Im Toten WinkelVernichtungskrieg: Auf zahlreichen Fotografien hat der Schriftsteller Armin T. Wegner den Völkermord an den Armeniern vor 90 Jahren dokumentiertVon Ralf Hanselle Ein Völkermord lässt sich nicht fotografieren. Bilddokumente, ob einzeln oder im Zusammenhang umfangreicher Alben, mögen fragmentarische Eindrücke menschlicher Gräueltaten überliefern. Das ganze Ausmaß von Leid und Vernichtung aber bleibt für die Kamera unsichtbar. Das, was Menschen einander antun können, ist zu vielschichtig, als dass ein Foto alle Facetten des Entsetzens festhalten könnte. Der Holocaust etwa, in Struktur und Ausmaß noch heute Synonym für den Genozid schlechthin, lässt sich in seiner ganzen Bedeutung bildlich nicht verdichten. Weder das von der SS angefertigte sogenannte Auschwitz-Album noch die Bildberichte des “Stroop-Reports” von der Liquidation des Warschauer Ghettos haben je den Völkermord an den europäischen Juden in seiner ganzen Dimension darstellen können. Ähnlich verhält es sich mit der Vernichtung der Armenier während des Ersten Weltkrieges. Zwar gibt es auch hier Fotografien, die Zeugnis vom Morden, Brandschatzen und Peinigen ablegen; der vorgeschaltete bürokratische Apparat, die Strukturen und das Denken des Völkernords aber bleiben unsichtbar. Ein abstrakter, arbeitsteiliger Prozess lässt sich allenfalls in Metaphern, kaum aber mit Dokumenten darstellen. Im Gegensatz zum Holocaust sind die fotografischen Zeugnisse am Völkermord an den Armeniern jedoch bis heute rar. Weder sind umfangreiche Alben mit den Zeichen der Tat überliefert, noch gibt es, wie etwa im Fall von Auschwitz, Luftaufnahmen, die von der Organisation des Verbrechens Zeugnis ablegen könnten. Derjenige, der der Geschichtsforschung am meisten Bildbeweise an die Hand gegeben hat, ist der deutsche Schriftsteller Armin T. Wegner. 1914 zum Militärdienst eingezogen, diente er zunächst in der Sanitätsmission von Trütschlers, ab 1916 in der 6. Türkischen Armee unter Feldmarschall von der Goltz. In dieser Zeit wurde er nicht nur Zeuge der im April 1915 einsetzenden geplanten Vernichtungspolitik gegenüber den Armeniern im Osmanischen Reich, er zeigte auch den Mut, diese zu dokumentieren. Obwohl von der deutschen als auch von der türkischen Propaganda strengstens verboten, machte Wegner Fotografien von Flüchtlingslagern und Todesmärschen, von Hungernden und Sterbenden. Viele dieser Aufnahmen schickte er bald darauf mit Hilfe von ausländischen Diplomaten ins Deutsche Reich und in die USA. Als er schließlich wegen einer Krankheit Kleinasien gegen Ende des Jahres 1916 verlässt, schmuggelt er zahlreiche weitere Fotografien und Dokumente des Genozids in seinem Gürtel versteckt nach Deutschland. Wegners Bilder sind En-face-Aufnahmen der Vernichtung. Hundertfach zeigt er das, was die Regierenden in Berlin und dem damaligen Konstantinopel vor der Öffentlichkeit verbergen wollten: Im Toten Winkel des Osmanischen Reichs wurden die Armenier Opfer einer gezielten Ausrottungspolitik. Die Hungernden und Toten auf Wegners Bildern tragen keine Uniform, sondern sind offensichtlich als Zivilisten zu erkennen. Hier stehen keine gebrochenen Leiber aus gegnerischen Armeen einer vermeintlichen Heldengalerie eigener Soldaten gegenüber. Hier sterben Greise, Frauen und Kinder. Mal ist es ein toter Kinderkörper vor der Schwelle eines vermutlich ausgeplünderten Hauses, mal sind es zwei Frauenleichen, die an einem schnell zusammengenagelten Galgenbaum hängen. Hier die am Wegesrand zurückgelassenen ausgemergelten Körper, dort die Flüchtlingscamps mit den dem Tod geweihten Menschen. Armin T. Wegner macht das sichtbar, was lange Zeit keinen Platz in der bildlichen Darstellung des Krieges hatte: Den Mord an Zivilisten. Denn ähnlich wie auf dem klassischen Schlachtengemälde gaukelte auch die Kriegsfotografie lange Jahre eine Legende vom sauberen Kampf vor. Seit den ersten technischen Bildern vom amerikanisch-texanischen Krieg (1846-48) kämpfte auf der Fotografie Mann gegen Mann, war die Schlacht eine geordnete Sache. Ob im amerikanischen Bürgerkrieg oder auf Roger Fentons und Felice Beatos Aufnahmen vom Krimkrieg: Stets war der Tod im Feld etwas, was sich ausschließlich an geometrischen Frontverläufen ereignete und an der Zahl gefallener Soldaten exakt berechnen ließ. Der Erste Weltkrieg aber macht Schluss mit dieser Illusion. Zwar fixiert sich die Erinnerung nach 1918 zunächst auf die Kampfhandlungen an der Westfront und somit auf den Stellungskrieg im Schützengraben. Immer wieder aber tauchen auch Fotografien aus Ost- und Südosteuropa auf, die einen vollkommen anderen Krieg beschreiben. Hier sieht man unbewaffnete Frauen, Männer und Kinder, die zusammengetrieben, erstochen, erschossen oder erhängt werden. Hier führen das Deutsche Reich und seine Verbündeten einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Unvorstellbar bestialisch etwa jene Ereignisse, die auf den Bildern des serbischen Fotografen S. Jovanovic’ ihren Niederschlag gefunden haben. Sie ereigneten sich 1914 im serbischen Grenzgebiet um Krivaja. Nach dem Abzug der k.u.k.-Truppen fanden sich hier die Leichen von erschossenen Familien, die bestialisch verstümmelten Körper von in Gruppen hingerichteten Bauern. Jovanovic’ dokumentiert einen Krieg, der lange Jahre in Vergessenheit geriet. Spätestens aber mit den Debatten um das mörderische Gebaren von Hitlers Wehrmacht wurde nicht nur der Vernichtungskrieg auf eine neue Weise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben. Auch die Vorgeschichte stand nun erneut auf der Tagesordnung. Das Niederbrennen von Ortschaften, die Plünderungen und Massenvergewaltigungen, die Vertreibung, Deportation und Vernichtung - all das fand seine Vorläufer auf zahlreichen Schauplätzen des Ersten Weltkriegs. So gesehen dokumentieren Armin T. Wegners Aufnahmen, die zumeist in der damals zum Osmanischen Reich gehörenden syrischen Wüste entstanden sind, keine Einzelfälle. Das unvorstellbare Ausmaß aber und der politische Wille, der hinter dem Genozid an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich standen, machen aus diesen Dokumenten Schätze von einmaligem Wert. Wegner, der aus seiner radikal pazifistischen Grundhaltung heraus stets auf der Seite der Opfer gestanden hat, ging es nicht um die Ästhetisierung des Leidens, sondern einzig um das Sammeln und Festhalten von Beweismitteln. Auf seinen Bildern sticht all das ins Auge, was das 20. Jahrhundert der Nachwelt seit langem ins fotografische Gedächtnis eingebrannt hat: Die unterlegenen Körper und die sprechenden Blicke, die Ordnung der Macht und die Ohnmacht des Individuums. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Bilder 90 Jahre nach dem Völkermord im türkisch-russischen Grenzgebiet noch immer nicht in einer Einzelpublikation veröffentlicht worden sind. Zwar ist 1997 anlässlich einer Ausstellung in Italien ein Katalog mit Wegners Bildern erschienen. In Deutschland aber wartet man auf ein solches Buch noch immer vergebens. Der Göttinger Wallstein-Verlag, Rechteinhaber an Wegners Werk, scheint auch dieses Gedenkjahr verstreichen lassen zu wollen, ohne dem Erbe seines Autors gerecht zu werden. 90 Jahre nach dem pantürkischen Weltanschuungskrieg der Regierung Talaat Pascha scheint man nicht nur am Bosporus zur schonungslosen Aufklärung dieses Genozids nicht bereit. Dabei zeigt gerade die Vergangenheits- und Erinnerungspolitik in der frühen Bundesrepublik, wie wichtig die Publikation dokumentarischer Fotografien zur Bewusstmachung von Menschheitsverbrechen sein kann. Bücher, wie Gerhard Schoenberners Der gelbe Stern haben vielleicht nicht die ganze historische Wahrheit zu Tage gefördert, aber vor ahistorischer Verlogenheit geschützt. Fotografien sind Anstöße zum Erinnern. Wer sie zurückhält, lässt die Opfer und ihre Nachkommen mit jenem Phänomen allein, das Armin T. Wegner aus eigener Erfahrung heraus einmal als “Sprachlosigkeit des Entsetzens” bezeichnet hat. Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 17 vom 29.04.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ralf Hanselle und Verlag. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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