Wahrheit macht die Dinge gutIm Gespräch: Heinz Kimmerle über die Rolle von Gemeinschaft und Zeit in afrikanischer Philosophie
FREITAG: Was brachte Sie dazu, sich mit afrikanischer Philosophie zu beschäftigen? HEINZ KIMMERLE: Zunächst reiste ich auf eigene Faust für sechs Monate nach Kenia, dann nach Ghana. Das war eine Zeit, als ich mich mit Hegel und der Dialektik-Kritik beschäftigt habe. Genau gesagt, kam ich auf die afrikanische Philosophie über Derridas Differenzphilosophie. Bis dahin hatte man sich nur abstrakt etwa mit China oder Japan beschäftigt. Ich wollte aber das Problem des Anderen konkret betrachten. FREITAG: Sie gehen davon aus, dass es mit der Aufklärung zu einer Machtergreifung auch über das Denken kam, so dass die Philosophie nur noch die europäische Vernunft anerkannte und andere, außereuropäische Denkformen leugnete, aus denen sie sich gespeist hatte, wie die eigentlich asiatische orphische und die afrikanische, die mit Augustinus, wie Sie betonen, einmal präsent war. Kann man so, was sich zeitgleich ereignete, durch einen ursächlichen Zusammenhang verknüpfen? HEINZ KIMMERLE: Bei den aufklärerischen Philosophen liest man schreckliche Dinge über Afrika. Kant schreibt, dass, wenn man die “Neger” peitschen wolle, man das Rohr spalten müsse, weil sie eine besonders dicke Haut hätten. In seinen kosmopolitischen Schriften hat er ein Weltbürgertum nur im europäischen Sinne proklamiert. Aber seine Vorstellung von einer republikanischen Verfassung war nur für Europa ein fortschrittlicher und beherzenswerter Gedanke - Europa teilt sich die Welt auf, eurozentristischer geht es nicht. Bei Hegel wird es dann noch viel krasser. In seiner Phänomenologie des Geistes erklärt er gleich, warum er Afrika gar nicht behandeln wird: Dort gäbe es keine Geschichte und keinen Staat. FREITAG: Letztere immer noch oder bisweilen wieder herrschende Sichtweise wollten Sie einer Kritik unterziehen? HEINZ KIMMERLE: Ich wollte an konkrete Situationen anknüpfen und Dialoge in Gang bringen. Es sollte ein Dialog von beiden Seiten werden. FREITAG: Was können wir dabei vom afrikanischen Denken lernen? HEINZ KIMMERLE: Zunächst möchte ich sagen, dass es schwierig ist, von der “afrikanischen Philosophie” zu sprechen. Ich habe im wesentlichen in Westafrika und in Südafrika geforscht. Da sind es vor allem der Gemeinschaftsgedanke, eine Philosophie des Wir und der Lebensbegriff, von denen wir lernen können. Vielleicht kann man auch das anführen: Überall, wo ich nachgefragt habe, spielte die Aufgabe des Erinnerns der noch Lebenden ein große Rolle - das ist der Sinn des Ahnenkults. Die jetzt Lebenden müssen in Ordnung bringen, was nicht in Ordnung war. Es gibt eine Aufgabe des Erinnerns. Dabei reicht der Zeitraum des Erinnerns durch das Erzählen sehr viel weiter zurück als bei uns, über mehrere Generationen. Man sagt, dass die Ahnen so lange unsterblich sind, wie sie erinnert werden. Erinnern ist identisch mit am Leben Erhalten. Es gibt einen ganz konkreten Umgang damit, sei es durch Trankopfer oder dadurch, dass ein Stuhl eines Verstorbenen immer leer bleibt. FREITAG: Heißt das, afrikanische Philosophie dokumentiert sich im mythischen Umgang mit dem Leben? HEINZ KIMMERLE: Mythen haben einen philosophischen Gehalt, rationale Strukturen, wie es Adorno gesagt hat, wobei die mythischen Strukturen immer auch zugleich personalisieren. Beziehungen und Erklärungen werden personifiziert. FREITAG: Ihre Position scheint mir eine hermeneutische … HEINZ KIMMERLE: Die philosophische Interpretation von Erzählungen hat deren Bedeutung herauszulesen, um zu erklären, welches Denken hinter ihnen steckt. In diesem Sinne gilt es, eine orale “Literatur” zu lesen. Immerhin erwies sich auch die Aufklärung als Mythos. Andererseits ist der Mythos aufgeklärter, als wir denken. Ich will aber auch betonen, dass ich absolut kein Gegner der Aufklärung bin - wie die Frankfurter sagen: Man muss die Aufklärung über sich selbst aufklären. Doch zurück zu dem, was uns das afrikanische Denken lehren kann: Es gibt auch eine Gemeinschaft der Verstorbenen mit den noch nicht Geborenen im Sinne einer spirituellen Gemeinschaft, für die, wie für die jetzt Lebenden, gilt: “Caring is sharing”. Der ghanesische Philosoph Kwame Gyekye hat diesen Grundgedanken zum Kommunitarismus in Beziehung gesetzt. FREITAG: Liegt dem ein mit unserem Denken vergleichbarer Zeitbegriff zugrunde? Häufig, vielleicht allzu häufig, wird dem linearen Zeitbegriff unseres Denkens der zyklische Zeitbegriff außereuropäischer Kulturen gegenübergestellt. HEINZ KIMMERLE: Das ist in der Tat natürlich viel komplizierter. Heidegger hat darauf hingewiesen, dass das Denken, das bestrebt ist, alles auf einer einheitlichen Linie unterzubringen, etwas mit unserer abstrakten Tradition zu tun hat. Für das afrikanische Denken ist die Zeit schwer von etwas zu trennen. Da gibt es die Zeit des Regens, die Zeit der Muße und so weiter. Da greifen verschiedene Parameter ineinander und laufen parallel zueinander. Meine nigerianischen Kollegen haben im Yorauba-Land festgestellt, dass gleichzeitig mehrere Parameter gelten, da gibt es das Parameter des Individuellen, ein Parameter des Menschen, des Irdischen und des Kosmischen. Man bezieht sich etwa auf den Moment, wo der älteste Sohn geboren wurde oder eine bestimmte Arbeit angefangen hat und verankert sich damit innerhalb des dörflichen Familienkontextes. Daneben gibt es die natürlichen Parameter. Nicht mehr dem Zeitablauf unterworfen sind die Geister. Da gilt eine strikte Trennung zwischen der Welt des Sichtbaren und des Unsichtbaren - einzig die Maske kann zwischen den beiden eine Verbindung schaffen, indem sie Botschaften überbringt. FREITAG: Inwieweit bewirkt die Sprache selbst hier schon eine andere Philosophie? HEINZ KIMMERLE: Gyekye hat herausgefunden, dass für die Yoruba grammatikalisch die Möglichkeiten, die Vergangenheit auszudrücken, sehr differenziert sind. Dem steht auf der anderen Seite eigentlich mehr ein Zukunftshorizont der Gegenwart gegenüber. Alexis Kagamé hat über die Bantu-Sprachen gesagt, dass man dieselben Worte für einen Ort wie für eine Zeit gebraucht, dass man etwa mit demselben Wort von einem kleinen Raum oder einer kurzen Stunde sprechen kann. Dies deshalb, weil man nie isoliert über Raum oder Zeit spricht, sondern immer einen Bezug zu etwas Einzelnem herstellt; so wie Heidegger mit dem Begriff des Zeit-Raumes Ereignis und Zeitraum zusammenbringt. Das gilt allerdings nur speziell für die Bantu-Sprachen. Man hat daraus den Schluss gezogen, dass so auch die Vergangenheit höher bewertet wird als die Zukunft. Man kann es aber auch so verstehen, dass in einer solchen Sprechweise die Vergangenheit immer in die Zukunft hineinragt. FREITAG: Was ergibt sich daraus für das, was man tun soll? HEINZ KIMMERLE: Die Ethik hat in Afrika immer eine ästhetische Komponente. Brachten nicht auch die Griechen das Gute und das Schöne zusammen? Auch in Afrika ist das gute Handeln schön. Der Harmoniebegriff ist fast so wichtig wie der Lebensbegriff. Gutes Handeln ist auch schön, andererseits Ästhetik nichts Abgesondertes. In Nigeria sagt man, der ganze Kosmos ist durchdrungen von einem “Sound”, - einer Art Sphärenmusik. Diese kosmische Musik dringt durch bis auf die irdische Welt. Der Tanz ist die Antwort des Menschen. In ihm schwingt man mit dem Rhythmus der Welt mit. Die Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik vergleiche ich im Übrigen gern mit Schleiermacher. Hat der nicht auch gesagt, dass man aus dem eignen Leben ein Kunstwerk machen müsse? FREITAG: Wie steht es schließlich mit dem Bezug zwischen Weisheit und Wahrheit in Afrika? HEINZ KIMMERLE: Die Akan sagen: “Wahrheit macht Dinge gut”. Wahrheit ist nichts Statisches, sie ist eine Kraft und wirkt zum Guten. Sie liegt näher bei dem, was wir “wahrhaftig” nennen: nicht morgen etwas ganz anders tun. Die starke Rolle der Vergangenheit kommt darin wieder zum Ausdruck. In die Zukunft weist dagegen der Begriff der Sorge im Sinne von “caring is sharing”; auch in einem sehr mütterlichen Sinne. Man muss sozusagen den Weg bereiten, auch mit der Wahrheit. Das Interview führte Simone Guski “Interkulturelle Philosophie” nennt sich ein Ansatz, der nicht von einer einzigen Vernunft ausgeht, sondern vielfältige Formen des Denkens zulässt, die prinzipiell als gleichwertig anzuerkennen sind. Gleichzeitig versteht sie sich als eine Philosophie, die “vom Anderen aus” denkt. Angeregt durch die Initiative des chilenischen Philosophen Raúl Fornet-Betancourt findet alle zwei Jahre - auf jeweils verschiedenen Kontinenten - ein “Internationaler Kongress für Interkulturelle Philosophie” statt. Der sechste Kongress dieser Art, Ende Mai in Senftenberg, stand unter dem Motto “Dominanz der Kulturen”. Heinz Kimmerle, als Mitbegründer der Interkulturellen Philosophie, war einer der Vortragenden. Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 25 vom 24.06.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Simone Guski und Verlag. Veröffentlicht amArtikel ausdrucken |
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