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Richard Wagner und das Mahnmal

Von Uri Avnery, 21.5.05

Was soll man am “Herzl-Tag” machen, dem Geburtstag des Gründers der zionistischen Bewegung? Er wurde in dieser Woche das erste Mal offiziell gefeiert. Wie soll man das Gedenken dieses seltsamen Mannes ehren, der noch immer solch enormen Einfluss auf unser Leben hat?

An diesem Tag befand ich mich mit meiner Frau Rachel in Berlin. Ich schaute mir den Veranstaltungskalender der Stadt an und entdeckte die perfekte Antwort: an diesem Tage wurde in der Deutschen Staatsoper Richard Wagners Oper “Tannhäuser” aufgeführt.

Welche Verbindung kann es zwischen Wagner, dem antisemitischen Komponisten geben, dessen Werke in Israel bis auf den heutigen Tag nicht aufgeführt werden, und dem Mann, der offiziell als der “Prophet des Staates” bezeichnet wird?

In seiner Autobiographie erzählt Theodor Herzl, dass er unter dem Einfluss dieser Oper stand, während er “Der Judenstaat” schrieb - ein Buch, das die jüdische (und arabische) Geschichte veränderte. Während dieser Zeit in Paris ging er Abend für Abend in diese Oper. Wenn es keine Aufführung gab, sei er am nächsten Tage nicht in der Lage gewesen, am Text weiterzuarbeiten. Die Oper wirkte anscheinend wie eine berauschende Droge auf ihn.

Vier Stunden lang saß ich inmitten des deutschen Publikums - einige Besucher im vornehmen Anzug und in Abendkleidern, einige salopp gekleidet - und konzentrierte mich auf die Musik und die Worte - beide natürlich von Wagner - und versuchte zu verstehen, was genau solch großen Einfluss auf Herzl hatte und wie sie die Revolution bei ihm in Gang gebracht hatte.

Die Geschichte von Tannhäuser gründet sich auf verschiedene deutsche mittelalterliche Legenden. Tannhäuser selbst war eine historische Persönlichkeit: ein Minnesänger, der das Heilige Land mit dem 5. Kreuzzug (1228) erreichte. Nach seiner Rückkehr nahm er auf der Wartburg an einem Sängerwettstreit teil, der der Mittelpunkt der Oper ist. Er ist hin- und hergerissen zwischen Venus und Maria, zwischen weltlicher Liebe und christlicher Marienfrömmigkeit. Die Oper ist weit entfernt von germanisch-heidnischen Motiven, wie einige andere von Wagners Werken. Sie ist durchdrungen von frommen christlichen Gefühlen.

Was hat Herzl so angezogen? Die von Pathos durchtränkte Musik? Die dramatischen Gegenüberstellungen? Die germanische Mystik, die das ganze Werk durchdringt?

Herzl war ein großer Bewunderer des deutschen Kaiserreiches. Er war begeistert von deutscher Ordnung, der deutschen Armee, der deutschen Regierung. Man erinnere sich aber auch daran, dass dies das autoritäre, machtbesessene, kolonialistische Zweite Deutsche Reich war, das einige Jahre später in Südwestafrika einen Völkermord beging. Seine herrschende Klasse war von Antisemitismus durchdrungen (einem in jener Zeit in Deutschland geprägten Terminus). Nachdem Kaiser Wilhelm II. Herzl vor den Toren Jerusalems traf, erklärte er: “Zionismus ist eine große Idee, kann aber nicht mit den Juden verwirklicht werden.”

Der Psychologe Gustave Le Bon bemerkte einmal, dass die Realisierung jeder Vision drei Generationen zu spät kommt. Der Schöpfer einer Vision wird von seinen Lehrern beeinflusst, die zur vorhergehenden Generation gehören. Und die Menschen, die seine Vision realisieren, gehören zur nächsten Generation. In der Zwischenzeit haben sich die Umstände, die der Vision zum Leben verhalfen, vollständig verändert. Wenn die Idee schließlich Wirklichkeit wird, ist sie schon überholt.

War das bei Herzl auch so? Haben die Werte des deutschen Kaiserreichs und Wagners - er starb 13 Jahre, bevor Herzl “Der Judenstaat” schrieb - das Wesen des Staates Israel infiziert, der 50 Jahre nach dem Schreiben dieses Buches gegründet worden war?

An jenem Morgen ging ich das neue Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins ansehen. Ich hatte schon vieles darüber gehört, einiges Gute, einiges weniger Gute - und nun wollte ich es mir selber ansehen.

Allein die Tatsache, dass diese weiträumige Stätte mitten im Herzen der Hauptstadt in der Nähe der nationalen Symbole des deutschen Kaiserreichs, des Brandenburger Tores und des Reichstagsgebäudes, errichtet wurde, ist erstaunlich. Ein paar Tage nach seiner offiziellen Eröffnung war es schon zu einem Teil des Stadtlebens geworden. Massen von Menschen werden davon angezogen, gehen durch den labyrinthartigen Bau zwischen Tausenden von grauen, verschieden hohen Betonstelen, durch enge unebene Passagen.

Ich sah viele Besucher, die sich der Bedeutung dieser Stätte bewusst waren, in Meditation versunken. Andere schienen nur aus Neugierde zu kommen, machten Fotos von einander, hier und dort stand in einer entlegenen Ecke ein sich küssendes Paar. Auf einigen der Stelen lagen weiße Blumen, auf anderen lagen die Rucksäcke von jungen Besuchern. Kinder sprangen von Stele zu Stele oder spielten Verstecken.

Einzelne Personen und ganze Familien standen eine Stunde Schlange und warteten geduldig, um ins Informationszentrum, das sich unter den Stelen befindet, hineingelassen zu werden. Es ist eine maßvolle, zweckbetonte und überwältigende Örtlichkeit. Fünf große Räume. Im ersten: der Aufstieg des Nationalsozialismus’ und seine Verbrechen in sparsamen, trockenen Worten, von Fotos begleitet. Mit Erleichterung bemerkte ich, dass die Beschreibung nicht den von Nazis begangenen Massenmord an Nicht-Juden, Roma und Sinti, den psychisch Kranken, den Homosexuellen, den slawischen “Untermenschen”, den Kriegsgefangenen und den deutschen Opponenten des Regimes vergessen hat.

In einem anderen Raum wurden ohne Unterbrechung Filme über jüdische Gemeinden in Europa gezeigt. Jede Gemeinde mit dem, was ihr während des Holocaust zugestoßen war.

In einem dritten Raum wurden die Namen einzelner Opfer ausgesprochen und mit ihrem Schicksal gezeigt. Wenn man alle Namen lesen wollte, bräuchte man Wochen und Monate. In einem weiteren Raum konnte man mit Hilfe von Computern nach den ermordeten Verwandten suchen (ich fand den Namen meiner Tante).

Aber der eindrucksvollste und bedrückendste Raum ist der, in dem einzelne Familien gezeigt werden. Familien aus verschiedenen Ländern und Klassen: Familienfotos vom Beginn des letzten Jahrhunderts, Familienfeste, Hochzeiten, Kollegen, Kinder in festlichen Kleidern, Großvater und Großmutter in der Mitte, alle schauen feierlich in die Kamera - und danach die detaillierte Beschreibung des Schicksals der einzelnen Familienmitglieder, die auf den Fotos gezeigt worden waren - wer ermordet worden, wer spurlos verschwunden, wem es gelungen war, nach Palästina oder Australien zu emigrieren. So nah, so persönlich, so zum Vergleich einladend: dieser ist in meinem Alter, dieser im Alter meiner Eltern, dieser könnte mein Sohn, diese meine Tochter gewesen sein.

Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich in einem besonderen Raum Vergrößerungen der Gesichter der Deutschen - Soldaten, Polizisten, gewöhnliche Zivilisten - gezeigt, die auf Fotos der Vernichtung in allen Stadien klar erkennbar sind: schreiend, misshandelnd, lachend, ihren Job tuend, der zufällig Mord war.

In den Räumen herrschte totale Stille. Viele brachten ihre Kinder mit. Ich sah in die Gesichter der Deutschen, als sie aus dem Untergrund, dem Informationszentrum, auftauchten. Sie waren erschüttert. Einige schrieben ihre Gefühle ins Gästebuch: “Schrecklich!” “Unfassbar!” “Wie konnte so etwas geschehen?” “Wir müssen alles tun, dass sich so etwas nicht mehr ereignet”. Ich schrieb ein paar Worte der Anerkennung für die Initiatorin des Mahnmales, die TV-Journalistin Lea Rosh, die Himmel und Erde bewegte, um diesen Plan zu verwirklichen.

Mit diesen Bildern vor Augen betrat ich einige Stunden später das eindrucksvolle Gebäude der Staatsoper “Unter den Linden”.

Inwieweit war Wagner schuldig? Inwieweit beeinflusste er nicht nur Herzl, sondern auch den krankhaften Geist Adolf Hitlers, der in seinem Bunker Selbstmord beging - nur wenige Meter vom Holocaust-Mahnmal entfernt. (Der Film “Untergang” wird gerade auch in Israel gezeigt.)

Als ich nach Hause fliegen will, hörte ich, dass es einen Kampf zwischen einer privaten Initiative, die junge Israelis nach Auschwitz fliegt, und dem Erziehungsministerium gibt, die das Monopol für solche Flüge sichern will, um die jungen Leute mit einem hasserfüllten Nationalismus zu indoktrinieren - im Sinne von “Alle Welt ist gegen uns”.

Um des Ausgleichs willen und um das Bild zu vervollständigen, würde ich diesen jungen Leuten auch das Mahnmal in Berlin zeigen wollen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert

Veröffentlicht am

24. Mai 2005

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