Verbundenheit und Entwicklung - Die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehenWorte bei einem Gottesdienst für Cindy SheehanVon Robert Jensen - ZNet 15.08.2005 [Robert Jensen spricht in einem interkonfessionellen Gottesdienst in der St. Andrews Presbyterian Church in Austin, Texas am 14. August 2005] Wir haben uns heute Abend hier versammelt, weil uns Cindy Sheehans Mut herausfordert. Wie sie mit dem elementaren Verlust ringt, den sie erlitten hat, ist für uns Anlass, uns (erneut) dem Frieden zu verpflichten sowie Aktionen, die notwendig sind, um Frieden in der Welt zu schaffen. Und noch eine Chance liegt in Cindy Sheehans Mahnwache - Frau Sheehan ist über ihren elementaren Verlust hinausgewachsen. Obwohl ich nicht in der Kirche bin, werde ich mich der Kirchensprache bedienen: Es geht um die Versöhnung zwischen dem Geist und dem Fleisch, in dem unser Geist lebt. Als Menschen aus Fleisch und Blut kennen wir uns am besten mit unserer Umgebung aus, wir lieben diejenigen, die uns umgeben. Wir sehnen uns nach Verbindung mit realen Menschen an realen Orten, Menschen, die wir anfassen können und die uns anfassen können. Am meisten lieben wir die Menschen um uns herum. Wir halten unsere Kinder in den Armen, wir atmen mit ihnen und lieben sie zutiefst mit jedem Atemzug. So sollte es auch sein. Wir sind Fleisch, das berührt und wieder berührt wird. Aber wir sind auch Geist. Wir wissen, um uns als Menschen zu verwirklichen, müssen wir mehr sein als nur Fleisch. Und so ist uns bewusst, dass es keinen Unterschied geben darf zwischen der Art, wie wir jene behandeln, die wir lieben und jene auf der anderen Seite der Welt, die wir niemals kennenlernen werden und niemals berühren. Wenn unser Leben und das Leben jener, die wir lieben, etwas wert ist, dann aus dem Grund, weil wir alle das gleiche Recht auf Leben und Würde haben (wir alle haben ein Anrecht auf Leben und Würde, weil wir es verdienen und weil wir Menschen sind). Wir wissen, dass die Kinder, die wir in unseren Armen halten, nicht mehr und nicht weniger wert sind als die Kinder, die wir niemals sehen werden - in den Armen gehalten von Menschen, die wir niemals kennenlernen werden. Wenn unser körperliches Leben irgendeinen Sinn ergeben soll, darf unser Geist sich nicht allein auf jene konzentrieren, die wir lieben und berühren. Es ist unser Kampf, und es ist ein harter Kampf. Wenn wir jemanden verlieren, den wir lieben oder jemanden leiden sehen, den wir berührt haben und der uns berührte, dann geht uns das natürlich näher. Unser Fleisch schmerzt. Deshalb sind wir schließlich Menschen. Gleichzeitig müssen wir uns dazu zwingen, auch das Leid jener wahrzunehmen, die wir nie berühren werden. Unser Geist sollte nicht weniger schmerzempflindlich sein als unser Fleisch. Das gehört zum Menschsein. Wenn wir wirklich der/die sind, der/die wir vorgeben zu sein - und tatsächlich an die Dinge glauben, zu denen wir uns bekennen bzw. die Welt schaffen wollen, die wir vorgeblich wollen -, müssen wir uns mit diesen Dingen auseinandersetzen. Ein harter Kampf. Cindy Sheehan musste etwas tun, das in mir Panik erzeugt, wenn ich nur davon höre. Sie musste ihr eigenes Kind begraben. Ich werde beten - zu jedem Gott, zu allen Göttern, von denen jemals irgendjemand geträumt hat -, dass ich nie zu dem gezwungen sein werde, zu dem diese Frau gezwungen war, nämlich, in das Grab meines eigenen Kindes zu blicken. Cindy Sheehan und all die andern, die durch die US-Invasion und Besatzung des Irak geliebte Menschen verloren haben, sind Teil unserer Gesellschaft, unserer Nation. Es fällt uns leicht mit ihnen zu fühlen, mit ihnen zu trauern, das sollte auch so sein, wir sind anständige Menschen. Aber indem wir unsere Verbundenheit mit Sheehan bekunden und mit ihr trauern, verpflichten wir uns gleichzeitig zur Weiterentwicklung unseres Selbst. Im Irak trauern Tausende Iraker, Zehntausende, auch sie müssen von uns wahrgenommen werden. Es sind Menschen, die ihre Kinder beerdigt haben, ihre Eltern, ihre Freunde. Sie mussten jene beerdigen, die sie berührt haben und von denen sie berührt wurden. Irgendwo im Irak blickt jetzt eine Mutter in das Grab ihres Kindes, ein Freund beweint seinen Verlust, eine Gemeinschaft versammelt sich - wie wir uns jetzt hier versammeln -, um einen Sinn zu finden in einer Welt voller Leid. In diesem Moment trauern im Irak Menschen in gleicher Weise wie Cindy Sheehan, wie wir alle trauern. Wir fühlen uns verbunden - mit einer Kirchengemeinde, einer Gemeinschaft, der Nation. Wir spüren diese Verbundenheit, aber wir dürfen an diesem Punkt nicht aufhören. Verbundenheit ist nicht alles, sondern nur der Ausgangspunkt, von dem aus wir kämpfen sollten, um uns weiterzuentwickeln. Was soll aus uns werden? Jedenfalls nicht nur eine Person, die irgendeiner Kirchengemeinde, einer Gemeinschaft, einer Nation angehört. Wir müssen Geist im Fleische werden. Wenn wir dies hier - das heißt, in den Vereinigten Staaten - tun, rückt eine Verpflichtung in den Mittelpunkt. Wir leben in der mächtigsten Nation in der Geschichte der Welt, in der reichsten Nation in der Geschichte der Welt. Diese Macht und dieser Reichtum sind das Resultat von Gewalt. Beides wird durch Gewalt aufrechterhalten. Wir können uns dafür entscheiden, die Macht und den Reichtum zu beschützen und dadurch Teil der Gewalt zu werden, oder wir entscheiden uns, mit dazu beizutragen, eine andere Welt zu schaffen. Um diese Welt zu erschaffen, müssen wir uns dafür entscheiden, Risiken auf uns zu nehmen, die weit über das hinausgehen, was die meisten von uns bisher auf sich genommen haben. Es kommt eine Zeit, vielleicht ist sie nicht mehr fern, dann werden die Entscheidungen noch härter werden als heute. Und wir sollten uns darauf vorbereiten - gemeinsam. Indem wir dies tun, entsteht vor uns das Bild einer anderen Welt - keine Welt ohne Leiden, so einen Ort gibt es nicht -, aber eine Welt, in der niemand leiden muss, um unsere Macht und unseren Wohlstand zu beschützen. Um dies zu tun, müssen wir mehr sein als lediglich Mitglieder einer Kirchengemeinde oder einer Gemeinschaft. Wir müssen mehr sein als nur Amerikaner. Das wird schwierig, aber der Kampf lohnt sich. Ich glaube, sobald wir dieses Geistes sind, werden wir feststellen, dass wir auch als Menschen des Fleisches (where we belong) inniger lieben können als je zuvor. Anmerkungen: Robert Jensen ist Professor für Journalismus an der Universität von Texas in Austin, ein Gründungsmitglied des Nowar Collective und Mitglied des Vorstandes des Third Coast Activist Resource Center . Er ist der Autor von The Heart of Whiteness: Race, Racism, and White Privilege und Citizens of the Empire: The Struggle to Claim Our Humanity (beide bei City Lights Books). Er kann erreicht werden unter rjensen@uts.cc.utexas.edu . Quelle: ZNet Deutschland vom 19.08.2005. Übersetzt von: Jörn. Leichte Bearbeitung: Michael Schmid. Orginalartikel: “Belonging and Becoming. The Challenges We Face.” . Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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