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Unter dem Tuch ein Kopf

Augenzeugen aus Faludscha: Noch immer suchen die Menschen nach vermissten Angehörigen, die während der Kämpfe im November 2004 verschwunden sind

Von Sophia Deeg

An diesem winterlichen Sonntagmorgen zeigt sich im Labyrinth des Münchner Ratskellers mit seinen Sälen und Winkeln die übliche Betriebsamkeit im üppig auf bayerisch-gemütlich getrimmten “Ambiente”. Überbordende Brunch-Buffets, sonntäglich gestimmte Familien und Kinder, die einander, mit Wunderkerzen bewaffnet, durch die Tisch- und Stuhlreihen jagen.

Wie mag dieses Idyll auf die Gäste aus Falludscha wirken, die sich hier mit Journalisten treffen? Wie kann man die Bilder im Kopf - die von gestern und die von heute - in irgendeine sinnvolle Übereinstimmung bringen? Ich wage es nicht, Doktor Ibrahim Haded danach zu fragen, wenn er von dem berichtet, was er erlebt hat und oft nur in magere, abstrakte Worte und Zahlen kleidet - vorläufige Zahlen, denn auch vier Monate nach der Schlacht um Falludscha hat niemand irgendeinen Überblick. Es gibt nur die Sprache der Ohnmacht und der Bilder, die alle dasselbe sagen: schaut her, schaut her, das ist geschehen.

Am siebten Tag

Doktor Ibrahim Haded gehört zum medizinischen Stab des Zentralkrankenhauses von Falludscha, als Anfang November 2004 die Operation Morgendämmerung beginnt. Er wird in den folgenden Tagen einer der wenigen Ärzte sein, die während der Kampfhandlungen im Zentrum der Stadt bleiben.

Am 7. November 2004 durchkämmen amerikanische Kampfeinheiten alle Gebäude des Zentralkrankenhauses. Ärzte und Schwestern müssen Operationen und Behandlungen unterbrechen, sie werden genötigt nach draußen zu gehen und sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits das gesamte Viertel unter Beschuss geraten, es gibt überall Verwundete, doch Ambulanzen aus dem Hospital werden daran gehindert, Hilfe zu leisten.

Stattdessen sollen die Ärzte darüber Auskunft geben, ob sich “Terroristen” unter den Patienten befinden. Als die Befragung ergebnislos bleibt, durchsuchen US-Soldaten Krankensäle, Behandlungs- und Lagerräume, Büros und Küchen, ohne auf “Terroristen” zu stoßen. Stunden später ergeht die Aufforderung, das gesamte Hospital zu räumen, weil es “funktionsuntüchtig” sei. Chirurgen versuchen daraufhin, im Stadtzentrum eines der noch intakten ambulanten Gesundheitszentren für Operationen umzurüsten - sie geben auf, als auch dieses Gebäude beschossen wird.

Am dritten Tag der Schlacht um Falludscha wird Doktor Haded vom Direktor des inzwischen teilweise zerstörten Zentralkrankenhauses gebeten, eine in der Nähe seiner Wohnung gelegene Praxis herzurichten, damit dort unaufschiebbare Operationen stattfinden können. “Aber ich bin Zahnarzt!”, brüllt Haded ins Telefon, um sich schließlich doch mit einem Nachbarn in Verbindung zu setzen, der Orthopäde ist und sich bereit erklärt, Schwerverletzte zu behandeln.

“Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, an dem man nichts mehr tun konnte”, erinnert sich Haded, “weil die Genfer Konventionen offensichtlich für die Besatzungstruppen ohne Bedeutung waren.”

Haded kann tagelang seine Wohnung nicht mehr verlassen. Ständig wird er von verzweifelten Menschen angerufen, die vergeblich versuchen, sich mit dem Zentralkrankenhaus oder einer Arztpraxis in Verbindung zu setzen. In einem Fall wird dringend ein Medikament benötigt - Haded fällt die Apotheke unweit der Wohnung des Patienten ein. “Versuchen Sie, dorthin durchzukommen, notfalls müssen Sie einbrechen”, rät er dem Bruder eines Schwerkranken.

Ständig rollen gepanzerte Fahrzeuge durch die Straßen, einmal gelingt es Haded, mit amerikanischen Soldaten zu reden und darum zu bitten, einen bestimmten Wohnblock zu verschonen, es befänden sich noch Menschen darin. Zweimal wird es ihm erlaubt, eine Gruppe von etwa 100 Personen zu sammeln und unbeschadet aus der Gefahrenzone zu führen.

Es gelingt ihm, ein letztes Mal zum Zentralkrankenhaus zurückzukehren, dessen Trakte durchweg verwüstet sind. “Ich wollte noch einmal versuchen, das Gesundheitszentrum bei mir nebenan wieder in Betrieb zu nehmen und sprach deshalb mit dem amerikanischen Verbindungsoffizier im Hospital. Ich bat ihn, Medikamente und Verbandszeug zum Gesundheitszentrum zu schicken. Er lehnte ab, verlangte statt dessen von mir, ich solle mich zum nächsten Checkpoint begeben, um evakuiert zu werden. Am siebten Tag gab ich auf.”

Missing

Als die Kampfhandlungen offiziell beendet sind und die ersten Flüchtlinge in die Stadt zurückkehren - bis Ende Dezember nicht mehr als ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung - ist auch Doktor Haded unter ihnen. “Ein Wagnis, weil immer noch geschossen wurde und man jederzeit als ‘Terrorist’ verdächtigt und verschleppt werden konnte.”

Haded stellt fest, dass sein Haus und seine Praxis in Trümmern liegen. “Was sollte ich dort noch? Aufräumarbeiten wurden mir mit dem Argument untersagt, es fehle die nötige Sicherheit.”

Nach den offiziellen Bulletins der US-Armee kamen bei der Schlacht um Falludscha mehr als 2.500 Einwohner ums Leben - entdeckt wurden jedoch bis Anfang Januar nur 700 Leichen. Die Menschen versuchen daher selbst, vermisste Angehörige zu identifizieren und zu begraben. Ihre Suche findet bis heute kein Ende. Nicht nur die Gefühle der Betroffenen werden verletzt, auch die Folgen für Hygiene und Gesundheit sind gravierend. Doktor Haded zeigt Video-Aufnahmen von der Identifizierungsarbeit, wieder und wieder die gleichen Bilder von halb zerfallenen, kaum mehr identifizierbaren Körpern, auf die der Blick der Kamera parallel zu dem der Helfer fällt, wenn jemand zögernd die Ecke eines Tuches anhebt, unter dem ein Kopf, eine Hand oder ein Fuß sichtbar werden, ehe der Stoff mit einer Geste der Ohnmacht und Resignation wieder fallen gelassen wird.

Weder bei dieser nicht enden wollenden Qual helfen die Besatzer oder die von ihnen eingesetzte Stadtregierung, noch beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Straßenzüge. Keine Unfähigkeit oder Überforderung. “Der Wahnsinn hat Methode”, vermutet Haded. “Durch dieses Chaos und das bodenlose Elend wird sich die Sicherheit im Irak kaum verbessern, die Regierung bleibt auch nach der Wahl schwach. Sie wird der dauerhaften Einrichtung von US-Militärbasen zustimmen müssen.”

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 11 vom 18.03.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Sophia Deeg und Verlag.

Veröffentlicht am

23. März 2005

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