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“Scharon hat seine Ziele nicht geändert”

Andreas Grünwald im Gespräch mit Felicia Langer. Über das Oslo-Abkommen zwischen Israel und Palästina, den Friedensprozeß in Nahost nach der Konferenz von Sharm el Sheikh und die Strategie der israelischen Regierung

bq. 1950 wanderte Felicia Langer mit ihrem Mann Mieciu nach Israel aus. Als israelische Rechtsanwältin vertrat sie nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 Palästinenser vor israelischen Militärgerichten, kämpfte gegen Enteignung, Häuserzerstörung, Deportation und Folter. 1990 schloß Langer ihre Kanzlei und siedelte nach Deutschland über. Sie erhielt u. a. den Alternativen Nobelpreis und im März den Erich-Mühsam-Preis.

Frage: Sie gehörten 1993 zu den wenigen Kritikern des Oslo-Abkommens. Wie sehen Sie das heute?

Felicia Langer: In den damaligen Verhandlungen wurden die wichtigsten Fragen zwischen Israel und den Palästinensern ausgeklammert: das Wasserproblem, das Siedlungsproblem, das Problem der Landnahme, die Frage der Souveränität und das Jerusalem-Problem. Ohne die Umrisse einer Lösung zu definieren, wurde alles vertagt. Doch ich kenne die israelische Politik, die immer eine Politik der vollendeten Tatsachen war.

Mit Oslo konnte es keinen Frieden geben. Gern hätte ich mich geirrt. Doch was dann passierte, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Die Zahl der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten hat sich seit 1991 - dem Beginn der damaligen Verhandlungen in Madrid - bis heute von 92 000 auf 240 000 erhöht, obwohl diese Siedlungen völkerrechtswidrig und ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention sind. Alle israelischen Regierungen - auch die Regierung Rabin/Peres - haben die Siedlungen ausgebaut. Das ist diese Politik der vollendeten Tatsachen.

Heute stellt sich die Frage, wo denn ein palästinensischer Staat überhaupt entstehen soll? Einen lebensfähigen palästinensischen Staat kann es nur geben, wenn diese Siedlungen wieder geräumt werden, wie es das Völkerrecht vorsieht. Die Palästinenser haben sich mit 22 Prozent des ursprünglichen Territoriums von Palästina abgefunden. Doch die israelische Regierung will sie auf zwölf Prozent drücken. So ist kein Frieden möglich. Die Räumung aller besetzten Gebiete ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden. Dazu gehört auch die Lösung des Jerusalem-Problems im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung, also die Anerkennung von Ostjerusalem als palästinensische Hauptstadt. Zudem ist eine dem Völkerrecht entsprechende Lösung der Flüchtlingsfrage nötig, bei der Rechte anerkannt werden und historische Verantwortung übernommen wird.

Auch heute erleben wir eine Ausweitung der Siedlungspolitik, und der acht Meter hohe Sperrwall reicht tief in palästinensisches Gebiet hinein. Ariel Scharon denkt sich Palästina als einen Bantustan. Das aber ist für die Palästinenser unannehmbar.

Frage: Trotzdem hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die Konferenz in Sharm el Sheikh als einen ersten Schritt auf dem Weg zum Frieden bezeichnet. Und Israel will sich aus dem Gazastreifen zurückziehen.

Felicia Langer: Es ist immer positiv, wenn Israel Siedlungen räumt. Ich kann die Palästinenser sehr gut verstehen, die sich freuen, daß ihnen ein Teil des geraubten Bodens zurückgegeben wird. Aber ein wirklicher Friedensprozeß ist damit nicht verbunden. Unter dem Deckmantel der Räumung des Gazastreifens will die israelische Regierung ihre Herrschaft in der Westbank ausbauen. Das heißt, daß Scharon seine alte Politik fortsetzt. Es gibt Flecken, auf die Israel verzichtet, während man sich gleichzeitig große Teile der Westbank einverleibt, dort die Siedlungen ausbaut. Ich kenne die israelischen Akteure und insbesondere den Hauptdarsteller Ariel Scharon, und deshalb betone ich: Der hat seine Ziele nicht geändert.

Frage: Schon die Ankündigung der Räumung von Siedlungen im Gazastreifen hat zu heftigen Reaktionen der Siedler, aus dem israelischen Militär und von den Rechtsparteien geführt. Andererseits sind 10.000 Israelis jetzt für die Räumung auf die Straße gegangen. Da ist doch ein politischer Prozeß in Gang gekommen. Müssen wir nicht unterscheiden zwischen dem, was Scharon will und dem, was im Ergebnis dynamischer Verhandlungen, bei denen auch internationaler Druck eine Rolle spielt, am Ende herauskommt?

Felicia Langer: Wo ist denn dieser internationale Druck? Die israelische Friedensbewegung kämpft seit langem dafür, daß die internationale Gemeinschaft Druck auf Israel ausübt. Aber der bleibt aus. Oder wollen Sie sagen, daß George W. Bush nun vor oder nach Sharm el Sheikh Druck auf Scharon ausgeübt hat? Die Räumung des Gazastreifens ist für Scharon die Befreiung von einer Last, und Bush kann das außenpolitisch als Erfolg verkaufen. Im Januar hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag ein neues Gutachten vorgestellt, in dem der Bau der Mauer in der Westbank als völkerrechtswidrig, als Verstoß gegen die Menschenrechte der Palästinenser bezeichnet wird. Was ist danach passiert? Nichts. Am selben Tag, an dem die israelische Regierung die Räumung des Gazastreifens ankündigte, entschied sie gleichzeitig, diese Mauer weiter auszubauen. Würde es tatsächlich einen internationalen Druck auf Israel geben, wäre das ein Segen nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für das israelische Volk. Doch die Regierung diffamiert jede Kritik an der eigenen Politik als Antisemitismus, und Scharon hat es geschafft, Illusionen zu verbreiten.

60 Prozent der Bevölkerung in Israel sind für die Räumung der Siedlungen. Die Siedler selbst sind gut organisiert, haben viel Geld und finden viel Publicity. Ihre Protestaktivitäten sollte niemand überbewerten. Damit sich aber die Mehrheitsmeinung durchsetzen kann, ist in der Tat internationaler Druck erforderlich.

Frage: Moshe Zuckermann sprach von der Gefahr eines Bürgerkrieges, würde die israelische Regierung tatsächlich die Räumung der Siedlungen auch in der Westbank entscheiden.

Felicia Langer: Ich kann nicht ausschließen, daß es da zu bürgerkriegsähnlichen Situationen käme. Aber auch das wäre eher am Rande der Gesellschaft. Die Mehrheit der Bevölkerung will Frieden. Wenn es mehr internationalen Druck gäbe, würde sich das noch vertiefen, wären die Siedler schnell isoliert. Man muß das als Prozeß verstehen. Alle israelischen Regierungen haben diese Siedlungen kultiviert, sie gepflegt und ausgebaut, viele Millionen Dollar dort hineingesteckt und die Siedler bis an die Zähne bewaffnet. Das ist in der Tat eine Gefahr. Aber diese Gefahr könnte man durch internationalen Druck neutralisieren. Dann würden sich die Teile der Gesellschaft, die gegen die Besatzung sind, die kriegsmüde sind, die leiden, weil sie unterprivilegiert sind, besser organisieren. Die Überzeugung, daß es ohne eine vollständige Räumung aller besetzten Gebiete keine Friedenslösung geben kann, würde sich ausbreiten. Diese Forderung ist ja nicht irgendwie ausgedacht, sondern Teil des Völkerrechts.

Frage: Wenn Sie sagen, daß Sharm el Sheikh und auch der gegenwärtige Verhandlungsprozeß zu keiner Lösung des Konfliktes führen und Scharon an seinem Plan festhält, größere Teile der Westbank dauerhaft zu annektieren und die Palästinenser in kleine Enklaven einzusperren, wie ist dann die Beteiligung der Palästinenserführung an den Verhandlungen zu erklären?

Felicia Langer: Die Palästinenser müssen alles versuchen, was in ihrer Macht steht. Es ist gut, wenn man diese verdeckte Politik Scharons entlarven kann. Im übrigen bin ich ja keine Palästinenserin und auch keine Beraterin der palästinensischen Führung. Ich kann nur meine eigene Meinung sagen: Ich glaube nicht, daß sich Scharon transformiert, daß aus dem Scharon von gestern heute ein ganz anderer, ein Friedensmensch, geworden ist. Das wäre ein Wunder.

Auch beim Oslo-Prozeß konnte ich nur meine Meinung sagen. Damals habe ich palästinensischen Freunden gesagt: Ich verstehe nicht, wie man so etwas unterschreiben kann. Ich habe sie gefragt, wo sie ihre Juristen gelassen haben, weil es in dem Abkommen nicht die Spur eines juristisch verbrieften Rechts für die palästinensische Seite gab. Und heute sage ich: Wenn ich sehe, was die israelischen Akteure tun, dann kann ich erneut nicht so optimistisch sein wie manch ein anderer.

Im Übrigen sind die wirklichen Absichten der israelischen Regierung ja gar nicht geheim. Dov Weißglas, Scharons engster Berater, hat sehr klar gesagt, daß nach der Räumung von Gaza nichts passieren wird. Zudem bleibt die Kontrolle über die Grenzübergänge bei Israel. Gleichzeitig wird von den Palästinensern erwartet, daß sie friedfertig und still sind, alle Widerstandsaktivitäten einstellen. Wenn man die Reden in Sharm el Sheikh gelesen hat, konnte man eh den Eindruck gewinnen, das Hauptproblem sei nicht die israelische Besatzung, sondern der Widerstand der Palästinenser gegen diese Besatzung.

Vergessen ist, daß die zweite Intifada als ein sehr gewaltfreier Widerstand ohne Waffen begonnen hat. Was aber hat Israel gemacht? Bereits in der ersten Woche hat die Armee mehr als eine Million Geschosse abgefeuert. Zynisch nannten Armeevertreter dies “a bullet for every child”. Israel hat den Palästinensern keine Chance für den unbewaffneten Kampf gelassen. Man wollte die Intifada gewalttätig haben, um einen Vorwand zu bekommen, noch mehr zerstören zu können.

Während also die Palästinenser jetzt erneut friedfertig, still und leise sein sollen, wird Israel nicht still sein, wird seine Besatzung fortsetzen und Provokationen starten. Und trotzdem werden die Palästinenser diesen Waffenstillstand einhalten. Aber nur dann, wenn sie Errungenschaften sehen: Wenn sie besser leben können, sich besser bewegen können, die Mauer und die Siedlungen nicht weiter ausgebaut werden. Wenn das alles nicht passieren wird - und danach sieht es aus - dann wird diese Stille nicht lange halten. Dann hat Israel erneut einen Vorwand zuzuschlagen.

Deshalb ist es bedeutsam, daß Mahmud Abbas sagt, daß er Interimslösungen nicht akzeptiert, sondern Verhandlungen für eine endgültige Lösung führen will. Die “Diplomatie der kleinen Schritte” hat ihre Grenzen gezeigt. Somit stellt sich die Frage für Israel, ob hier die Bereitschaft besteht, eine endgültige Lösung auf der Grundlage der UN-Resolution 242 zu akzeptieren. Das schließt die Räumung aller besetzten Gebiete ein, weil “Landerwerb durch Kriege unzulässig ist”. Bisher gab es keine israelische Regierung, die dazu bereit war. Nun soll es ausgerechnet die Scharon-Regierung sein? Trotzdem kann ich keinen Schritt von vornherein ablehnen, dies auszutesten. Es sei denn, es wäre mit einer Kapitulation der Palästinenser verbunden, weil ich weiß, daß Kapitulation nicht zum Frieden führt.

Frage: Spekuliert Scharon auf den Erschöpfungszustand der palästinensischen Gesellschaft?

Felicia Langer: Die palästinensische Gesellschaft ist eine sehr erschöpfte, manchmal auch frustrierte Gesellschaft. Aber es ist keine Gesellschaft, die aufgegeben hat. Wenn Scharon darauf hofft, daß die Palästinenser so frustriert und müde sind, daß sie ihre durch das Völkerrecht gedeckten Forderungen aufgeben, dann hat er aus der Geschichte der Kämpfe gegen den Kolonialismus nichts gelernt. Die palästinensische Gesellschaft mag müde und erschöpft sein, aber eine Kapitulationsstimmung ist nicht vorhanden. Das haben die Wahlen gezeigt, die - trotz der Besatzung - sehr ordentlich stattgefunden haben. Es war ein Votum für den Frieden. 60 Prozent waren für Mahmud Abbas, 20 Prozent für Mustafa Barghouti. Selbst die Hamas hat sehr pragmatische Erklärungen über eine Zweistaatenlösung herausgegeben. Jetzt muß sich die Welt einmischen. Aber ohne Furcht und ohne sich der amerikanischen Politik einfach unterzuordnen. Man muß auch in Europa begreifen, daß ein Frieden in Nahost Gerechtigkeit braucht. Versailles-Verträge made in Middle East schaffen keinen Frieden.

Frage: Der Widerstand der Palästinenser, internationale Solidarität und Druck der internationalen Gemeinschaft sind das eine. Die andere Frage ist, welche Kräfte es in Israel selbst gibt, die sich für den Frieden einsetzen. Wie stark ist die israelische Friedensbewegung heute?

Felicia Langer: Es gibt immer mehr Gruppen, die Frieden mit Gerechtigkeit verknüpfen, immer mehr Gruppen, die die Kriegsdienstverweigerer unterstützen, und es gibt Entwicklungen, die vielversprechend sind. Die Kriegsdienstverweigerung einiger Piloten war eine wichtige Sache, weil es die Elite der israelischen Armee und Gesellschaft betraf. Es gibt viele Gymnasiasten, die gegen die Besatzung sind, viele Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, die sich mit mutigen Aktionen für den Frieden einsetzen. Peace Now wurde hingegen durch die Haltung der Arbeiterpartei sehr geschwächt. Wenn der internationale Druck und die Solidarität mit der Friedensbewegung in Israel wachsen, würde sich das positiv auf die Kraft und das Wachstum dieser Oppositionsbewegung auswirken. Bei der Verleihung des Erich-Mühsam-Preises in Lübeck habe ich in meiner Dankesrede gesagt, daß Solidarität mit den Palästinensern ein Imperativ ist, die Solidarität mit unseren Friedenskräften das Gebot der Stunde.

Frage: Ihnen ist selbst Antisemitismus und “jüdischer Selbsthaß” vorgeworfen worden. Beim “Sommergespräch der Grünen” in Wien vor zwei Jahren wurden Sie beinahe tätlich angegriffen. Wie gehen Sie damit um?

Felicia Langer: Diese Veranstaltung habe ich in meinem Buch “Brandherd Nahost oder die geduldete Heuchelei” beschrieben. Ich traf dort auf die israelitische Kultusgemeinde. Sie wollten die Veranstaltung sprengen. Das haben sie nicht geschafft. Aber sie haben es geschafft, daß eine Diskussion nicht zustande kam. Ich kann nur das wiederholen, was ich seit Jahren sage: Jede Kritik an Israel wegen Bruch des Völkerrechts wird von der israelischen Politik selbst als Antisemitismus definiert. Das ist Erpressung, um Kritiker mundtot zu machen. Es ist eine Methode, um freie Hand zu haben, weiterhin straffrei die Palästinenser zu unterdrücken. Auch die sogenannten Antideutschen vertreten eine solche Haltung. Das ist eine Strategie, die leider nicht unwirksam ist. Doch die Kritik am Bruch des Völkerrechts ist nicht nur eine solidarische Unterstützung für die Rechte der Palästinenser und der israelischen Friedensbewegung, sondern letztendlich auch eine Unterstützung für das israelische Volk, friedlich und sicher leben zu können.

Quelle: junge Welt vom 02.04.2005. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Veröffentlicht am

09. April 2005

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