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Nach Hiroshima blieb ein Lernprozess der Zivilisation aus

Die maßgebliche Erinnerungskultur ist bis heute atombombenfreundlich

Von Peter Bürger

Behutsam formulierte der US-Psychiater Robert J. Lifton nach Bekanntwerden der jüngsten Folterpraktiken des US-Militärs: “Es mangelt in der amerikanischen Erfahrung an einer Tradition des Eingestehens von falschem Verhalten und schwerwiegenden Fehlern.” Bei dieser Diagnose wird man vor allem auch an Hiroshima und Nagasaki denken.

Seinem wichtigen Buch “Hiroshima - Geschichte und Nachgeschichte” (2005) stellt Florian Coulmas folgendes Zitat aus einem Film von Akira Kurosawa voran: “Jeder erinnert sich nur an das, was ihm angenehm ist.” Jede nationale, zumal jede imperiale Geschichtsschreibung krankt an den von Lifton beklagten Defiziten. Beim Thema Atombombe geht es nicht um eine einzelne Nation oder sogenannten “Antiamerikanismus”, sondern um die Zukunft der menschlichen Gattung. Die entsprechende US-Erinnerungskultur geht uns alle an.

Von Helden und Opfern

Hilfreich für einen zivilisatorischen Ernst der Erinnerung ist nicht die Suche nach schuldigen Individuen. Auch die Soldaten am Ende der Befehlskette sagen vor allem etwas über das Kultursystem aus, welches ihr Menschsein formt. Der direkt beteiligte Dutch van Kirk erinnerte zu Hiroshima:

“Für uns war das wie der Blitz eines Fotografen. Wir waren alle froh, dass die Bombe funktioniert hatte, denn sie hätte ja auch ein Blindgänger sein können. Dann dachten wir, dieser Krieg ist jetzt zu Ende.”

Bei der Rückkehr warteten Freibier, heiße Musik und Sonderfilmvorführung.

Oberst Paul W. Tibbets hatte die Atombombe über Hiroshima ausgeklinkt. Er wurde später in einem Interview gefragt, ob er diese Beteiligung nicht bereue. Seine Antwort lautete:

“Ich habe nie bereut und mich nie geschämt, denn ich glaubte damals, dass ich meine patriotische Pflicht tat, als ich den Befehlen folgte, die man mir gab.”

Das Spielfilm-Porträt Above And Beyond (USA 1952) über diesen B-29-Bombardierer wurde entsprechend als “patriotischer Tribut an die Bombenschützen” verstanden und löste “moralische” Skrupel durch ideelle Rechtfertigungen. Hiroshima ist eine Episode in der Biographie eines vorbildlichen Militärs.

Der gefeierte US-Major Charles Sweeny, bei den Flügen über Hiroshima und Nagasaki beteiligt, versuchte noch 1995 im deutschen Fernsehen seinen inneren Frieden zu demonstrieren und beantwortete eine kritische Rückfrage mit spürbarer Verärgerung:

“Ich bin Soldat, Befehl ist Befehl, ich habe gemacht, was ich tun musste. Jeder andere Soldat der Welt würde so handeln.”

Sweeny war wohl mit der Erwartung zum Interview gekommen, ähnlich wie in den USA als Held behandelt zu werden.

Um nach hunderttausendfachen Toten Sichtweisen dieser Art aufrecht erhalten zu können, muss abgespalten werden, was man in Wirklichkeit weiß. Die Folgen sind unbestimmte, zerstörerische Schuldgefühle im Untergrund. Nach außen wurde von allen Beteiligten erwartet, dass sie der offiziellen Lesart des Atombombeneinsatzes folgten und sich selbst entsprechend präsentierten. Das scheint bei vielen funktioniert zu haben.

An eine wichtige Ausnahme erinnert Horst-Eberhard Richter in seinem Buch “Das Ende der Egomanie” (2002): Hiroshima-Pilot Claude Eatherly, der die Rolle des “nationalen Helden” nicht mitspielen konnte, hätte sich sogar als bloßer Begleitflieger am ehesten herausreden können. Er wurde 1959 - nach offenbar vorsätzlichen Auffälligkeiten - in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und damit auf praktische Weise der Öffentlichkeit entzogen. Der Philosoph Günther Anders vermutete “als Hintergrund Reue- und Strafbedürfnisse aufgrund des Hiroshima-Erlebnisses - und wurde in dieser Vermutung im Verlaufe eines ausgedehnten Briefwechsels mit Eatherly voll bestätigt. Aber es durfte nicht sein, dass der ‘national glamour boy’, der Stolz der Nation, von Reue geplagt würde. Also musste man aus ihm einen gewöhnlichen psychopathologischen Fall machen - wozu sich dann auch ein Autor zur Verfügung stellte”. Der schon genannte Generalmajor Sweeny hielt es dann für angesagt, Eatherly in seinen Memoiren als charakterlosen Menschen darzustellen.

Am leichtesten freilich ist es, die Täterschaft zu verdrängen und sich selbst als Opfer zu verstehen. Ein äußerst trauriges - und schwer erträgliches - Beispiel für die massenkulturell weit verbreitete Strategie der Leidensverkehrung in der US-Erinnerungskultur zu “Hiroshima” bietet der Film Mission Of The Shark (USA 1991): 1945 sank die U.S.S. Indianapolis, und zwar nach dem Schiffstransport von Teilen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Im Film sehen wir nun den harten Überlebenskampf der US-Schiffsbesatzung und schließlich die ungerechte Verurteilung von Kapitän Charles McVay, den die U.S. Navy als Sündenbock missbraucht. Ohne Zweifel will uns dieser Titel, dessen Stoff 2001 gleich zu zwei weiteren Verfilmungen auf der Tagesordnung stand, im Kontext der Atombombe mit Helden konfrontieren und mit Leidenden der US-amerikanischen Nation nach einem Torpedobeschuss durch Japaner.

In den USA wurde das Tabu des Mitfühlens und der Reue so wirksam, dass Wasserstoffbombenerfinder Edward Teller in seinem Buch “Das Vermächtnis von Hiroshima” schreiben konnte: “Rationales Verhalten basiert auf dem Mut, Kernwaffen einzusetzen, wenn es taktisch angezeigt ist.”

Das erhabene Schauspiel

Brigadegeneral Farrel beschrieb 1945 als Augenzeuge und Berichterstatter für den US-Präsidenten den Effekt solch mutiger Rationalität folgendermaßen:

“Man könnte die Wirkung beispiellos, erhaben schön, gewaltig und erschreckend nennen. Nie zuvor hatte der Mensch etwas derart Übermächtiges geschaffen […] Dreißig Sekunden nach der Explosion kam zuerst die mächtige Druckwelle, und fast unmittelbar darauf folgte das starke, anhaltende Donnern, ein Signal des Jüngsten Gerichts, bei dem wir Winzlinge uns fühlten, als sei es eine Blasphemie, dass wir es wagten, jene Kräfte zu entfesseln, die bis dahin dem Allmächtigen vorbehalten waren.”

George Caron, Heckschütze des Trägerflugzeuges über Hiroshima, “hatte den Atompilz auftragsgemäß mit einer Handkamera fotografiert. […] Durch den zeitlichen Kontext ihrer Veröffentlichung wurden die Aufnahmen zu Zeichen des Sieges und der militärischen wie technologisch-wissenschaftlichen Überlegenheit der USA und auch später von der US-Administration zum Zwecke der Einschüchterung ihrer Gegner propagandistisch genutzt. Der leichte Wiedererkennungswert der ‘mushroom cloud’, ihre majestätische Größe, ihre weitgehend dekontextualisierte Veröffentlichung sowie die visuelle Abstraktion von den Opfern ließ den Atompilz zu einem zeitlosen Werbeträger für gänzlich unterschiedliche Zwecke werden.” (Gerhard Paul: Bilder des Krieges - Krieg der Bilder, 2004)

In einer Flut von Kulturprodukten - darunter Filme, Computerspiele und Poster - wird bis heute die “ästhetische Erhabenheit” der Atompilze kommerziell vermarktet.

Zensur der Schreckensbilder

Aus naher Bodenperspektive zeigten sich in Hiroshima und Nagasaki 1945 natürlich ganz andere Bilder. Doch diese Bilder waren unerwünscht. Damit der Massenmord an Zivilisten durch Atombomben im öffentlichen Bewusstsein möglichst wenig verankert würde, arbeiteten die USA ab 1945 in Japan zunächst mit strengen Zensurmaßnahmen. Sie konfiszierten einmaliges Dokumentarbildmaterial und verhinderten, verboten oder zensierten japanische Filmproduktionen zum Thema. Wegen der Pressezensur erfuhren die Japaner lange nichts von dem, was wirklich geschehen war.

In Hiroshima und Nagasaki hatten die Japaner Yoshito Matsushige und Yosuke Yamahata erschütternde Fotografien der leidenden Menschen aufgenommen. Im Juli 1946 forderte das US-Hauptquartier Matsushige auf, seine Fotos zurückzuziehen. Sie würden die Öffentlichkeit nur schockieren. Vom Pentagon engagiert, sollte Ende 1945 der Kameramann Herbert Sussan die Folgen der Atombomben vor Ort festhalten. Sussan, der später selbst an Leukämie erkrankte, glaubte, seine Filme würden zum Zweck der Mahnung veröffentlicht. Doch sie dienten hernach nur als internes Anschauungsmaterial für das Militär.

In der Folge des von Anfang an gelenkten Bildgedächtnisses werden Leidensikonen mit Gesichtern von Menschen die große Ausnahme bleiben. Bis heute ziehen die Schulbuchredaktionen zur Illustration fast nur die große “Siegeswolke” heran.

Comics und Unterhaltungsfilme wider die Strahlengefahr

Auch in den USA herrschte bis 1952 die Zensur, soweit es die Berichterstattung über die wirklichen Folgen von Hiroshima und Nagasaki betraf. Gleichzeitig pries in den 40er und 50er Jahren eine ganze Propagandawelle das “Atom”. Die neue Technologie und das Atomzeitalter waren massenkulturell im allgemeinen Bewusstsein mit Wohlstand und grenzenlosem Fortschritt verankert.

Als bekannt wurde, dass auch die UdSSR eine Atombombe entwickelt hatte, führte die Leinwand mit absurden Zeichentrickfilmen angebliche Schutzmaßnahmen gegen einen Strahlenangriff vor. Unverdrossen folgte die Bespaßung dem Motto “Der Narr lacht, wenn nichts zu lachen ist”. Edward Teller schlug gute Vorbereitungen vor, “um einen totalen Atomangriff überleben zu können”, und mutmaßte, die Radioaktivität des Test-Fallout könne sogar heilsam wirken. Hermann Kahn forderte ganz ähnlich eine “nicht hypochondrische” Einstellung zum Atomkrieg.

Eine nunmehr sechs Jahrzehnte währende Tradition der Unterhaltungsindustrie kann nur als nachträgliche Verhöhnung der Opfer von Hiroshima und Nagasaki bezeichnet werden. Vor allem aber dient sie bis heute der Geschichtsverdrehung und Propaganda. Japanische Godzilla-Filme hatten ab 1954 einen freundlichen Monstertyp entwickelt, der angesichts tiefsitzender Ängste therapeutische Wirkungen auf das Publikum ausübte und auch eine Solidarisierung mit den von Atomtests betroffenen Inselbewohnern in der weiteren Nachbarschaft zum Ausdruck brachte.

Im US-Kino stellt der Film Godzilla (USA 1998) alles auf den Kopf. Nicht die Bombe, sondern das Monster ist böse. Tschernobyl zeigt den Weg zur Erklärung des Phänomens. Frankreich ist mit seinen Tests verantwortlich. Opfer aber sind die Bewohner New Yorks. Ebenfalls seit 1998 rühren mehrere große Filmproduktionen, die das Pentagon gefördert hat, die Werbetrommel für eine neue Generation von Atombomben, die tief in die Erde bzw. in Gesteinsschichten eindringen ( Armageddon, Deep Impact, The Core). Getarnt sind diese Kriegsfilme als globale Katastrophenszenarien. Die Tradition der Atom-Comics ist dabei unverkennbar lebendig. Das Mitglied einer Weltrettungsmannschaft verspürt beim Sitz auf der Bombe eine enorme “männliche Kraft” zwischen seinen Beinen ( Armageddon, 1998). Die Technologie kennt keine Grenzen. Die tödlichen Strahlungen bleiben schön sauber unter Verschluss.

Im Grunde dauert die Zensur in den USA immer noch an. Wenn Filmproduktionen über die ersten Atombomben der Weltgeschichte nicht das offiziell erwünschte Geschichtsbild transportieren, wird ihnen der anderen gewährte Zugang zu den öffentlichen Bilddepots oder zu Dienstleistungen des US-Militärs versperrt. Das trifft z.B. zu auf Titel wie Day One und Fat Man And Little Boy (USA 1989). Für seinen TV-Film Hiroshima von 1995 beantragt Roger Spottiswoode später nicht einmal Militärunterstützung.

Wird sich zu Beginn des dritten Jahrtausends endlich jemand außerhalb Japans erbarmen und jenen großen Film über “Hiroshima” oder “Nagasaki” drehen, den Hollywood zu produzieren seit sechs Jahrzehnten nicht willens ist?

Kritische Erinnerungen - in Japan und in den USA

In Japan entwickelte sich ab 1945 zumindest in Teilen der Bevölkerung eine pazifistisch geprägte Erinnerungskultur, in der auch eine Kritik des japanischen Militarismus Raum fand. Dazu allerdings gab es mehr als genug und unbeschreiblichen Anlass. Die grausamen Verbrechen der kaiserlichen Armee bei der Vergewaltigung fremder Länder - in Bataan, Manila, China, Indochina oder Indonesien - hatten mit dem hohen Selbstbild der Nation im Inneren - außer dem Überlegenheitswahn - rein gar nichts mehr gemeinsam gehabt: Zwangsprostitution bzw. Sexsklaverei für das japanische Militär, Giftgasbombardements über China, Menschenexperimente mit biologischen Kampfstoffen und förmlichem Ausbluten, brutale Zwangsarbeit, Massenexekutionen, Gefangenenmisshandlung …

Allein in Nanking sollen im Dezember 1937 nach chinesischen Schätzungen bis zu 300.000 Menschen ermordet worden sein. Einem Massaker in der St. Augustin’s Church in Manila fielen tausend Filipinas zum Opfer. Nicht zuletzt hatten auch japanische Physiker zumindest darüber nachgedacht, eine Atombombe zu entwickeln. Dass die traditionelle Regierungspartei Japans sich einer Erinnerung an all die Gräuel der Kaiserarmee oft widersetzen und die eigene Opferrolle betonen konnte, hat die Zensurpraxis der US-Besatzungsmacht zumindest begünstigt: Die breite Bevölkerung erhielt erst Informationen über die Atombomben, nachdem die japanische Schuld erfolgreich auf eine kleine Clique von Kriegsverbrechern abgewälzt worden war.

In einem offiziellen Schuldbekenntnis wurde - immerhin - die eigene Vergangenheit “aufrichtig bedauert”, unter Einschluss jener “Aggression und Kolonialherrschaft”, die “unerträgliches Leid verursacht haben.” In den USA, so Noam Chomsky, betrachtete man diese Bekundung jedoch als wertlos, da sie einen Hinweis auf die Verbrechen anderer Imperialmächte enthielt.

Die Frage drängt sich auf, wie glaubwürdig sich denn die US-amerikanische Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Mit dem fragwürdigen Etikett “the best war ever” versieht man seit den 90er Jahren jenen Kriegsschauplatz, der weltweit mehr als 60 Millionen Menschenleben gekostet hat. Doch zur Historie gehört nicht nur die große Kampagne zur “Befreiung der Welt von Tyrannei und Unterdrückung”. In den USA wurden nach “Pearl Harbor” 120.000 japanischstämmige Staatsbürger in Internierungslagern festgesetzt. Das unselige Kapitel ist im National Museum of American History in Washington ausführlich dokumentiert und von US-Präsidenten - namentlich auch von Präsident George W. Bush Junior - öffentlich als dunkler Fleck der US-Geschichte erinnert.

Mit seinem Film Come, See The Paradise (1990) hat Alan Parker die beschämenden Ereignisse vor Hiroshima im Rahmen der Liebesgeschichte zwischen einem US-Gewerkschafter mit irischer Herkunft und der japanischstämmigen US-Bürgerin Lilly Kawamura erzählt. (Allerdings lehnte es das Pentagon-Filmbüro ab, die Dreharbeiten zu unterstützen.) Snow Falling On Cedars (2000) zur antiasiatischen Diskriminierung noch Jahre nach dem Kriegsende gehört zum Kanon der beeindruckenden Hollywoodfilme. Beim Thema der ersten Atombomben jedoch, so hatten wir bereits bemerkt, schweigt die US-Filmindustrie. Da sie weltweit mit Abstand die meisten Leinwände und Bildschirme beliefert, tut sich ein schwarzes Loch auf.

General Eisenhower darf nicht zitiert werden

Als 1994/95 - ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Atombombenabwurf - das Smithsonian-Institut als nationaler Museumskurator eine Ausstellung mit dem “Hiroshima-Flugzeug” Enola Gay konzeptionell fast abgeschlossen hatte, durften nicht einmal zweifelnde Stimmen aus den USA zu Wort kommen, geschweige denn Zeugnisse über japanische Opfer.

Berücksichtigt werden sollten ursprünglich Überlegungen aus Erinnerungen von General Dwight D. Eisenhower: War Japan nicht schon besiegt? Waren die Atombombenabwürfe notwendig oder nicht vielmehr - so Eisenhowers Überzeugung - “völlig überflüssig”? Gab es für sie im Sinne einer Rettung der USA ein Mandat? Auch US-Admiral William D. Leahy sollte zu Wort kommen:

“Die Japaner waren schon geschlagen und bereit, sich zu ergeben. Der Einsatz dieser barbarischen Waffe gegen Hiroshima und Nagasaki half unseren Kriegsanstrengungen gegen Japan in keiner Weise. Durch ihre Erstverwendung haben wir uns den moralischen Standard von Barbaren des finsteren Mittelalters zu eigen gemacht. Ich habe nicht gelernt, auf diese Weise Krieg zu führen, und Kriege werden nicht durch die Vernichtung von Frauen und Kindern gewonnen.”

Entsprechende Zitate wurden auf Druck einer breiten patriotischen Lobby aus den Ausstellungstexten entfernt. Kooperationen der Initiatoren mit zwei Museen in Hiroshima und Nagasaki erregten besonderen Zorn. Nicht gezeigt werden durften fünf Objekte aus Nagasaki, die - so Florian Coulmas - nicht ins offizielle Bild passten: “ein geschmolzener Rosenkranz, ein Marienbild, ein Kinderkleid, zerfetzte Kleider” und eine von den USA mit abgeworfene Mess-Sonde.

Es kommt noch schlimmer: Lapidar wird beim B-29-Bomber Enola Gay im “National Air and Space Museum” der USA vermerkt, “Zehntausende von Toten” habe es in Hiroshima und Nagasaki gegeben. Die Besucher müssen sich also für eine annähernde Anschaulichkeit des Opferleidens und des Todes von 330.000 Menschen in Multiplikationsversuchen üben. Die vollständige “Enola” wird scheinheilig (und ohne sachlichen Grund) als “technischer Meilenstein” und als Symbol des Fortschritts präsentiert. Japanische Überlebende, die in ihr ein Symbol für riesige Leiden sehen, wurden offiziell nicht empfangen.

Einstimmig tadelte der Kongress die Macher der ursprünglichen Ausstellungskonzeption in einer Resolution. Sie hätten das Werk der Atombomben, ein “barmherziges” Kriegsende, nicht angemessen dargestellt. Führende Volksvertreter hatten außerdem dem Smithsonian-Institut im Fall einer Ausstellungseröffnung mit schmerzlichen Haushaltskürzungen gedroht. Coulmas benennt die Ursache dieser schweren Geschütze und Erpressungen: Fachhistoriker dürfen publizieren, was immer sie wollen. Doch ein großes Publikum darf auf keinen Fall mit Inhalten erreicht werden, die die etablierte Legende der Nationalhistorie in Frage stellen. (Man erinnert sich - ohne unzulässigen Vergleich der behandelten Themen! - an die konservativen und rechtsextremistischen Widerstände gegen das ursprüngliche Ausstellungsprojekt über Wehrmachtsverbrechen in der Bundesrepublik.)

Unschuldige Atom-Devotionalien

Welche Devotionalien des Atomkults problemlos möglich sind, zeigen nunmehr andere Geister als die seriösen Museumsleute in den USA: Eine auf japanische Bitte hin nicht gedruckte Atompilz-Briefmarke wurde vom “Volk” selbst produziert. Unter der Atomwolke steht: “Keine Entschuldigungen, Hiroshima bombardiert, 6. August 1945”; “Denkt an Pearl Harbor!”; “Stolzes Gedenken” etc.

Eine Ausstellung zeigt viele “grandiose Atompilze” aus Militärarchiven. T-Shirts mit Atompilz sind im nationalen Atommuseum zu kaufen. Dort zeigt man auch originalgetreue Nachbildungen von “Little Boy” und “Fat Man”, den Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Auf “einzigartigen Bechern” zur Erinnerung für Zuhause sind die beiden auch abgebildet: “Genießen Sie Ihr Lieblingsgetränk!”

Nach Hiroshima wurden die Vereinigten Staaten von Amerika zu derjenigen Weltmacht, die ab 1945 bis heute weltweit die meisten Angriffskriegshandlungen begangen hat. Unbeirrt hielten sie fest am Selbstbild jener “unschuldigen Nation” unter Gott, die Jefferson einst gepriesen hatte. Die Ideologie vom gerechten Krieg fand, wie Coulmas bemerkt, eine feste Verankerung im kollektiven US-amerikanischen Selbstverständnis. Der zivilreligiöse Glaube an Auserwähltheit, göttliche Inspiration der Verfassung und eine von der Vorsehung bestimmte globale Mission für die Menschheit verfestigte die Annahme, US-Amerika könne auch bei der Anwendung von Waffen keine Schuld auf sich laden.

Indessen zeugt die ängstlich überwachte öffentliche Erinnerungskultur von einem Mechanismus der Schuldabwehr. Noch mehr aber muss von einem geschichtspolitischen Machtinstrument im Dienste weiterer Kriegsführung gesprochen werden:

“Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten.” (Theodor Adorno: Minima Moralia, 1944)

“Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki”, so konstatierte im Zuge des Antiterrorkrieges Walter Russell Mead (USA), Mitglied des Council on Foreign Relations, “sind bis heute ausgesprochen populär.” Ein Bewusstsein für die Folgen der “populären Bomben” ist kaum verbreitet. Die Umdeutung zentraler Begriffe der Vergangenheit bereitet keine Probleme.

Der Irak-Operationsname “Shock and Awe” soll erstmals von einem Mitarbeiter des Manhattan-Projekts benutzt worden sein, um das Ziel der ersten Atombomben - Schrecken und (Ehr-)Furcht zu verbreiten - auf den Punkt zu bringen. Ursprünglich verstand man unter “Ground Zero” 1945 den Messpunkt, von dem aus beim ersten Atombombentest der USA in Alamagordo die Ausbreitung der Strahlungen gemessen wurde. Nach Hiroshima bezeichnete Ground Zero die Zerstörung einer ganzen Stadt bis auf den Grund. Zukünftige Generationen aber werden, wie Florian Coulmas wohl zu recht befürchtet, mit Ground Zero allein einen Ort in New York erinnern. Er steht dann ausschließlich für 3.000 unschuldige Opfer aus den USA.

Können wir uns die Verdrängung leisten?

Bislang hat kein US-Präsident Hiroshima und Nagasaki besucht. Die US-amerikanische Kultur verweigert seit langem den Opfern dieser beiden Städte, sich selbst und der gesamten Weltgesellschaft die Erinnerung an die ersten Atombomben.

Robert Lifton hat in seinen Arbeiten sehr früh gezeigt, wie solche Verdrängung einen Kult des Todes hervorbringt. Im Kino-Armageddonismus dient der Weltuntergang schon lange zur kurzweiligen Unterhaltung. Die Errungenschaften der Kriegstechnologie preist man ausdrücklich als jene Instrumente an, die die Menschheit zur Abwehr globaler Katastrophen benötigt. Die zentralen Überlebensfragen der Zivilisation werden weithin auf dem Niveau der Coca-Cola-Werbung abgehandelt oder durch irrationale Mythen verschleiert.

Die Nuklearisierung der Weltpolitik ist durch Militärdoktrinen und Forschungsprojekte in ein neues Stadium getreten. Der Internationale Gerichtshof, der ein Hauptorgan der UNO ist, hat 1996 die Völkerrechtswidrigkeit der Drohung mit Nuklearwaffen und des Einsatzes von Atombomben festgestellt. Im Bewusstsein der Weltgesellschaft ist das kaum präsent.

Man könnte behaupten, das Atomzeitalter habe keine durchgreifende Veränderung der Zivilisation und der Weltkultur mit sich gebracht, weil der Mensch einfach zu schwach ist, sich ohne Verschleierung die “Apokalypse” vorzustellen und sich ihr zu stellen. (Entsprechend wäre dann z.B. auch die Unfähigkeit unserer Gattung zu erklären, auf die drängenden Prognosen zu einer Klimakatastrophe vernünftig zu reagieren.) Sehr viel spricht jedoch für eine andere Deutung: Macht und Medien-Ökonomie haben die Erinnerung der öffentlichen Kultur so gelenkt, dass die Empörung wider den Angriff auf das Leben begrenzt blieb. Nur deshalb scheint es heute so, als könne die zivilisatorische Errungenschaft einer Ächtung des Krieges jederzeit rückgängig gemacht werden.

Die Menschheit benötigt Erinnerung und den Blick in den eigenen Abgrund zum Überleben. Ohne eine gewandelte Erinnerungskultur - jenseits der Angst - wird sie nichts von dem lernen, was sie für eine Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen braucht.

Der Autor Peter Bürger ist Theologe und Publizist. Soeben erschienen ist sein Buch “Hiroshima, der Krieg und die Christen” (203 Seiten; 15 Euro).

Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: In: Telepolis , 31.7.2005. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Erlaubnis von Peter Bürger.

Der hier veröffentlichte Text bildet gemeinsam mit den beiden bei Telepolis veröffentlichten Artikeln eine Trilogie:

Veröffentlicht am

04. August 2005

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