ein Mensch dieses Experiment durch, ohne physisch und psychisch vor die Hunde zu gehen? Ohne Gegenwehr werden wir in Europa die vollständige Aldiisierung des Arbeitsmarkts erleben - Löhne auf Discounterniveau. Im Arbeitgeberlager war Geiz schon immer geil. Die europäische Zivilgesellschaft muß sich im klaren sein: Früher oder später sind wir alle die Geharzten - Arbeiter, Rentner, Familien, Studierende. Die einzig effektive Antihartz-Strategie ist Solidarität.

Welfare for the rich

Immer wieder wird uns gesagt, die Sozial-“Reformen” seien ein Weg zur Sanierung des Staatshaushalts, ein Weg aus der Schuldenfalle. Falsch, es wird nicht eingespart sondern umgeschichtet - von unten nach oben. Der klamme Staat zeigt sich großzügig mit Subventionen für Konzerne und Geldeliten - direkte und indirekte Subventionierung ist angesagt. Deutschland ist europaweit das Land mit der niedrigsten Steuerlast für Großverdiener - weitere Steuerkürzungen stehen ins Haus.

Ein gutes Beispiel für diese gesellschaftliche Umverteilung, wie sie beispielsweise auch der neue ‘Armuts- und Reichtumsbericht’ der Bundesregierung widerspiegelt, ist die Gesundheitsreform 2004 - Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Nach einem Jahr steht fest, die Zahl der Arztbesuche ging um 8,7% zurück. Ein schönes Ergebnis. Wieviele schwere Krankheiten dadurch unentdeckt und unbehandelt blieben, wieviele Menschen früher sterben, ist unbekannt und interessiert die unsoziale Marktwirtschaft auch nicht. Ärztekammer-Chef Karsten Vilmar dürfte wohl wieder von “sozialverträglichem Ableben” sprechen.

Auch die versprochene Senkung der Versicherungsbeiträge blieb Makulatur: “Die Krankenkassenbeiträge sind bisher kaum gesunken. Der durchschnittliche Satz verringerte sich im vergangenen Jahr lediglich von 14,3 auf 14,2 Prozent, wie aus Expertenkreisen verlautete. Damit erfüllte sich die zuletzt von der Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) geäußerte Erwartung nicht, dass der Satz bis zum Jahresende zumindest 14 Prozent erreichen würde. Im Gesundheitsreformgesetz war sogar ein Ziel von 13,6 Prozent für 2004 gesetzt worden…. weil die Krankenkassen mehr Schulden aufgehäuft hatten, als erwartet und auch die Beitragseinnahmen schwächer ausfielen als in der Reform unterstellt”. 3

Die großen Gewinner sind wieder einmal die Pharmariesen. Sie kamen bei der Reform zu Lasten der kleinen Leute nicht nur ungeschoren davon, sondern können sich auch noch frech die Medikamentenpreise erhöhen. Ende 2004 lief in Deutschland die zweijährige Preisbindung für Medikamente aus. Schon jetzt kündigen die Hersteller von über 500 Arzneimitteln Preissteigerungen von durchschnittlich 5%, an, also vielfach in zweistelliger Höhe. Mit gestiegenen Herstellungskosten hat das alles nichts zu tun. Medikamentenpreise sind reine Phantasieprodukte. Verlangt wird, was der Markt hergibt bzw. die gesetzlichen Regelungen des jeweiligen Landes erlauben. Fazit der Gesundheitsreform 2004: Der/die Versicherte muß für schlechtere Leistungen wesentlich tiefer in die Tasche greifen - zum Wohle der Pharmakonzerne. Dabei ist das alles erst der Anfang. Die eigentliche neoliberale Reform des deutschen Gesundheitswesens steht noch bevor.

Die Umverteilung von unten nach oben - welfare for the rich - läuft in allen EU-Ländern nach demselben Muster ab, nationale Unterschiede lassen sich nur bei der Geschwindigkeit erkennen, mit der die einzelne Zivilgesellschaft enteignet wird. Arbeitnehmer, Gehartzte, Familien, Rentner, Studierende, Immigranten, Selbständige und mittelständische Unternehmen bezahlen die Neoliberalisierung Europas - oft mit ihrer Existenz. Wenn es hart auf hart kommt, schließen sich selbst Wölfe zusammen - bzw. die braune Pest von NPD und DVU. Nur die Linke glaubt noch immer an die Kraft der Zersplitterung und Selbstzerfleischung. Linkes Sektierertum - größtes Geschenk an das europäische Neoliberalisierungsprojekt, und das ist die ganze Wahrheit.

Choudry schrieb seinen Artikel im April 2002. 1999 hatten die Neuseeländer ihr neoliberales “Wirtschaftswunder” endgültig satt und wählten eine neue Mitte-Links-Regierung, die, “mit dem Versprechen” gewählt wurde, “die Macht der Märkte zu brechen”. 2 Allerdings so Choudry, das “eigentliche Wirtschaftsfundament des Neoliberalismus” blieb unangetastet: “Die Anhänger unserer Regierung des ‘Dritten Wegs’ wollen uns davon überzeugen, Wirtschaftsglobalisierung und Marktkapitalismus könnten ein menschliches Antlitz haben. Aber unsere Wirtschaftspolitik gibt uns seit langer, langer Zeit wenig Hoffnung, daß sich dieses Gesicht endlich einmal zeigt”. 2

Fussnoten:

1 ‘Initiativen beklagen massive Verschlechterung’, Südwestpresse vom 2. Februar 2005

2 Aziz Choudry: ‘Neuseeland: Unfreiwillige Laborratten noch immer in Markt- Mausefalle gefangen’ www.zmag.de/artikel.php?id=213

Choudrys Artikel im englischen Original: www.ased.org/artman/publish/article_40.shtml

Ein weiterer lesenswerter Artikel zur Wirtschaftsentwicklung in Neuseeland: www.arbeit-wirtschaft.at/aw_02_2000/art3.htm

3 ‘Kaum Bewegung bei den Kassenbeiträgen’, Südwestpresse vom 2. Februar 2005

Eine Liste mit Beratungsstellen für Hartz-IV-Betroffene bietet die PDS unter: http://sozialisten.de/politik/hartziv_muss_weg/beratung_zu_hartziv/index.htm

Quelle: ZNet Deutschland vom 03.02.2005.

Veröffentlicht am

07. Februar 2005

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