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Nun sind die Augen frei

Gemeinsam leiden, gemeinsam erinnern: Zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Ravensbrück

Von Anja Tuckermann

In der vergangenen Woche reisten um die 2.000 ältere Menschen aus der ganzen Welt mit ihren Kindern, Enkelkindern oder Partnern nach Deutschland. Die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager in Bergen-Belsen, Ravensbrück und Sachsenhausen begingen den 60. Jahrestag der Befreiung auf dem Gelände der ehemaligen Lager. In Bergen-Belsen wurde der Grundstein für den Neubau eines Museums gelegt, in Ravensbrück fand eine viertägige Gedenkveranstaltung statt. Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück plant, zukünftig ihr Forschungsfeld zu erweitern und will sich auch mit den Lebensläufen und Nachlässen von ehemaligen Häftlingen beschäftigen.

Es sind Tage der Begegnung zwischen Jugendlichen und Überlebenden, aber auch die ehemaligen Häftlinge treffen hier wieder aufeinander. Ohne viel erklären zu müssen, tauschen sie sich aus, denn sie haben Ähnliches durchlitten. Fremde lernen sich kennen. Leidensgenossen erkennen sich wieder. Auch die Kinder der Überlebenden, die oft noch mit dem Trauma der Eltern zu kämpfen haben, finden hier zusammen. Manche Erinnerungen steigen erst jetzt wieder auf. Nun, da die meisten Überlebenden nicht mehr arbeiten müssen und ihre Kinder erwachsen sind, haben sie Zeit, sich den oft quälenden Erinnerungen zu stellen. Und sich an die Momente der Hoffnung zu erinnern, der Subversion und der Liebe.

Ein Beispiel ist “der Zettel” von Jona Oberski. Seine Kindheit verbrachte der Junge mit seinen Eltern im KZ Bergen-Belsen. Seit seinem vierten Lebensjahr lebte er mit seiner Mutter im Frauenlager, der Vater war im Männerlager. Einmal gelang es der Mutter mit viel Geschick und Bestechung, ihren Mann für eine Viertelstunde in einer Baracke zu treffen. Das nächste Mal sah der kleine Jona den Vater im Sterben. Kurz nach der Befreiung starb auch die Mutter, Jona Oberski wuchs bei Pflegeeltern in Amsterdam auf. Später schrieb er seine Erinnerungen nieder, konsequent aus der Kinderperspektive. Von seinen Eltern blieben ihm Fotos und eben der Zettel. Den hatte die Mutter an ihren Mann geschmuggelt, dieser hatte ihn mit einer Antwort versehen zurückgesandt. Der Sohn fand ihn erst vor wenigen Tagen wieder. Zum Jahrestag wollte Jona Oberski allerdings nicht fahren.

Der 80-jährige Ad C. Hoogendoorn aus dem holländischen Haarlem dagegen ist in Ravensbrück dabei. Nach den Ansprachen sitzt er auf einer Bank und trinkt Wein. “Hier läuft viel Leid herum”, sagt er mit Blick auf die vielen alten Menschen um ihn herum, überwiegend Frauen. 132.000 Frauen, 20.000 Männer und 1.000 weibliche Jugendliche waren in Ravensbrück. Mehrere Zehntausend wurden ermordet. Ad Hoogendoorn selbst war nicht hier eingesperrt, er begleitet vielmehr die Überlebende Dunya Breur, die ebenfalls in Holland lebt. Ihr Vater wurde von Deutschen erschossen, ihre Mutter, die Malerin Aat Breur-Hibma, überlebte das KZ Ravensbrück krank und geschwächt.

Auch Hoogendoorns Vater wurde von den Deutschen erschossen. In seiner Druckerei in Haarlem hatte er heimlich Zeitschriften und Flugblätter für Widerstandsgruppen gedruckt und war verraten worden. Als die Männer der Gestapo ihn holen wollten, nahm der damals 16-jährige Ad einen großen Schraubenschlüssel und griff sie an, er wollte den Vater verteidigen. Deshalb nahm die Gestapo auch ihn mit. Im Gestapo-Gefängnis in Darmstadt arbeitete Ad in der Justizdruckerei. Er wurde oft verhört. Im Gefängnis durfte er sich Bücher ausleihen. Einmal gab der Bewacher ihm ein Buch, in dem in der Handschrift seines Vaters geschrieben stand: Ad, Mund zu. Mund halten.

Diese handschriftliche Bitte war das Letzte, was Ad von seinem Vater gesehen hat. Und er hielt sich daran, er sagte nichts. Doch er betätigte sich als Kontaktmann, schmuggelte heimlich Botschaften für Gefangene. Bei Kriegsende war er, 21 Jahre alt, im Gestapo-Gefängnis in Gießen. Zurück in Haarlem dauerte es vier Jahre, bis er die konfiszierten Druckmaschinen zurückbekam und den Betrieb seines Vaters weiterführen konnte. Die Maschinen hatten in der Betriebsdruckerei von Volkswagen in Wolfsburg gestanden.

Eine Form des Widerstands war es, an den Phantasien, Träumen, der Kreativität und Hoffnung festzuhalten. Wer diese verlor, ging an den mörderischen Verhältnissen schneller zugrunde als die, die heimlich zeichneten, Tagebuch schrieben oder Verse dichteten, sie auswendig lernten, sangen oder sich gegenseitig schenkten.

Wie beispielsweise die Tschechin Vera Hozáková. Die junge Architekturstudentin wurde verhaftet, weil sie als Kommunistin gegen die deutsche Besatzung kämpfte, und im Januar 1942 nach Ravensbrück deportiert. Dort wurde sie zu verschiedenen, auch körperlich schweren Arbeiten gezwungen, ab Herbst 1943 arbeitete sie dann als Zeichnerin in der Bauleitung der SS. Dadurch gelangte sie an Papier, seltenes und begehrtes Material im Lager.

Vlasta Kladivová, die entkräftet aus Auschwitz kam und mit Veras Hilfe Assistentin in der Bauleitung wurde, sammelte Gedichte und Widerstandslieder, die in verschiedenen Sprachen im Lager kursierten. Zusammen schrieben die beiden Frauen sie auf und fügten sie zu einem Buch mit dem Titel Evropa v boji - Europa im Kampf zusammen. Auch Vera Hozáková begann, eigene Texte zu schreiben. “Ich war keine Dichterin”, sagt die heute 87-Jährige, “ich habe es Forschungen genannt.” Die erste “Forschung” schrieb sie zum Geburtstag ihrer Freundin Katrin, “ein geschwächtes und ausgehungertes Figürchen in Lumpen”, um sie von den Qualen der schweren Arbeit abzulenken.

Das Buch übergab Vlasta Kladivová in den neunziger Jahren der Literaturwissenschaftlerin Constanze Jaiser, die über die in den Konzentrationslagern entstandene Lyrik forschte. Sie konnte es zusammen mit Jacob Pampuch und mit Hilfe von Spenden als Faksimile zum 60. Jahrestag der Befreiung herausgeben und vorstellen. Auch Ad C. Hoogendoorn, der der Herausgeberin im Jahr zuvor begegnet war, hat seinen Anteil daran: Anstelle von Geschenken bat er zu seinem 80. Geburtstag um Spenden für das Buch.

Und dann steht plötzlich der Sohn des damaligen SS-Bauingenieurs vor Vera Hozáková. Er war sechs Jahre alt, als er mit Mutter und Schwester nach Ravensbrück zog, und er verbrachte dort schöne Kinderjahre. An die zehn Häftlingsfrauen kamen täglich zu ihnen mit, um bei der Mutter im Haushalt und im Büro zu arbeiten. Schon als Kind wusste er, dass es sich um Gefangene handelte. Er erinnert sich daran, dass die Frauen sich und ihre Wäsche im Hause wuschen. Und wie weit er zum Spielen gehen durfte. Er sah Häftlingen beim Entladen von Zügen zu und Neuankömmlinge ins Lager marschieren. Einmal wurde ein Häftling aus dem Lager abkommandiert, um mit ihm Frösche zu fangen. Spricht er über seinen Vater, ist er hin- und hergerissen. Dieser habe gewusst, was im Lager vorgehe. Zur SS sei er gegangen, um die Existenz seiner Familie zu sichern. Das, sagt Vera Hozáková, habe der Bauingenieur damals auch ihnen erzählt. Mit seinem Eintritt in die SS habe er etwas anderes erhofft und sei dann enttäuscht “über die Machart” des Ganzen gewesen. Ein Mittäter und Verbrecher? Oder ein “guter Mensch”, der sich in eine verbrecherische Organisation verirrt hatte? Der Sohn will sich nicht festlegen. Er hat begonnen, über den Vater zu forschen. Einen Befehlsnotstand, habe der Vater ihm einmal gesagt, habe es nicht gegeben, er habe nicht mitmachen müssen.

Vera Hozáková ihrerseits blickt verwirrt auf das Foto, das ihm der Sohn bei ihrer Begegnung überlassen hat: Zwei fröhliche Kinder vor der Lagermauer, hinter der sie mit tausenden Anderen litt, Kindern, die nur mit Mühe und Not am Leben blieben. Was soll sie damit anfangen?

Während der Buchvorstellung bittet eine alte Frau darum, ein Gedicht vortragen zu dürfen, das sie im Lager geschrieben hat. Marija Petrovna aus einem Dorf in der Nähe von Kiew singt auf russisch und mit getragener hoher Stimme das herzzerreißende Lied an die Mama. Es handelt davon, wie sie als Kind im Lager geschlagen wurde und lieber durch deutsche Bomben hatte sterben wollen als dort zu bleiben. Sie weint beim Singen und fast das gesamte Publikum weint mit ihr. Und dann erzählt Marija, dass ihre Mutter schon tot war, als sie nach der Befreiung mit nur noch 38 Kilo Gewicht in die Ukraine zurückkehrte.

Im Lager entstanden aber noch andere Bücher. Etwa zehn Frauen, darunter Anja Lundholm, die später Schriftstellerin wurde, und die Wienerin Sonja Fritz, schrieben ein Kochbuch. Wie alle im Lager hungerten sie ständig. Abends saßen sie in der Baracke eng zusammen auf der obersten Etage und träumten von Mahlzeiten, die sie seit Jahren nicht mehr gegessen hatten. Die 88-jährige Anja Lundholm erinnert sich: “Eine sagte: Weißt du noch, wie das geschmeckt hat? Oh ja, sagte eine andere. Wir haben es mit Salz und Pfeffer gemacht.” So sprachen sie über die verschiedenen Arten der Zubereitung, kochten und aßen in Gedanken. Malten sich alles so genau aus, dass sie die Zutaten schmecken konnten. “Jede Nation hat etwas dazu gesagt, alle haben ein bisschen anders gekocht. Wir hatten furchtbaren Hunger, und das beruhigte sehr. Wir wurden von der Vorstellung satt.”

Die Rezepte schrieben sie in einem Kochbuch zusammen, manchmal voller Galgenhumor. Die “Ravensbrücker Mörderkugeln” zum Beispiel sind Kugeln aus Haferflocken, Butter, Zucker und Alkohol, in Kakaopulver und Mandeln oder Nüssen gerollt.

“Beim 70. Jahrestag werden wir nicht mehr hier sein”, sagt eine polnische Überlebende. Sie war schon zum 25. und zum 50. Jahrestag der Befreiung nach Ravensbrück gereist. Für sie ist es kein Gang zurück, “die Augen sind anders, sie sind frei.” In ihrem Bericht Und es war doch… schreibt Vera Hozáková: “Vielleicht können wir unsere Kinder aufrütteln, dieses kleine verborgene Fünkchen Güte im Herzen pflegen, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten und Lüge, Demagogie, Herdentrieb und kollektive Verantwortlichkeit abzulehnen.”

Zum Weiterlesen:

  • Constanze Jaiser, Jacob David Pampuch: EVROPA V BOJI. Europa im Kampf 1939 - 1944. Faksimile, Begleitbuch u. CD, Metropol Verlag.
  • Jona Oberski: Kinderjahre, Droemer.
  • Anja Lundholm: Das Höllentor, Rowohlt.
  • Vera Hozáková: Und es war doch…, Edition Hentrich.
  • In Vorbereitung: Anja Tuckermann: Denk nicht, wir bleiben hier. Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiter (Hanser).

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung , 16 vom 22.04.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Anja Tuckermann und Verlag.

Veröffentlicht am

25. April 2005

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