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Die hundert Tage von Abu Mazen

Von Uri Avnery

Am nächsten Samstag sind es 100 Tage, dass Abu Mazen (Mahmud Abbas) das Amt des Präsidenten der Palästinensischen Nationalbehörde übernommen hat - und die Juden werden Pessach im Gedenken an den Auszug aus Ägypten, eine der großen Geschichten aus den Annalen der Menschheit, feiern.

Nach Exodus 5 (2.Mos.5) befahl der Pharao den Kindern Israels, Ziegel mit Häcksel zu produzieren, lieferte ihnen aber kein Häcksel. “Und die Kinder Israels kamen und schrieen zum Pharao: Warum verfährst du so mit deinen Knechten? Man gibt deinen Knechten kein Häcksel und dennoch sollen wir Ziegel machen.”

Abu Mazen könnte in dieselbe Klage einstimmen. Er ist aufgefordert worden, die Aufgabe zu erfüllen, die er auf sich genommen hat, und erhält nicht die geringste Unterstützung dazu. Wie sieht nach hundert Tagen die Bilanz von Abu Mazen aus?

In der positiven Spalte gibt es einige eindrucksvolle Errungenschaften. Als erstes allein die Existenz seines Regimes. Das ist schon ein bemerkenswerter Erfolg an sich, der ignoriert wird, weil man sich so daran gewöhnt hat. Der plötzliche (und noch immer nicht aufgeklärte) Tod von Yasser Arafat hätte ein Chaos verursachen können. Stattdessen gab es einen erstaunlich glatten Übergang zum nächsten Regime, und demokratische Wahlen fanden ohne gewalttätige Zwischenfälle statt. Sehr wenigen Völkern war dies nach dem Tod des Vaters der Nation gelungen. Dem ganzen palästinensischen Volk muss dies hoch angerechnet werden. Es begriff den Ernst der Stunde und wahrte die Einheit hinter dem Nachfolger.

Das zweite ist die Waffenruhe. Auch dies ist eine erstaunliche Leistung. Die bewaffneten palästinensischen Organisationen (“Widerstandsgruppen” oder “Terrororganisationen” je nach Geschmack) waren gegenüber Israel mit einer Feuerpause einverstanden ? trotz der Tatsache, dass Israel ihnen gegenüber nicht offiziell eine Feuerpause erklärte. Es stimmt, das inoffizielle Abkommen wurde hier und da verletzt, manchmal von den Israelis, manchmal von den Palästinensern. Doch im Großen und Ganzen wurde es viel mehr beachtet, als man hätte erwarten können.

Das ist nicht die Folge von Schwäche bewaffneter Organisationen. Im Gegenteil: es ist nur möglich, weil die Palästinenser ihre Selbstachtung wieder erlangt haben. In den vier Jahren der 2. Intifada zeigten Hundert und sogar Tausende von Kämpfern, dass sie bereit waren, ihr Leben zu opfern. Sie besitzen improvisierte Waffen wie Mörsergranaten und Kassam-Raketen, auf die Israel noch keine Antwort gefunden hat. Unter diesen Umständen wird die Waffenruhe nicht demütigend empfunden. (Die israelische Seite beschuldigt die Organisationen, diese Pause zur Wiederbewaffnung zu nützen. Natürlich. Das gehört zu jeder vorläufigen Feuerpause. Beide Seiten benützen sie als Vorbereitung zur Wiederaufnahme des Kampfes.)

Drittens, die schließlich erreichte Einheit. Die Übereinkunft von Hamas, sich in die Palästinensische Behörde einzugliedern (und vielleicht auch in die PLO) und sich an den Wahlen zu beteiligen, ist ein sehr wichtiger Schritt. Die Entstehung eines nationalen Einvernehmens verheißt Gutes für den zukünftigen palästinensischen Staat ? besonders, da dies während eines intensiven nationalen Befreiungskampfes geschieht.

Viertens: die Veränderung der amerikanischen Haltung gegenüber dem palästinensischen Volk. Dies sollte vielleicht als erstes in der positiven Spalte stehen. Bis jetzt war die amerikanische Haltung gegenüber dem israelisch-palästinensischen Konflikt mindestens zu 100% zu Gunsten der Regierung Israels; jetzt gibt es eine Veränderung zu Gunsten der Palästinenser. Die amerikanische Unterstützung für die israelische Regierung ist auf 90%, vielleicht sogar auf 80% gesunken.

Abu Mazens Persönlichkeit ist ein beträchtlicher Teil dieser Errungenschaften zu verdanken. Yasser Arafat, der Führer des Befreiungskampfes, war eine kraftvolle, farbige, theatralische Persönlichkeit, die blinde Bewunderung und glühenden Hass hervorrief. Fast jeder in aller Welt kannte ihn als den Mann in Khaki-Uniform und mit der Keffijeh als Kopfbedeckung. Abu Mazen ist fast genau das Gegenteil: introvertiert, moderat, ohne auffallendes Gehabe. Als ich ihn vor etwa 22 Jahren in Tunis kennen lernte, trug er schon einen Anzug mit Krawatte. Er ruft keine Opposition hervor. Er kämpft für seine Überzeugungen ohne viel Aufhebens.

Vielleicht hängen die negativen Punkte Abu Mazens auch mit diesen Charakterzügen zusammen. Arafat war Befehlshaber. Abu Mazen ist Pädagoge. Doch auch Arafat war Übereinkunft lieber als Zwang. Das hängt mit einer alten arabischen Weisheit zusammen, dem Prinzip, das “Idschma” genannt wird. Die Diskussion geht so lange, bis ein Konsens mit jedem einzelnen Teilnehmer erreicht wird. Für Abu Mazen ist dies das Wichtigste.

Die ganze Welt verlangt, dass er “Reformen” durchführt. Es ist nicht ganz klar, was die Welt damit zu tun hat oder was es den Präsidenten der Vereinigten Staaten angeht, wie die Palästinenser ihre Angelegenheiten regeln und wie viele Sicherheitsdienste sie haben. (Arafat hatte absichtlich mehrere bewaffnete Dienste eingerichtet, um die Konzentration von bewaffneter Macht in den Händen einer Person zu verhindern, die versucht sein könnte, einen Staatsstreich auszuführen.)

Von Abu Mazen wird erwartet, die bewaffneten Organisationen in drei Diensten zu konsolidieren. Das ist auf dem Papier leicht getan, aber schwierig, in die Praxis umzusetzen. Es gibt viele Kommandeure, und die meisten haben Untergeordnete, die ihnen treu ergeben sind. Keiner sucht nach einer Gelegenheit, seinen Posten aufzugeben.

Auf jeden Fall ist es schwierig, die verlangten Reformen auszuführen. In jeder arabischen Gesellschaft - und besonders in der palästinensischen - spielt die Hamulah, die Sippe, eine große Rolle. Jeder Versuch, sie bei der Umsetzung der Reformen zu ignorieren, stößt auf starken Widerstand. Abu Mazen muss langsam und vorsichtig vorgehen, um einen Konsens zu erreichen. Das ist ein langer Prozess, der mehr auf Dauer angelegt ist, denn auf schnelle Resultate.
Aber das größte Versäumnis von Abu Mazen liegt in den Augen des Volkes auf nationaler Ebene: in den ersten hundert Tagen hat er nicht eine einzige bedeutsame Konzession erreicht, weder von Israel noch von den USA.

Bush will ihm wirklich helfen. Er lobt ihn öffentlich, weist Sharons Bemühungen, ihn herabzusetzen zurück, schickt ihm geachtete Botschafter. Aber nichts hat sich tatsächlich verändert: die israelische Besatzung ist nicht erträglicher geworden, die täglichen Demütigungen an den Kontrollpunkten gehen weiter und der Mauerbau auch. Kein einziger “Außenposten” ist abgebaut worden, die Siedlungen werden erweitert. Die israelische Armee benimmt sich in der Westbank, als wäre nichts geschehen; hier wird getötet, dort verhaftet. Es tut sich auch bei der Entlassung von Häftlingen kaum etwas. Die Israelis verhalten sich Palästinensern gegenüber im selben arroganten und demütigenden Ton wie Militärgouverneure gegenüber ihren Untertanen.

Wenn Bush über einen “Palästinensischen Staat mit vorläufigen Grenzen spricht”, versteht jeder Palästinenser, dass damit eine permanente Besatzung des größten Teils der Westbank gemeint ist. Sharons “Abzug” ist nach ihrem Verständnis ein Plan, der den Gazastreifen in ein großes Gefängnis verwandelt, der von der Welt und der Westbank abgeschnitten ist.

Früher oder später wird die palästinensische Öffentlichkeit Abu Mazen fragen: sind dies die Früchte der Waffenruhe? Ist das der Gegenwert amerikanischer Schuldscheine?

Man muss sich darüber keine Illusionen machen: genau das ist es, was Sharon sich erhofft. Für ihn stellt Bush?s Sympathie für Abu Mazen eine große Gefahr dar. Es passt ihm gar nicht, dass er die Gunst Amerikas mit einem palästinensischen Führer teilt. Jede Schwankung in Washingtons totaler Unterstützung für die israelische Regierung lässt in Jerusalem ein rotes Warnlicht aufleuchten.

Sharon ist aber zu klug, um Abu Mazen direkt anzugreifen. Das würde Bush wütend machen. Deshalb heißt es jetzt: Abu Mazen ist zwar eine gute Person, aber zu schwach. Sein Regime bricht zusammen. Er ist verloren.

Verschiedene Provokationen sind dafür bestimmt, gewalttätige Reaktionen hervorzurufen, um Abu Mazens Schwäche deutlich zu machen. Eine davon war die Ankündigung vom Bau 3500 neuer Wohneinheiten bei der Siedlung Maale Adumim. Dasselbe gilt auch für die Vorfälle, in der Palästinenser getötet wurden, ohne dass es jemand für notwendig hielt, die Verantwortlichen zu strafen oder sich für die Verletzung der Waffenruhe zu entschuldigen.

Im Augenblick ist es noch nicht gelungen. Bush braucht Abu Mazen nicht weniger, als Abu Mazen Bush benötigt. Der amerikanische Präsident muss seinem Volk beweisen, dass seine militärischen Abenteuer einen neuen, freien und demokratischen Nahen Osten geschaffen haben. Da die Situation im Irak sich in Ungewissheit hüllt, ist Abu Mazens demokratisches Regime das einzige Beispiel, dessen er sich rühmen könnte (auch wenn nicht klar ist, welche Rolle Bush darin spielte.) Abu Mazens Kollaps wäre für Bush ein großer Verlust.

Deshalb ist am 100. Tag von Abu Mazen die Bilanz unausgeglichen. Wie die Kinder Israels muss er Ziegel ohne Häcksel produzieren. Aber in der biblischen Geschichte gibt es ein Happy-End: Die Kinder Israels werden aus der Knechtschaft befreit. Auf die eine oder andere Weise wird dies auch den Palästinensern gelingen.

Quelle: www.uri-avnery.de vom 16.04.2005. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Veröffentlicht am

19. April 2005

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