Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Same der Einheit und des Friedens in einer Situation tiefgreifender Umgestaltung

Hildegard Goss-Mayr 1 hat in einer Rede anlässlich der Feier des 50-jährigen Jubiläums der Schwesterngemeinschaft von Grandchamp 2 im Februar 2003 deutlich gemacht, dass und wie Spiritualität untrennbar zu einer Praxis des gewaltfreien Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden gehört. Wir dokumentieren hier diese Rede vom 09.02.2003.

Liebe Schwestern Pierrette, Siong und Minke, liebe Schwesterngemeinschaft,
liebe Gäste, Freunde und Freundinnen der Gemeinschaft von Grandchamp,

Es ist eine große Freude für mich, mit Euch allen diesen Festtag zu begehen, und eine Ehre, dass die Gemeinschaft mich eingeladen hat, gemeinsam über ihren spezifischen Auftrag in der Welt von heute und morgen nachzudenken. Ich nahm diese Einladung nur zögernd an, im Vertrauen auf das Licht Gottes, wie auf die lange Freundschaft, die uns verbindet und den Weg, den mein Mann Jean Goss und ich mit Euch zurücklegen durften. Euch allen wünsche ich den Frieden Christi!

Mit dem Feuer seiner Liebe ist der Heilige Geist in jeder Epoche der Geschichte schöpferisch am Werk, um unsere Welt neu zu gestalten. Er erweckt Frauen und Männer in der Menschheit und in besonderer Weise in der Kirche: Propheten, Zeugen, Gemeinschaften und Orden, um in Zeiten von Dunkelheit und Umbrüchen, von Leiden und Gewalt einen neuen Weg des Lebens aus der Tiefe und Radikalität des Evangeliums aufzutun.

Orden und religiöse Gemeinschaften waren und sind noch immer privilegierte Instrumente, um in der Geschichte Samen des Gottesreiches für die Durchgottung der Menschheit einzupflanzen. So haben z.B. Benedikt von Nursia und seine Ordensbrüder in der Zeit des Untergangs des Römischen Reiches und der antiken Kultur durch ihre Gemeinschaften in vielen Gebieten Europas den Weg für eine neue, auf christlichen Werten gründende Zivilisation geöffnet.

Franziskus von Assisi wurde in einer Zeit, da die Kirche Reichtum und politischem Machtstreben verfallen war, das Charisma gegeben, gemeinsam mit seinen Gemeinschaften von Brüdern und Schwestern eine breite Bewegung der Rückkehr zu den Grundhaltungen des Evangeliums, zu Armut und Gewaltfreiheit ins Leben zu rufen. Bis in unsere Tage prägt franziskanischer Geist viele Christen.

In den letzten Jahrhunderten hat der Geist Gottes Orden und Gemeinschaften dazu aufgerufen, auf das Elend der Bevölkerung in Europa wie in der Dritten Welt durch Gesundheitsdienste, befreiende Erziehung und Bildung, durch Schulung in Gewaltfreiheit und durch Friedensdienste zu antworten.

Und wenn wir heute den 50. Jahrestag seit den ersten Gelübden der Schwestern von Grandchamp feiern, so deshalb, um für das zu danken, was der Heilige Geist durch sie den Reformierten Kirchen, der universellen Kirche und der Welt geschenkt hat: Same der Einheit und des Friedens zu sein. Die Gemeinschaft, die nach dem 2. Weltkrieg in der Zeit der Ost-West-Spaltung, der massiven Remilitarisirung mit ABC-Waffen wie der Kämpfe um Entkolonialisierung gegründet wurde, fühlte sich zu einem Engagement für die Einheit der Christen und den Frieden in der Welt durch ein kontemplatives Leben berufen.

Die Berufung zu Einheit fand, um nur ein Beispiel zu erwähnen, sehr rasch konkreten Ausdruck, indem die Gemeinschaft eine Form des Ordenslebens aufbaute, die sich durch orthodoxe und katholische Traditionen bereichert. In der Zeit einer tiefen Spaltung Europas entwickelte sie Kontakte und ökumenische Dienste im Westen wie im Osten und pflegte diese mit großem Mut und mit Durchhaltekraft. Die Berufung zum Frieden fand prophetischen Ausdruck durch eine treue Gegenwart in Israel in jüdischem und in Algerien in muslimischem Umfeld und dies selbst in schwierigsten Situationen und zu einem Zeitpunkt, da inter-religiöse Kontakte zwischen Töchtern und Söhnen Abrahams noch sehr selten waren. Darüber hinaus wurde ihre offene Tür für Personen auf der Suche nach geistiger Erneuerung für die Gemeinschaft zu einer wichtigen Mission.

Eine Vision für die Gemeinschaft in der Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts?

Unsere Welt ist in eine neue Phase ihrer Existenz eingetreten: sie wird von einem einzigen System, dem liberalen Kapitalismus, beherrscht. Dieser ist auf Konsumismus, Konkurrenz und Herrschaft ausgerichtet und betreibt eine Globalisierung, die die Kluft zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, Starken und Schwachen vertieft und die Ressourcen der Erde so erbarmungslos ausbeutet, dass wir, wie der Theologe Jürgen Moltmann es ausdrückt, “vor dem ökologischen Tod der Erde und ihrer Bewohner” stehen. Dieses System zögert nicht, seine Herrschaftsansprüche mit Kriegen durchzusetzen, wie wir es in dramatischer Weise in der Demokratischen Republik Kongo, in Afghanistan, Tschetschenien oder im Irak erleben. Alles wird verkäuflich, selbst der Mensch. Forscher nehmen für sich das Recht in Anspruch, das Leben in seinen Anfängen, seinem Wachstum und seinem Ende zu manipulieren und zu kommerzialisieren.

Die Ideologie des “Besitzens” und “Beherrschens” durchdringt alle Ebenen des menschlichen Lebens bis zu den intimsten Beziehungen. Durch einen extremen Individualismus isoliert und entwurzelt sie die Menschen, ent-menschlicht, lähmt durch Angst und raubt dem Leben seinen Sinn. Es handelt sich um eine neue Form der Armut, des Leidens und der Hoffnungslosigkeit, die vor allem in den reichen Ländern der nördlichen Hemisphäre aufbricht.

Ich frage mich: ist diese Form der Globalisierung nicht das extreme Gegenteil des Projektes der Menschheits-Familie, in der sich Personen, Rassen, Nationen, Kulturen und Religionen durch Liebe in Würde und Solidarität, in Achtung und durch Teilen zusammenfinden? Ist sie das entstellte, diabolische Antlitz der Einheit und Einigkeit aller Menschen, die alle zutiefst erstreben und in welcher wir Christen, die wir uns als Ebenbild des dreifaltigen Gottes erschaffen wissen, unser Vorbild, unsere Orientierung und unser endgültiges Ziel finden?

Doch unser Lebendiger Gott, der unablässig schöpferisch an der Einheit der gesamten Schöpfung in Gerechtigkeit, Liebe und Frieden wirkt, ist auch in dieser tod-bringenden Situation am Werk. Um nur ein einziges Beispiel anzuführen: zu dem Zeitpunkt, da ich diesen Text, bedroht vom Ausbruch des Krieges im Irak, schreibe, erheben sich durch Seinen Geist im Welt-Sozial-Forum in Brasilien Hunderttausende gegen diesen Krieg und diese Form der Globalisierung. Die Teilnehmer des Forums arbeiten daran, ein umfassendes Netz reeller und bereits konkreter Alternativen mit dem Ziel einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz - einer gerechten, solidarischen und friedenschaffenden Globalisierung - zu knüpfen.

Wenngleich diese engagierten Gruppen, Experten und Politiker, bloß eine Minderheit darstellen, die bemüht ist, ein gemeinsames umfassendes Projekt zu erarbeiten, das den Erwartungen der Mehrheit der Menschen entspricht, wenngleich die Verantwortlichen des vorherrschenden Systems sie als gefährliche Utopisten betrachten, so erkennen wir dennoch im Welt-Sozial-Forum eine Piste, die zu der in unserem Jahrhundert unausweichlichen Globalisierung führt, doch - alternativ - das Wohl jedes Einzelnen und der Menschheitsfamilie in den Mittelpunkt stellt.

Hier stehen wir vor der Herausforderung zu einer tiefgreifenden, man könnte sagen revolutionären (revolvere) Umgestaltung. Die Ursache jeder Revolution ist ein gerechtes Anliegen. Es geht darum, schwere Verletzungen menschlicher Grundrechte zu überwinden. Aus der europäischen Geschichte wissen wir jedoch sehr wohl, dass das Risiko besteht, dass sie misslingt, zu Verzweiflung oder zu dem alten, tödlichen Weg eines gewaltsamen Aufstandes oder des Terrorismus führt. Deshalb ist es unerlässlich, mit Entschiedenheit darauf zu bestehen und deutlich zu machen, dass es zu aller erst um einen Kampf auf der Ebene des Gewissens geht, um eine tiefschürfende Meinungsbildung gegenüber der vorherrschenden Ideologie. Man muss erkennen, dass dieser Kampf um Leben in Würde weder durch Gewalt noch durch aufgezwungene Macht gewonnen werden kann, sondern nur durch einen Prozess, der auf der fundamentalen Bewusstwerdung der Werte des Menschen und der echten Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft aufbaut. Er kann nur mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden, die in sich die angestrebten Werte tragen, d.h. durch Mittel der Gewaltfreiheit.

Wer könnte die geistigen Kräfte mobilisieren und stützen, die notwendig sind, um dieses Ringen um globale Umgestaltung durch die Kraft der Gewaltfreiheit zu führen? Welche Rolle und Verantwortung kommt den Kontemplativen in dieser entscheidenden Situation der Welt zu?

Diese Frage ist es, die uns heute, da wir die Ereignisse feiern, die der Geist des Lebendigen Gottes durch Eure Gemeinschaft während der letzten 50 Jahre bewirkte, gestellt ist. Wir wollen unsere Augen und unser Herz den heutigen Herausforderungen öffnen.

Schwester Pierrette ersuchte mich, mit Euch über diese Herausforderungen nachzudenken. Ich werde versuchen, einige Leitlinien aufzuzeigen, indem ich mit dem weltweiten Kampf beginne und anschließend auf die intime, spirituelle Inspiration von Gemeinschaft von Grandchamp “Same der Einheit und des Friedens” zu sprechen komme. Für mich sind beide untrennbar miteinander verbunden.

1) Die Gemeinschaft von Grandchamp spiritueller Pfeiler im Ringen um die Umgestaltung der Welt

Um globale, regionale und lokale Umgestaltung unterstützen zu können, ist erste Voraussetzung, dass wir die Probleme in ihrer Komplexität und ihrem Gewaltpotential kennen. Um sie in unserem Denken, Beten und Fasten tragen und unterstützen zu können, müssen wir informiert sein, d.h. wir müssen die Erniedrigungen und Leiden der Opfer wie ihre Erwartungen, die Struktur der Gewalt und die Motive der Täter kennen. Deshalb ist es wesentlich, die gute Tradition Eurer Gemeinschaft fortzusetzen, Zeugen der verschiedenen Engagements einzuladen und ihnen mit Verstand und Herz zuzuhören. Denn es geht dabei um einen Austausch und um komplementäre Hilfeleistung: die Zeugen nähren Euer Gebet und sie erhalten von Euch Bestätigung und Ermutigung für ihren gewaltfreien Einsatz, der oft sehr fordernd und leiderfüllt ist. Eure Solidarität durch geistige Unterstützung des Ringens stärkt ihre Durchhaltekraft. Ihr Kampf und der Eure zur Überwindung von Unrecht ist ein und derselbe, ist untrennbar verbunden, ist eine Einheit.

Ein Beispiel soll diese Solidarität beleuchten: jedes Mal, wenn Jean Goss und ich in einer konfliktiven Region arbeiteten, um eine friedliche Lösung voranzubringen, begleitete uns die Gemeinschaft mit ihrem Gebet. - Einmal, zur Zeit der Militärdiktatur in Brasilien (1975), wurde ich, zusammen mit Adolfo P. Esquivel und dem Rechtsanwalt Mario de Jesus, verhaftet, in ein Folterzentrum gebracht und erst durch die Intervention von Kardinal Evaristo Arns freigesetzt. Wenige Monate später lud mich die gewaltfreie Bewegung Brasiliens erneut zur Teilnahme an ihrem nationalen Treffen ein, um so internationalen Schutz zu erhalten. Um die Geheimpolizei von Sao Paulo zu umgehen, reiste ich über das 2.000 km nördlich gelegene Recife ein. Doch beim Anflug auf Recife packte mich die Angst. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich fürchtete, am Flugplatz verhaftet und gefoltert zu werden. Doch plötzlich erinnerte ich mich an die Schwestern von der Gemeinschaft von Grandchamp und andere, die für mich beteten, mich begleiteten. Ich war nicht allein. Ich dachte auch an meine brasilianischen Freunde, die wegen ihres Engagements für Gerechtigkeit täglich unter dieser Bedrohung leben müssen.Langsam kehrte die Ruhe zurück. Als das Flugzeug landete, war ich sicher, dass meine Entscheidung, zu diesem Zeitpunkt des Leidens und der Verfolgung meinen Freunden zur Seite zu stehen, richtig war. In meinem Herzen war ich dankbar, eine so konkrete Erfahrung der “Gemeinschaft der Heiligen”, d.h. jener, die versuchen, dem Evangelium getreu zu leben, machen zu dürfen.

Damit wir uns auf diese Weise den Kräften und Mächten des Egoismus, der Herrschaft und jeglicher Form von Gewalt entgegenstellen können, muss unser Gottesbild sich immer weiter öffnen, um auf Seine unauslotbare Liebe zu stoßen, die jeden Menschen und die ganze Schöpfung bewohnt und umhüllt. Wir müssen diese Liebe neu entdecken und ihr im Gewissen der Friedensarbeiter, aber auch in jenem derer, die verschlossen und ent-menschlicht sind, zum Durchbruch verhelfen. Fest und unerschütterlich müssen wir an Seine Gegenwart glauben, an Seine befreiende Kraft der Gewaltfreiheit. Über Kreuz und Selbsthingabe führt sie zur Freude der Erlösung und Befreiung, zu größerer Gerechtigkeit und öffnet die Möglichkeit für Versöhnung und Frieden.

Immer wieder sollte Eure Gemeinschaft gemeinsam mit den Zeugen dafür danken berufen zu sein, an dem großen Projekt der Heilung und Durchgottung der Welt teilhaben zu dürfen und miteinander diese Freude feiern.

2) Die Gemeinschaft von Grandchamp engagiert für die Begegnung der Religionen

Wie nie zuvor begegnen sich die Völker der Welt in Europa durch Medien und Tourismus, doch vor allem durch die Migrationsströme. Diejenigen, die bei uns eintreffen, bringen ihre Kultur, ihre Religion, ihren Glauben mit sich. Während der letzten Jahre mussten wir mit Betroffenheit feststellen, dass Religionen in skandalöser Weise für politische Interessen eingespannt, ja, zu Hass, Terrorismus, Rache und zum Kriegführen missbraucht wurden. Und dies wird fortgesetzt. Doch wir sind überzeugt, dass die Religionen die Berufung - und dank des ihnen innewohnenden Geistes Gottes - die Kraft besitzen, eine bedeutsame Rolle zur Aufrichtung von Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Frieden in der Welt zu übernehmen.

Die Gemeinschaft von Grandchamp hat im Laufe ihrer Geschichte die Berufung zur Einheit in prophetischer Weise nicht nur unter den christlichen Kirchen bezeugt, sondern auch gegenüber den Glaubenden der drei großen Religionen des Buches durch ihre Gegenwart in Israel unter Juden und in Algerien unter muslimischen Menschen.

Schon lange seid Ihr den tiefen Banden zwischen dem Ersten Testament und dem Evangelium nachgegangen. Ihr habt auch die Verantwortung auf Euch genommen, unsere Schuld als Christen für Anti-Judaismus und Anti-Semitismus vor den Lebendigen Gott zu tragen. In Eurem Herzen und Gebet tragt Ihr den schmerzlichen Konflikt Palästinas und unterstützt so das Ringen um Frieden in Gerechtigkeit für alle ohne Ausnahme in dieser Region.

Betrachten wir jedoch die politische Konstellation unserer Epoche, so werden wir uns der unausweichlichen Notwendigkeit der Begegnung der Christen Europas mit dem Islam bewusst. Die Qualität dieser Begegnung, auf höchster Ebene wie an der Basis, könnte ein entscheidender Faktor auf dem Weg zu einer Situation gegenseitiger Achtung und Toleranz sein. Sie kann das Suchen nach gemeinsamen Werten erleichtern, sowie eine Integration dieses Prozesses in die demokratischen Konzepte Europas. Wir müssen die alten geschichtlichen Vorurteile überwinden und einen “Schock der Kulturen” vermeiden, der durch Missachtung, Hass, Gewalt, Terrorismus oder Krieg geprägt und fähig ist, ganze Regionen der Welt zu destabilisieren.

Es scheint mir von größter Bedeutung, dass kontemplative Gemeinschaften sich dieser Herausforderung bewusst werden und dieses spirituelle Ringen auf sich nehmen, um - mit der Kraft Gottes - beizutragen, dass die Begegnung der Töchter und Söhne Abrahams zu einer Quelle des Verstehens wie des religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Friedens werde. Wir könnten so durch unseren Glauben an den Einen Gott, den wir anbeten, gemeinsam angesichts des todbringenden Materialismus für die Achtung, die Werte und die wirklichen sozialen Bedürfnisse der Menschen eintreten.

Um diese Mission aufnehmen zu können, ist es notwendig, sich besser kennen zu lernen. Eure Gemeinschaft sollte deshalb muslimische Theologen und Theologinnen und islamische Friedenszeugen einladen und, auf der Basis Eurer Erfahrungen in Algerien, zuhören, lernen und austauschen. Unser barmherziger Gott wird Eure Bemühungen sehen und auf Eure Gebete hören. Er wird daraus eine Kraft der Wahrheit machen, die hilfreich ist, um Ängste und Vorurteile zu überwinden und fähig, den Weg für ein gemeinsames Leben zu öffnen, das die Unterschiede achtet und sich an der Schönheit des Glaubens der Anderen freut.

3) Die Gemeinschaft von Grandchamp: eine multi-kulturelle Gemeinschaft

Das Bemühen um eine Begegnung mit dem Islam öffnet notwendiger Weise die sehr komplexe Dimension der Begegnung der Kulturen. Einerseits ist die Kultur einer der wesentlichsten Faktoren des persönlichen und sozialen Lebens, der Identität, Sinn der eigenen Tradition, Sicherheit, Geborgenheit und den Reichtum schöpferischen Ausdrucks begründet. Andererseits birgt sie in sich die Gefahr, sich anderen gegenüber zu verschließen, die Gefahr von Überheblichkeit, Verachtung, Diskriminierung, des Ethnismus und Rassismus sowie des Nationalismus.

Eure Gemeinschaft hat bereits eine leidvolle und doch einzigartig befreiende Erfahrung durch den Versöhnungsweg innerhalb der Gemeinschaft zwischen Schwestern gemacht, die auf den beiden verfeindeten Seiten Hitlers Regime und den 2. Weltkrieg erlebten. Jetzt ist sie zu einem neuen Schritt aufgerufen: durch die Gegenwart von Schwestern aus Asien und Afrika Laboratorium einer multi-kulturellen Gemeinschaft zu sein mit dem Ziel, fähig zu werden, die Schönheit und den Reichtum von Einigkeit in Verschiedenheit zum Ausdruck zu bringen. Es ist eine prophetische Aufgabe, diese Erfahrung in vollem Bewusstsein der unvermeidlichen Auseinandersetzungen, Missverständnisse und Verletzungen aus dem Geist und mit den Mitteln der Gewaltfreiheit anzugehen und umzusetzen. Eure Erfahrung könnte ein Modell für zivile Gruppen unserer Gesellschaft sein, auf das sie in ihrem Bemühen um Aufarbeitung der inter-kulturellen Spannungen zurückgreifen können. Ein Austausch über Eure Erfahrungen, Eure Schwierigkeiten und Erfolge wird für sie wertvoll sein.

Unser Glaube, von dem Drei-Faltigen Gott erschaffen zu sein, d.h. von einem Gott der Gemeinschaft göttlicher Liebe, der Eins in Verschiedenheit ist, öffnet für uns den Weg, der zu beschreiten ist, eröffnet Sicht und Perspektive von Reichtum, Kreativität und Schönheit, die aus versöhnter Verschiedenheit erwachsen können.

4) Eine Gemeinschaft der Offenen Türe

Wir haben gesehen, dass wir in einem weltumspannenden System von Egoismus, Profitgier und Gewalt leben, das verwundet, ausschließt, erniedrigt, psychische Schäden anrichtet, das die Verwurzelung in der Familie und im Leben aushöhlt und diesem selbst seinen Sinn raubt. Diejenigen aufzunehmen und zu begleiten, die eine Zeit der Reflexion, einen Heilungsweg oder einen neuen Schritt in ihrem Leben suchen oder aber Gruppen Raum zu geben, die Alternativen für eine geschwisterliche Welt zu entfalten trachten, wird stets eine prioritäre Verantwortung und Euer spezielles Charisma bleiben. Viele von uns, die wir uns zu dieser Festfeier versammelt haben, wurden von Euch durch diesen belebenden Dienst bereichert. Im Namen aller, möchte ich Euch dafür danken!

5) Eine Gemeinschaft, die unterwegs ist

Während 50 Jahren hattet Ihr die Chance, Schritt für Schritt, Euer, der Welt zugewandtes, gemeinschaftliches, monastisches und kontemplatives Leben zu gestalten. Es ist sehr verständlich, dass dieser Weg erfüllt war von Suchen, von Risiken und Konflikten. Für uns und für alle in verschiedenen Gebieten der Welt, die Euch kennen, ist es ein Zeichen evangelischer Authentizität und ein Appell, dass es Euch möglich war, diese Konflikte als Lebenszeichen zu erkennen, als einen Aufruf zum Voranschreiten und dass Ihr versucht habt, sie durch Fasten und Gebet, durch gewaltfreien Dialog, im Geist des Kreuzes und der Auferstehung, der Vergebung und der Versöhnung zu lösen.

Mein Wunsch für Euch zu dieser Festfeier lautet: bleibt unterwegs, nehmt Konflikte als Zeichen der Jugend und des Lebens an. Möge die Jugend Gottes, d.h. Seine schöpferische Liebe Euch immer erfüllen. Möge der Geist des Lebendigen Gottes fortfahren, Eure Gemeinschaft zu führen. Möge Euer Herz stets weit offen bleiben, um die Welt mit ihren Leiden, ihren Kämpfen und Hoffnungen zu tragen. Möge die Gegenwart Christi am Tisch der Eucharistie, der die gesamte Menschheit mit Euch zusammenführt, in Eurem Herzen immer neu Lob, Dank, Freude und Frieden aufbrechen lassen: denn Er hat Euch dazu berufen, an der Erlösung, der Befreiung und der Durchgottung der Welt teilzuhaben.
Dank für das, was Ihr seid, Dank dafür, dass Ihr den Aufruf Gottes angenommen habt!

Übersetzung aus dem Französischen: Hildegard Goss-Mayr

Wir danken Hildegard Goss-Mayr, dass sie uns ihr Vortragsmanuskript freundlicherweise für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Anmerkungen der Redaktion:

1 Dr. Hildegard Goss-Mayr, geb. am 22. Januar 1930 in Wien, ist eine der profiliertesten Persönlichkeiten der christlichen Friedensbewegung. Seit den 50er Jahren setzt sie sich sowohl in zahlreichen Publikationen als auch in ihrer praktischen Friedensarbeit für eine Kultur der Gewaltfreiheit ein. Gemeinsam mit ihrem 1991 verstorbenen Mann Jean Goss hat sie im unermüdlichen Einsatz in vielen Krisengebieten die Menschen mit Spiritualität und Praxis des gewaltfreien Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden vertraut gemacht. Stationen Ihrer Arbeit waren u.a. Brasilien, Mexiko, Mosambik, Angola, Libanon, Israel, Philippinen, Rumänien und Rwanda. Von 1966 bis 1985 war Hildegard Goss-Mayr die Vizepräsidentin des Internationalen Versöhnungsbundes . Seit 1985 ist sie Ehrenpräsidentin der Organisation. Sie veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu den Themen Gewaltfreiheit, Frieden und Versöhnung. 1996 erschien ihre Autobiografie mit dem Titel “Wie Feinde Freunde werden” mit einem Geleitwort von Kardinal Franz König. Die überzeugte Katholikin wurde bereits zwei Mal für den Friedens-Nobelpreis nominiert. Ihr Engagement wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, unter anderem erhielt sie 1979 den Preis der “Bruno-Kreisky-Stiftung für Verdienste um die Menschenrechte” und 1991 wurde sie mit dem Niwano-Friedenspreis ausgezeichnet.

2 In den dreißiger Jahren entdeckten einige Frauen aus der Reformierten Kirche in der französischen Schweiz von neuem, wie wichtig die Stille für ihr Glaubensleben ist. Sie bereiteten geistliche Retraiten vor, die in einem Haus in Grandchamp/Neuenburg stattfanden. Aus diesem Mutterboden ist die Communauté de Grandchamp hervorgegangen. Von grundlegender Bedeutung waren für die ersten Schwestern bei ihrer Suche nach einem gemeinsamen und vom Geist Gottes geleiteten Leben die Meditation des biblischen Wortes sowie das aufmerksame Hören auf die Tradition der Kirche. Im Jahr 1952 entschieden sich die ersten Schwestern für ein Engagement auf Lebenszeit. Kurz darauf übernahmen sie die Regel und die Gebetsordnung von Taizé als Grundlage ihres gemeinsamen Lebens und ihrer Liturgie.
Heute zählt die Gemeinschaft von Grandchamp rund sechzig Schwestern. Die Mehrheit von ihnen sind Schweizerinnen, die andern kommen aus verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Afrikas. Von den Schwestern befinden sich etwa 40 in Grandchamp, zehn betreuen das Retraitenhaus Sonnenhof in Gelterkinden, Kanton Basel-Land. Die übrigen Schwestern leben in kleinen Niederlassungen in Israel, Algerien und den Niederlanden.
Am 9. Februar 2003 feierte die Schwestergemeinschaft ihr 50-jähriges Jubiläum. Hildegard Goss-Mayr hat dabei die eindrückliche Rede mit dem Titel “Samen der Einheit und des Friedens in einer Welt in tiefgreifendem Wandel” gehalten.

Veröffentlicht am

28. April 2005

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