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Ein Europäisches Pluriversum! Aufruf zu einem Verfassungsprozess. Hin zu einem Europa der Besonderheiten!

Von Wolf-Dieter Narr/Heiner Busch

Ein Europäisches Pluriversum!
Aufruf zu einem Verfassungsprozess
Hin zu einem Europa der Besonderheiten!

Das sind drei an uns selbst und an andere gerichtete Aufforderungen. Sie hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie anlässlich einer Tagung in Arnoldshain vom 16.-18. September 2005 in einem länger begründeten Aufruf (>> hier als PDF-Datei ) formuliert. Das Thema der Tagung: “Statt EU von oben - Für ein demokratisch-menschenrechtliches Europa von unten”.

Ausgangspunkt des Arnoldshainer Aufrufs ist der in Frankreich und den Niederlanden zunächst gescheiterte “Vertrag über eine Verfassung für Europa”. Die Bundesrepublik Deutschland hat diesem Entwurf schon fast 100prozentig zugestimmt. Allerdings erfolgte die blinde Zustimmung durch den Bundestag, nicht durch die Bevölkerung. Diese von den Mehrheiten der französischen und niederländischen Bevölkerung geschaltete rote Stopp-Ampel gibt uns allen die Chance, uns endlich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was als sogenannte Europäische Union schon Wirklichkeit ist. Die Auseinandersetzung muss darüber hinaus vor allem dem gelten, was mit Hilfe des Verfassungsentwurfs legitimiert und zukünftig angestrebt wird.

Ohne dass wir Bürgerinnen und Bürger es zureichend wissen, bestimmen Gesetze, Regeln und materiell wirksame Entscheidungen der Einrichtungen der EU schon heute in hohem Maße unseren Alltag. Dass wir so wenig darüber wissen und die Regelungen beispielsweise im Schul- und Hochschulalltag, in der Flüchtlings- und Asylpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt nur hinnehmen können, hat vor allem damit zu tun, dass diese Europäische Union uns regierungsamtlich und bürokratisch von oben aufgestülpt worden ist. Daran ändern periodische Wahlen zum Europäischen Parlament, daran ändert das weithin ohnmächtige Parlament selbst nicht das Geringste. Auch der Zug des Verfassungsentwurfs, der jetzt von den Bevölkerungen der beiden westlichen Nachbarstaaten angehalten worden ist, führte demokratisch nicht weiter. Die im Umfang riesige Verfassung ist nichts anderes als ein Zwerg, was die Möglichkeiten bürgerlicher Mitbestimmung oder nur ihres Verständnisses angeht. Die Fehl-Verfassung segnet das bestehende von staatlichen Exekutiven regierte, von Bürokratien dirigierte Europa nur ab. Mehr noch: sie setzt es als expandierenden, von Großkonzernen durchfurchten Konkurrenzblock im Weltmarkt noch freier. Dazu dienen die einzig “originellen” Teile des Verfassungsentwurfs. Sie sind darauf gerichtet, diese Europäische Staatenunion mit kapitalistisch imperialen Zielen polizeilich und militärisch aus- und aufzurüsten. Dies geschieht soweit, dass “europäische” Macht- und Wohlstandsinteressen nach innen und außen jederzeit und überall, notfalls mit polizeilich-militärischer Gewalt wahrgenommen werden können.

Ist das “unser” Europa? Ist das ein Europa, das alle ersehnt haben, dem verhängnisvollen Nationalismus und seinen mörderischen Kriegen abhold? Entsprechen dieser Verfassungsentwurf und die von ihm im Artikelgewirr abgedeckte Wirklichkeit der EU unserem europäischen Selbstbewusstsein und Verlangen? Dass Europa sich durch seine kulturelle Vielfalt auszeichne? Dass seine Bevölkerungen allen Einheitsbrei scheuten? Dass sie an ihrem Geschick beteiligt sein wollten? Dass sie endlich nach Millionen und Abermillionen von Toten und schlimmen kolonialen Vergangenheiten entdeckt haben, wie entscheidend der radikale Minderheitenschutz sei? Dass wir endlich andere anerkennen und behandeln wie uns selbst. Und darum selbstbewusst und frei von Angst leben könnten?

Wie sich die EU entwickelt hat, entspricht keiner der in den Fragen enthaltenen Vorstellungen und Hoffnungen. Der Verfassungsentwurf wollte die schlechte und sich schlechter entwickelnde Wirklichkeit nur mit dem Legitimationsschleier verbergen. Dieser hülfe demokratisch menschenrechtlichen Zielen nicht im Geringsten. Die Europäische Grundrechtscharta ist ein Pudding mit Schau-Erdbeeren.

Darum ist nun ein anderer Verfassungsprozess einzuläuten. Jenseits der augenoffenen Opposition gegen die herrschende EU als die EU herrschender Interessen gilt es einen Prozess der Bürgerinnen und Bürger vieler europäischer Länder in Gang zu setzen. Dieser kann nicht in einer Verfassung der Europäischen Union enden. Er wird sich darauf konzentrieren müssen, strikt friedenspolitisch, an gelebten Menschenrechten und strikt an der europäischen Vielfalt ausgerichtet, eine Fülle kommunaler und regionaler Verfassungen so zu koordinieren, dass regionale und überregionale Kooperationen, Arbeitsteilungen und Ausgleichsbewegungen möglich sind.

Diesem Verfassungsprozess von unten gilt der Aufruf als erster europäischer Fanfarenstoß. Er kommt spät. Doch er kommt nicht zu spät, wenn die Gefahren eines ökonomisch-militärisch aggressiven Machteuropa einerseits und die Chancen eines demokratisch menschenrechtlich fundierten Europa der Vielfalt ohne Fremdenhass und Ausschluss begriffen werden.

Quelle: Komitee für Grundrechte und Demokratie - Pressemitteilung vom 19.09.2005.

Veröffentlicht am

20. September 2005

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