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Wähler im Krieg gefangen

Von Dahr Jamail - Dahr Jamail’s Dispatches / ZNet 17.09.2005

Seit Tagen belagern mindestens 6.000 amerikanische Militärs und rund 4.000 irakische Soldaten (sprich: Angehörige der kurdischen Peschmerga und der schiitischen Badr-Armee) die Stadt Tal-Afar, nahe Mosul (Nordirak). Laut Schätzungen haben rund 90 Prozent der Bewohner Tal-Afars ihre Häuser inzwischen verlassen - aufgrund der Gewalt und der Zerstörung durch die Belagerung, aber auch, weil die Menschen den Heckenschützen und den Häuserrazzien entrinnen wollen.

Das Modell Falludschah hat hier seine Nachahmung gefunden - wenn auch in etwas kleinerem Maßstab. Bislang ist nicht bekannt, ob auch in Tal-Afar biometrische Erkennungs-Scans zur Anwendung kommen, wie damals in Falludschah (Iris-Scans, Fingerabdrücke, Strichcodes für Menschen). Aber es gibt andere verblüffende Gemeinsamkeiten mit der im letzten November in Falludschah angewendeten Taktik.

So behauptet das US-Militär, bei seiner Operation rund 200 “Terroristen” getötet zu haben (siehe Falludschah). Berichte vor Ort lassen jedoch darauf schließen, dass die meisten Kämpfer, die sich in Tal-Afar befanden, die Stadt längst verlassen haben - um in keinen direkten Kampfkontakt mit ihrem militärisch weit überlegenen Gegner zu geraten (eines der Grundprinzipien des Guerillakampfs). Und wie in Falludschah landen die meisten Familien, die aus Tal-Afar fliehen, in Flüchtlingslagern vor der Stadt und leben unter furchtbaren Bedingungen in Zelten. Der irakische Sommer ist einfach infernalisch.

Die Los Angeles Times zitiert einen Führer der in der Region ansässigen Turkmenen namens Ezzedin Dowla: “Die Familien sind heimatlos, und die Regierung hat keinerlei Unterkunftsmöglichkeiten für sie vorbereitet, keine Nahrung und nichts zu trinken” - auch das US-Militär nicht.

Im Fadenkreuz der Militäroperation stehen die sunnitischen Turkmenen, die politisch an der Seite der arabischen Sunniten stehen. Die meisten Sunniten werden am 15. Oktober gegen die neue Verfassung stimmen.

Die Cheney-Administration sucht verzweifelt nach Spin-Neuigkeiten aus dem Irak, die sich als “gute Nachricht” verkaufen lassen. Da kommt das Verfassungsreferendum gerade recht - als etwas, mit dem man sich brüsten kann. Voraussetzung wäre allerdings, dass die Sunniten (beziehungsweise die sunnitischen Turkmenen) nur sehr eingeschränkt in der Lage sein werden, sich an der Abstimmung zu beteiligen, dass sie entmachtet und bestraft sind. Zurecht wird davon ausgegangen, dass die Sunniten mit “nein” und somit gegen die Verfassung stimmen werden.

Die Cheney-Administration und die Marionettenregierung des Irak profitieren davon, wenn die meisten Menschen im “sunnitischen Dreieck” der Möglichkeit beraubt sind, zur Wahl zu gehen (bzw. ihrer Lebensgrundlage). Somit ist davon auszugehen, dass die Operation in Tal-Afar nicht die einzige bleiben wird. Ähnliches wird es auch in Al-Qa’im, Haditha, Samarra usw. geben.

In Tal-Afar verbreiten die US-Truppen (und die irakische “Regierung”) die Propaganda, bei der Operation gehe es um die Bekämpfung von Terroristen, die von Syrien aus in den Irak einsickerten. Wenn das stimmt, wie lässt sich dann erklären, dass das US-Militär Truppen von der syrischen Grenze abgezogen hat? Diese Soldaten sollten die weitere Infiltration ausländischer Kämpfer verhindern. Anstatt die Grenze zu schützen, wie gedacht, kamen die Soldaten nun in einer Operation gegen irakische bzw. sunnitische Turkmenen zum Einsatz. Dieser massive Angriff des US-Militärs ist ein Gemeinschaftsprojekt - “autorisiert” vom irakischen Premierminister Ibrahim Jaafari, dem Führer der schiitischen Dawa-Partei. Jaafari ist am Dienstag sogar persönlich nach Tal-Afar gereist, um die Truppen zu besuchen und sich dabei ablichten zu lassen.

Die jetzige irakische Regierung “autorisierte” den Angriff auf Tal-Afar - wie im vergangenen November Interims-Premierminister Iyad Allawi das Massaker in Falludschah “autorisierte”. “Autorisierung” - was heißt das überhaupt? Das US-Militär würde es nie und nimmer zulassen, dass seine Soldaten unter einer fremden Jurisdiktion zur Rechenschaft gezogen werden, geschweige denn, von einer Marionettenregierung (wie der irakischen).

Korrespondenten der ‘Azzaman’-Medien aus Tal-Afar haben es irgendwie geschafft, in die Stadt hineinzukommen. Laut ‘Azzaman” bestreiten die Einwohner Tal-Afars die Meldungen der irakischen und amerikanischen Streitkräfte über angeblich Dutzende getötete “Aufständische”. Vielmehr berichten die Einwohner, bei den meisten Getöteten handle es sich um Zivilisten - Einwohner der Stadt, die nicht wussten, wohin sie gehen sollten und deshalb in ihren Häusern blieben - siehe Falludschah. Die Menschen seien auch deshalb geblieben, weil sie die Peschmerga und die Badr-Armee fürchteten.

Kürzlich befand ich mich im italienischen Perugia - auf der “UNO-Völkerkonferenz”. Dort interviewte ich einen Iraker aus der Gegend von Tal-Afar. Er meinte: “Den meisten in Mosul und Tal-Afar wäre es im Moment lieber, von den Amerikanern gefangen genommen zu werden. Sie wissen, wenn die irakischen Soldaten oder die irakische Polizei sie gefangen nehmen, müssen sie mit schwerer Folter rechnen, möglicherweise mit dem Tod. Das gibt Ihnen wohl einen Eindruck, wie übel die irakischen Soldaten sind - selbst auf dem Hintergrund dessen, was die Amerikaner noch immer in Abu Ghraib tun”.

Zum Thema “ausländische Kämpfer”. Ein Korrespondent von ‘Azzaman’ zitiert einen Einwohner Tal-Afars mit den Worten: “Wir haben (aus Medienberichten) erfahren, dass es einige arabische (ausländische) Kämpfer in der Stadt geben soll, aber gesehen haben wir keinen”.

Das Leben im Irak ist noch immer die Hölle auf Erden. In den Straßen von Khadamiya (Bagdad) floss gestern das Blut. Ein horrendes Autobombenattentat kostete 112 Menschen das Leben. In Khadamiya leben vorwiegend Schiiten. Auch hier wieder Solidaritätsbekundungen von Sunniten des nahegelegenen Adhamiya-Viertels. Die Bewohner Adhamiyas kamen aus ihren Häusern, um ihren Brüdern und Schwestern auf der anderen Flussseite zu Hilfe zu eilen. Das gleiche Bild hatte sich nach jener Chaos-Panik geboten, die vor wenigen Wochen fast 1 000 Schiiten in den Tod riss.

Die schreckliche Todesbilanz des gestrigen Tages: 160 getötete und 570 verletzte Iraker - verletzt bei einer ganzen Serie von Anschlägen bzw. durch mindestens ein Dutzend Autobomben. Hat nicht lange gedauert, bis der staatlich geförderte Terror, den Jaafari in Tal-Afar “autorisierte”, sich in der Hauptstadt Bagdad als Blowback materialisierte.

Wenn Jaafari ehrlich ist, darf er sich nicht nur in Tal-Afar von der Presse fotografieren lassen, sondern muss es auch hier tun, neben den verkohlten, qualmenden Leichenteilen, die überall in den Straßen Khadamiyas herumliegen. Denn das hier sind die (nicht minder schweren) Folgen seiner “Autorisierung” Tal-Afars.

Zum gleichen Thema: Wenige Stunden vor dem einsetzenden Blowback (Khadamiya) trat der irakische Marionettenpräsident Jalal Talabani zusammen mit George Bush auf einer Pressekonferenz in Washington D.C. auf.

Einer meiner Bagdader Freunde hat mir geschrieben: “Lieber Dahr, wie geht es dir, mein lieber Freund? Es tut mir so leid, was nach Hurrikan Katrina passiert ist. Eine echte Tragödie. Ich hoffe, keiner deiner Angehörigen oder Freunde ist betroffen? Eine solche Tragödie macht einen sprachlos”.

Dieser Freund geht jeden Morgen zur Arbeit, ohne zu wissen, ob er abends wieder heil und lebend zu seiner Frau und seiner neugeborenen Tochter nach Hause kommen wird.

Ein anderer Freund aus Bagdad schrieb mir: “Entschuldige, dass ich dir die letzten Tage nicht gemailt habe… Die Situation in Tal-Afar hat sich für die Menschen massiv zugespitzt. Was dort geschieht, ist furchtbar, aber niemand kann etwas (Genaues) sagen, da sie, wie üblich, versuchen, die Medien ganz außen vor zu halten, solange die Militäroperation andauert. Sie haben noch eine zweite Operation in der Al-Anbar-Provinz gestartet, in einem anderen Gebiet. In Kürze werde sie eine Operation in Samarra starten”.

Wenn ich im Irak bin, arbeite ich mit einem Übersetzer namens Abu Talat zusammen, der bereit ist, ein hohes Risiko einzugehen. Hier zur Verdeutlichung, wie groß seine Risikobereitschaft ist: Im letzten November, kurz vor dem Massaker in Falludschah, gab Abu Talat mir grünes Licht, in den Irak zu kommen. Man kann ruhig sagen, die Lage damals war sehr angespannt. Es gab Entführungen und Enthauptungen, wie sie seither an der Tagesordnung sind.

Vor kurzem schrieb Abu Talat mir und einem Kollegen (der gehofft hatte, als Reporter in den Irak reisen zu können) folgende Mail: “Der Verteidigungsminister droht nicht nur Falludschah, sondern auch dem gesamten Gouvernement Ramadi - das kann ich euch absolut glaubwürdig versichern”. (Heute haben US-Kampfflugzeuge übrigens Bomben auf die Stadt Ramadi abgeworfen.)

“Niemand kann euch unterstützen, wenn ihr dort arbeiten wollt. Unsere Situation hier ist sehr kritisch. Aus diesem Grund denke ich, wäre es nicht angebracht, in so einer kritischen Zeit in den Irak zu reisen. Ich heiße all deine Freunde sehr, sehr herzlich willkommen, Dahr, aber nicht in dieser Zeit. Sorry, aber es geht um eure eigene Sicherheit. Passt gut auf euch auf”.

Heute sind erneut mindestens 30 Iraker der Gewalt in ihrem besetzten Land zum Opfer gefallen - und es wird noch schlimmer kommen.

Dahr Jamail’s Iraq Dispatches

Quelle: ZNet Deutschland vom 17.09.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Warring on Voters

Veröffentlicht am

21. September 2005

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