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Gängelei und Kontrolle

Stets unter Generalverdacht: Der Vorwurf, Arbeitslose seien Betrüger oder schlicht zu faul, ist alles andere als neu

Von Frank Niess

Keine Frage: Den Arbeitslosen heute geht es besser als ihren Leidensgenossen vor etwa 120 Jahren, also 1885, als alles langsam und recht mühsam anfing, Gestalt anzunehmen: die Arbeitslosenstatistik, die Arbeitsvermittlung und die Arbeitslosenunterstützung. Aber einiges gleicht sich, zum Beispiel die Stigmatisierung der Arbeitslosen als im Grunde Arbeitsscheue. Da schwingt heute immer noch in Volkes Stimme oder in populistischen Anwandlungen von Politikern der Generalverdacht mit, die Arbeitslosen würden sich auf Kosten der Allgemeinheit um die Arbeit drücken.

Bis in die jüngste Vergangenheit beschämte man die Arbeitslosen mit dem ehernen “Gesetz”, dass, wer Arbeit suche, auch Arbeit finde. Was diese Sicht für sie bedeutete, bekamen die Arbeitslosen bis in die Gegenwart unangenehm zu spüren. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde “Arbeitsscheue” als strafwürdiges Vergehen angesehen. Im Ernstfall landeten solche Verweigerer im Arbeitshaus, dem Zuchthaus durchaus ähnlich. Der Arbeitslose stand nach damaligem Vorurteil meist schon mit einem Bein im Gefängnis. Wenn er nach vergeblicher, dazu noch meist zutiefst erniedrigender Arbeitssuche heimkäme, so die düstere Prognose, “wird er leicht den Mut verlieren und sich jenem fünften Stande, dem der Arbeitsscheuen, anschließen”.

Erst in dem Maße, wie sich die Einsicht in die strukturellen und technologischen Ursachen der Arbeitslosigkeit herausgebildet hat, wurde eine Diskussion angestoßen, wie man die Arbeitslosen versorgen und wieder in Arbeit vermitteln könnte. Sie ebnete der Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung und der Arbeitslosenunterstützung den Weg. Aber die öffentlich-rechtlichen Arbeitsnachweise oder später Arbeitsämter, waren noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Bevormundung der Arbeitslosen, die Tendenz, sie abzuwerten und dadurch die Autorität des gnädig Arbeit vermittelnden Beamten zu verstärken, zieht sich durch die gesamte Geschichte der Arbeitslosigkeit. Die permanente Gängelei der unfreiwillig Untätigen pflanzte sich von einem Arbeitsamt zum nächsten fort. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Diskussion über die mit Arbeitsvermittlung gekoppelte Arbeitslosenversicherung begann, stand sogleich der Gesichtspunkt der Kontrolle im Vordergrund. Wobei die Grenzen zwischen der Kontrolle der Arbeitslosigkeit und der Kontrolle der Arbeitslosen verflossen. Während das eine bedeutete, die Arbeitswilligkeit der Arbeitslosen zu prüfen, hieß das andere politische Disziplinierung. So wurde das Arbeitsamt die Institution, die - indem sie Arbeit vermittelte - zugleich die Arbeitslosen überwachte. Nicht zufällig gingen viele Arbeitsämter aus Polizeibureaus hervor. 1894 waren in Bayern bereits 15 “gemeindliche Arbeitsnachweise ohne besondere Organisation” tätig. “Diese Arbeitsnachweise waren im wesentlichen rein polizeilicher Natur und zumeist auch mit dem Polizeibureau verbunden”. Das traditionelle “Stempeln” sollte nicht nur Schwarzarbeit, sondern gleichzeitig auch “politische Umtriebe” unterbinden. Anfangs mussten sich die Arbeitslosen ein- oder sogar zweimal am Tag beim Arbeitsamt melden. So konnten sie von der Schwarzarbeit abgehalten werden. Diese Praxis hatte in den Augen mancher Politiker aber den Nachteil, dass sie viele Arbeitslose zusammenführte. Wie schnell konnte die sinnliche Erfahrung des Massenschicksals Arbeitslosigkeit in heftige Proteste und Akte der Solidarität umschlagen. 1901 verbot die Polizei beispielsweise eine Arbeitslosenversammlung, weil man “von der Ansammlung unbeschäftigter Menschenmassen eine Störung in der Verwaltung” befürchtete.

Den Sozialpolitikern war daran gelegen, die finanziellen Leistungen für die Arbeitslosen möglichst unter dem Existenzminimum zu halten - nach dem Grundsatz, “daß das öffentlich dargereichte Brod nicht reichlicher ausfalle und süsser schmecke, als das selbsterworbene” - und sie schließlich politisch unter Kuratel zu stellen. Nur wer sich bereit erklärte, unter unsäglichen Bedingungen harte Zwangsarbeit zu verrichten, bekam dort das Allernötigste zum Überleben. Gesetze wie das preußische Armengesetz vom 21. Mai 1855, das die Einsperrung Arbeitsloser in ein Arbeitshaus auf dem Verwaltungswege zuließ, oder das Arbeitsscheuengesetz von 1912 in Preußen haben bis in die jüngste Geschichte nachgewirkt. Erst 1974 entfiel die Möglichkeit, Arbeitslose, die sich beharrlich weigerten, zumutbare Arbeit zu leisten, in geschlossenen Anstalten unterzubringen. Strafen drohten von da an in “Sperrzeiten” von erst einmal vier Wochen, in denen es kein “Stempelgeld” gab. Und wurde der betreffende Arbeitslose “rückfällig”, das heißt, lehnte er zum zweiten Mal eine in den Augen der Arbeitsverwalter “zumutbare” Arbeit ab, dann gab es zur Strafe gar kein Geld mehr.

Es verging in den zurückliegenden gut hundert Jahren kaum ein Jahrzehnt, ohne dass eine Wirtschaftskrise die Arbeitslosenversicherung zu einem rigiden Sparkurs veranlasst hätte. Was wie Hartz IV als höchst moderne Arbeitsmarktreform gepriesen wird, ist nichts anderes als ein weiterer Versuch, aus dem unvermeidlichen Dilemma der Arbeitsverwalter herauszufinden, dass sie in den wirtschaftlich mageren Jahren wenig zu vermitteln haben. Schamlos wird den Arbeitslosen die Schuld an ihrer Lage zugewiesen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 44 vom 04.11.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Frank Niess sowie dem Verlag.

Veröffentlicht am

05. November 2005

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