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Schwester Simone - Danksagung an eine Heldin

Von Beverly Bell - ZNet 10.07.2005

“Dank sei Gott und Schwester Simone” - diesen Satz bekam ich immer wieder zu hören, als ich in Martissant, einem der in Port-au-Prince allgegenwärtigen Slums, Vergewaltigungs-Überlebende interviewte. Es waren Frauen, die mit den schrecklichen emotionalen und häufig auch körperlichen Folgen der Prügel und Vergewaltigungen zu kämpfen hatten, die sie in der Zeit des Staatsstreichs zwischen 1991 und 1994 erlitten. Die Täter waren Soldaten und Paramilitärs. In ihrer Gemeinde litten die Frauen unter dem sozialen Stigma, vergewaltigt worden zu sein, sie litten unter der Zurückweisung ihrer Partner und waren, wenn sie den Mund aufmachten, von politischer Verfolgung bedroht - alles gleichzeitig. Daneben litten sie an der unbeschreiblichen Armut und am ermüdenden Versuch, sich und ihre Kinder Tag für Tag am Leben zu erhalten. Wenn ich die Frauen fragte: “Woher nehmen Sie die Kraft um weiterzumachen?” fiel häufig ein Name: Marie Simone Alexandre.

Ich beschloss, mich mit jener “Kraft” zu treffen, deren Namen - neben dem Namen Gottes - so häufig fiel. Ich traf mich mit Simone und fühlte mich von ihr ebenso unglaublich inspiriert wie die Frauen von Martissant und viele andere vor mir. Mehr als zehn Jahre dauerte unsere politische und persönliche Beziehung. Am 29. Juni 2005 starb Simone. Sie wachte nicht mehr aus dem Koma auf, in das sie nach ihrer dritten Tumoroperation gefallen war. Simone hatte einen großen Tumor in ihrem Kopf.

Ohne es zu ahnen, hatten Simone und ich bereits früher häufig miteinander zu tun, wie sich herausstellte - nur, dass wir damals weder Gesicht noch Namen der anderen kannten. Trotzdem war es eine enge Bindung - geschmiedet in den Jahren des von den USA unterstützten Staatsstreichs auf Haiti. In jener Zeit wurde ‘Vergewaltigung’ regelmäßig als eine Art Kriegswaffe eingesetzt. Mein Teil der Aufgabe war es, die breite Öffentlichkeit auf die Vergewaltigungen und andere Verbrechen des illegalen Regimes auf Haiti aufmerksam zu machen und internationalen Druck zu erzeugen. Wir faxten die Schreckensstatistiken, die furchtbaren Aussagen der Zeugen, im Schutze der Dunkelheit von wechselnden Standorten aus hinaus in die Welt.

Erst Jahre später erfuhr ich, dass es Simone gewesen war, die uns die meisten Informationen über die Vergewaltigungen geliefert hatte. Sie hatte ein unglaublich hohes Todesrisiko auf sich genommen, um an die Fakten zu kommen und sich an Orte gewagt, die allen anderen zu gefährlich erschienen waren - um die Brutalität zu dokumentieren und ihre Informationen an die Frauenrechtsorganisation SOFA weiterzugeben.

In einem Interview für mein Buch ‘Walking on Fire’ befragte ich Schwester Simone - unter ihrem nom de guerre Louise Monfils. Sie sagte: “Ich sammelte von sehr vielen Frauen Informationen, von Haus zu Haus. Die (Frauen) vertrauten mir so sehr, dass sie gerannt kamen und mir sagten, wenn sie von einer anderen Frau erfuhren. Sie brachten die Frau zu mir. Ich sagte, “danke, meine Schwester”. Ich traf mich mit ihr und half ihr, wie ich den anderen geholfen hatte. Wenn ich vor ihnen (den vergewaltigten Frauen) stand, konnte ich schriftlich absolut nichts, gar nichts, festhalten. Ich brauchte einen klaren Kopf. Wenn fünf Leute mir die Geschichte ihrer Vergewaltigung erzählten, musste ich mir alle Namen gleichzeitig einprägen, sämtliche Details. Ich nahm die Informationen auf und sagte: “Okay, ich gehe jetzt, aber, hören Sie, ich sehe Sie bald wieder. Ich werde zurückkehren und Sie sehen.” Sobald ich auf der Straße war, sah ich mich nach einem Platz um. Dort setzte ich mich hin und schrieb alles auf, was mir die Frauen erzählt hatten. Zum nächsten Treffen brachte ich mein Notizbuch mit. Sie glaubten, es wären nur meine persönlichen Notizen. Ich fragte sie erneut und versuchte dabei sachte, ohne dass sie es merkten, die Information mit meinen früheren Notizen abzugleichen. So konnte ich sicherstellen, dass die Informationen, die ich zuvor erhalten hatte, auch stimmten. Falls ich etwas vergessen hatte, konnte ich es ergänzen. Das war eine sehr schwierige Arbeit, Cheri, aber ich musste es machen. Ich tat es, weil ich die Information brauchte.”

Simone war eine Menschenrechtsaktivistin an vorderster Front, sie war zudem Organisatorin und Therapeutin, eine autodidaktische Therapeutin. Leicht zu erklären, weshalb so viele Überlebende Simone als eine ihrer beiden Kraftquellen bei ihrer Heilung bezeichneten. In ihrer typisch aufrüttelnden, theatralischen Art beschrieb Simone, wie “… (die Frau) anfängt zu weinen. Sie legt den Kopf an meine Schulter und weint. Ich streichle ihren Rücken und sage: ‘Sie müssen sich nicht schämen. Diese Kerle sollten sich schämen! Diese Rohlinge. Nur ein Tier kann so etwas Schlimmes tun.’ Dann sage ich zu ihr: ‘Die Liebe ist zu gut, zu kostbar, Sie dürfen sich nicht schämen, weil Sie Opfer sind.’ Ich sage ihr, sie solle nicht weinen, weil wir ja für sie da sind. Wir sind da!”

Daneben war sie eine unermüdliche Organisatorin. “Es war nicht genug, sie (die Frauen) zu treffen, weil sie Opfer einer Vergewaltigung waren. Wenn wir damit fertig waren, ihre Zeugenaussagen aufzunehmen, war es wichtig, sie zusammenzubringen, sie dazu zu bringen, eine Frauenorganisation zu gründen. Wir halfen ihnen, sich ihrer Rechte bewusst zu werden. Und wir wollten die Frauen unterstützen, sich als Besitzerin des eigenen Körpers zu fühlen. Kein anderer sollte die Kontrolle über ihren Körper haben und Macht über sie”.

Ihr ganzes Leben widmete sie den an den Rand Gedrängten. Sie wollte sie informieren, ihnen Stimme und Stärke geben. In den 80er Jahren organisierte Schwester Simone Bauerngruppen und war in der christlichen Gemeindearbeit tätig. Sie unterstützte ihre Gemeindemitglieder dabei, sich in der Demokratiebewegung zu organisieren, sie half ihnen im Bereich Volksbildung und beim Bau von Silos, in denen Getreide und Saatgut kollektiv gelagert werden konnten. Einen Großteil ihres Lebens hatte Simone im Untergrund verbracht (vor allem 1987, als die Bewegung der ‘Tilegliz’ (kleine Kirche), der Simone sehr nahe stand, angegriffen wurde). Immer wieder musste sie von einer Region Haitis in die andere fliehen. Oft rannte sie einfach los - mit nichts als den Kleidern am Leib. “Ich rannte durch die Wälder, durch Gehölz und Buschwerk. Unterwegs schlief ich abwechselnd bei Freunden, in deren Haus: eine Nacht hier, eine Nacht dort. Einmal - oh, ich war ja so hungrig -, ging ich in einen fremden Garten und zog eine Maniokstaude heraus und nahm mir drei Maniokfrüchte. Ich sagte mir, wenn sie dich jetzt schnappen, verhaften sie dich wegen Diebstahls”.

Im Jahr 1990 wurde Simones Haus mit allem, was sie besaß, von Soldaten niedergebrannt. Das war beim Bauernmassaker in Piatte. Fast wäre Simone selbst umgekommen. Aber nie hat sie ihre charakteristische Nervenstärke und schnelle Auffassungsgabe verlassen: “Ich rannte davon und versteckte mich zwischen den Felsen unter einem Wasserfall. Ich sah alle Morde mit an, alles, was sie anrichteten. Von Zeit zu Zeit streckte ich den Knopf heraus, um zu sehen, was sie taten und machte mir Notizen. Ich nahm eine Zigarette auseinander und schrieb alles auf. Dann faltete ich das Papierchen, steckte es in das Plastik der Zigarettenverpackung und schob das Ganze in einen Schlitz meines Kleidersaums. Selbst wenn sie mich durchsucht hätten, sie hätten nichts gefunden. Dann schlüpfte ich unbemerkt mitten unter die Killer und ging mit ihnen. Sie dachten wohl, ich sei eine von ihnen. Später sagten mir die Leute, sie hätten geglaubt, ich habe mich einfach in Luft aufgelöst. Falsch! Ich ergriff die Chance und bewegte mich inmitten einer Menschenmenge, die soeben ein Massaker verübt hatte.”

Simone war nicht wählerisch, wenn es um Arbeit ging. Sie tat alles, ob bezahlt oder unbezahlt, was Menschen empowerte, die unter Unterdrückung und Armut zu leiden hatten. Simone war im Beratungsgremium des Lambi Fund of Haiti. Meines Wissens war sie auch für CRAD tätig - als Gesundheits-Promoterin und Beraterin im Bereich ‘Frauen und Sexualität’ - und für das American Friends Service Committee - im Bereich ‘Gemeindeentwicklungsarbeit’. Sie arbeitete zudem für APROSIFA (zur Förderung des Projekts ‘Where There Is No Women’s Doctor’ der Hesperian Foundation).

Wir beide unternahmen zusammen eine Vortragsreise durch die USA. Schwester Simone riss das Publikum mit - mit ihren erschütternden Schilderungen über das Leben auf Haiti und einem leidenschaftlichen Plädoyer für internationale Solidarität. Ich hatte das Gefühl, alle, die ihr zuhörten, waren hinterher nicht mehr dieselben Menschen.

Wenn ich mich mit ihr unterhielt, ging es meist um Kämpfe. Simone führte ein hartes Leben - wichtiger waren ihr die Menschen, deren Leben noch viel härter war als das ihre. Nicht einen Moment konnte sie die Schicksale dieser Menschen vergessen. Dann schluckte sie verzweifelt, seufzte tief - und kam schnell wieder zum Thema: Die Menschen - vor allem Frauen - sollten sich für ihre Rechte organisieren und für die Demokratie.

Anfang 2000 besuchte Simone eine Schule für Krankenpflege - es fiel ihr sehr schwer. Qualitativ gute Krankenpflege für indigene Frauen war ein wichtiges Anliegen für Simone. Während sie sich mit der Ausbildung abmühte, jobbte sie in den seltsamsten Jobs, um sich und ihre beiden Söhne über Wasser zu halten und die schäbige Miete aufzubringen. Ihre Karriere als Krankenschwester war kurz - eine schwierige Zeit für sie. Ich erinnere mich, dass sie mir erzählte, welche Mühe sie hatte, das Geld für die weißen Söckchen aufzubringen, die sie als Schwester tragen musste und wie viele Stunden am Tag sie sich mit dem öffentlichen Verkehrssystem abquälte, um zur Arbeit ins Hospital zu kommen. Sie hatte zunehmend Probleme mit den Augen. Damals wusste noch niemand, dass sie einen Tumor hatte, der ihr Sehvermögen beeinträchtigte. Sie konnte nicht mehr als Schwester arbeiten.

Nur einmal habe ich Simone entspannt und glücklich erlebt. Das war, als sie ein Stipendium plus Flugticket für ein zweiwöchiges Meditationsseminar in den Bergen New Mexikos erhielt. Ich besuchte sie von Taos aus, wo ich wohnte. Sie aß gerade in der alten Lodge zu Mittag, ein stiller Tag. Sie führte mich hinaus an einen Espenhain, wo wir uns unterhielten. “Bev, kleine Schwester! Ich werde nicht mehr von den schrecklichen Bildern beherrscht, mein Herz rast nicht. Die Meditation ist eine wunderbare Therapie.” Sofort machte sie sich Gedanken, wie sie diese heilbringende Erfahrung auch den traumatisierten Frauen in Haiti zugute kommen lassen könnte - typisch für Simone. Wir brachten einen der Meditationslehrer dazu, dass er sich bereiterklärte, nach Haiti zu gehen und ein entsprechendes Seminar zu leiten, aber aus den Plänen wurde nichts.

Einige Jahre später, Anfang 2000, reiste Simone mit einem Touristenvisum nach Florida ein und ließ sich nieder. Die Gewalt, die sie gesehen und erlebt hatte - physische Gewalt und strukturelle Gewalt - hatte sie zutiefst traumatisiert. In Amerika lebte sie ein verarmtes, entfremdetes Leben. Sie hatte keine gültigen Papiere. Sie arbeitete sporadisch als Hotelreinigungskraft und Küchenhilfe.

Immer träumte sie davon, ein Center für haitianische Frauen aufzubauen, in dem sie sich organisieren und rehabilitieren konnten, in dem vor allem Frauen, die häusliche oder staatlich organisierte Gewalt überlebt hatten, Zuflucht finden konnten. Hier sollten sie endlich Anspruch auf ihre Rechte, auf Würde haben. Aber Simone sprach schlecht Englisch, sie verfügte über keinerlei Beziehungen und hatte keine Verwaltungs- oder Fundraising-Kenntnisse. Ihr Traum war für immer verloren.

Dann entdeckte ihr Arzt den Gehirntumor. Sie wurde operiert. Die Operation schien zunächst erfolgreich, der Tumor war weg, aber Simone war praktisch blind. Sie war so verarmt, dass sie sich bis vor kurzem nicht einmal eine Brille leisten konnte.

Mit der Zeit baute sie physisch und psychisch immer mehr ab. Sie zog sich zurück - zuerst in Miami, später in Homestead, Florida. Simone brach den Kontakt zu vielen ihrer früheren Kollegen ab. Partners in Health bot ihr einen Job an (der sie zurück nach Haiti gebracht hätte). Sie lehnte ab. Sie zog sehr häufig um. Sie litt an ihrem psychischen und emotionalen Trauma, und der Tumor kehrte zurück - aggressiver denn je. Letzte Woche wurde sie erneut operiert. Es kam zu Blutungen. Die Notoperation, die daraufhin nötig wurde, blieb erfolglos.

In Simones Lebensgeschichte spiegeln sich viele Aspekte der Haiti-Story. Ihr konsequentes, entschlossenes Eintreten für Gerechtigkeit blieb im Großen und Ganzen erfolglos. Schuld daran waren die brutale und korrupte Führung Haitis, die Gesetzlosigkeit - und eine US-Regierung, die jeden Fortschritt in Richtung Demokratie, in Richtung ökonomische Rechte, auf Teufel komm raus stoppte. Was Simone mit ihrer hartnäckigen Organisierungs-, Beratungs- und Rechtsberatungstätigkeit dennoch erreichte: Sie gab dem Traum neue Nahrung. Sie förderte die Vision der verwundeten Träumer und heilte sie. Simones Bemühen, das Bemühen so vieler Haitianer, geben Anlass zur Hoffnung für Haiti.

In Simones Leben spiegelt sich noch ein weiterer Aspekt der Geschichte Haitis: Der beste Rohstoff dieses Landes sind seine Bürger - eine Ressource, die zuwenig gefördert wird. Bei ihrer Arbeit musste Simone nicht nur gegen mächtige Institutionen ankämpfen, sondern auch gegen gewisse Sektoren des Mittelklasse-Feminismus; dieser Teil der civil society lehnte sie ab. Simone war keine Person, die nach persönlicher Anerkennung strebte. Dennoch war sie von bestimmten Grundvoraussetzungen abhängig (offene Türen, Solidarität, auf die sie [für ihren Unterhalt] zählen konnte, wenn sie ihrer wichtigen Arbeit nachging). Fehlte es an diesen Voraussetzungen, machte sie das traurig und frustriert. Schließlich entschied sie sich fürs Exil - gegen Armut, eine gescheiterte Demokratie und fehlende Solidarität. Simone verlor sich in einer Diaspora, in der sie nur eine der vielen Namenlosen war, eine Illegale. Im letzten Jahr ihrer Krankheit hatte sie das Glück, von einem Amerikaner, der Mitglied ihrer Kirchengemeinde war, liebevoll gepflegt zu werden. Davon abgesehen starb Simone eines einsamen, heruntergekommenen Todes. Niemand wusste, dass sie eine Heldin war.

Für mein Buch ‘Walking on Fire’ hatte sich Simone die Erinnerung wachgerufen an ihre Arbeit mit Vergewaltigungs-Überlebenden während der Jahre des Staatstreichs. Es war ein “echter Kalvarienberg” für sie, ihr Kalvarienberg. Damals sagte sie zu mir: “Es war, als liefe ich mit meinem eigenen kleinen Sarg unter dem Arm herum. Aber selbst wenn sie (die Vergewaltiger) mich verprügelt hätten, hätte das nichts ausgemacht, denn ich war ja Teil einer gerechten und noblen Sache. Ich wollte nicht schweren Herzens zu Bett gehen, mit einem schlechten Gewissen. Wer ein Gewissen hat, der weiß genau, wenn er etwas Schlechtes getan hat. Dann kannst du nachts nicht schlafen. Wenn du etwas Gutes getan hast, ehrlich, dann fühlst du dich gut. Du legst dich hin und sagst: “Lieber Gott, ich fühle mich gut” und wirst vom Schlaf weggetragen”. Schlaf gut, Schwester Simone - ou mewite sa - du hast es verdient.

Beverly Bell ist Direktorin des Center for Economic Justice und Autorin des Buchs ‘Walking on Fire: Haitian Women’s Stories of Survival and Resistance’ (Cornell University Press, 2002). Seit 25 Jahren setzt sich Bell u.a. für die Bewegung für Menschenrechte, Demokratie und Gender-Gerechtigkeit in Haiti ein.

Quelle: ZNet Deutschland vom 13.07.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Sister Simone

Veröffentlicht am

15. Juli 2005

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