Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Die Fünfte Gewalt

Im Gespräch: Der Ökonom Elmar Altvater über die Emanzipation der Finanzmärkte von Staaten und Politikern sowie die Zeit-Raum-Kompression im Zeitalter der Globalisierung

FREITAG: Die Kernfrage eines Interessenausgleichs in unserer Gesellschaft - eine Umverteilung verfügbaren Einkommens im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit - wird heute von der Politik weitgehend ausgeklammert. Was bleibt, ist die Regression von einer partizipativen, sozialen zu einer rein formalen Demokratie. Ist das eine Art negatives Ende der Politik, die sich aufgibt, weil sie über das ohnehin Laufende hinaus nichts tun kann?

ELMAR ALTVATER: In einer Demokratie bedarf es eines gewissen Basiskonsenses. Die Parteien weichen programmatisch voneinander ab, aber sie verständigen sich auf diesen Konsens. Das waren in der alten Bundesrepublik die berühmte und manchmal auch berüchtigt gewordene freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Westorientierung und die Freiheitsrechte, die sehr stark mit einem sozialstaatlichen Fundament versehen waren.

Dieser Basiskonsens existiert nicht mehr. Er ist ersetzt worden durch das Bekenntnis zu einer pluralen Gesellschaft. Dies aber bedeutet, dass diejenigen, die über ökonomische Macht verfügen, sehr viel mehr Einfluss ausüben können, als jene, die darüber nicht verfügen. Es gibt nur noch ein sehr formales Verständnis von Prozeduren der Demokratie, deren Substanz zusätzlich ausgehöhlt ist - eine große Gefahr, denn Demokratie bedarf der Substanz. Die Menschen wollen nicht nur in irgendwelchen Verfahren, in irgendwelchen Wahlen alle vier Jahre mitbestimmen, sondern sie wollen eine aktive Teilhabe bei der Verteilung des gemeinsam produzierten Wohlstands. Darüber gibt es keinen Basiskonsens mehr, weil es heißt: Diese Verteilung ist Sache des Marktes, das hat nichts mehr mit dem politischen Prozess zu tun.

Die Bürger haben inzwischen ein teils hasserfülltes Verhältnis zu den Akteuren auf der politischen Ebene. Ist das gerechtfertigt? Sind Politiker nicht Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos und ohne Mut, ihre Machtlosigkeit einzugestehen?

Die Politiker sind tatsächlich in diesem Sinne ratlos. Sie sind auch entmachtet. Es gibt ein wunderschönes Buch des SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer mit dem Titel Die Politiker, in dem er genau zu diesem Ergebnis kommt, aus eigener Erfahrung. Er schildert, wie viele internationale Verträge von der Bürokratie ausgehandelt werden, dann ratifiziert werden sollen, und das Parlament gar keine Möglichkeiten mehr hat, daran etwas zu ändern - es findet nur noch Akklamation statt. Man entscheidet über etwas, woran man nicht mitwirken konnte. Das heißt, die Herrschaft der Exekutive wird umso stärker, je weiter die Globalisierung um sich greift, eine Entleerung von politischer Partizipation ist die Folge.

Die von Ihnen angedeutete Emanzipation des Marktes von der Gesellschaft hat mit der Globalisierung einen bisher ungekannten Grad der Verselbstständigung erreicht. Worauf führen Sie das zurück?

Das weltweite Marktsystem wird ja von vielen als eine Bedingung für Demokratisierung gesehen, denn der Markt offeriert Wahlmöglichkeiten für Konsumenten, so wie die Demokratie Wahlmöglichkeiten für Bürger. Das wird zur Parallele verklärt und gesagt: Mit der Ausdehnung des Marktes wächst auch die Demokratie in der Welt. Eine sehr optimistische und vielleicht sogar verlogene Auffassung, denn Markt bedeutet auch Sachzwang, an dem sich die Politik zu orientieren hat, und zwar gegen die Entscheidungshoheit des Souveräns - der Bevölkerung eines Landes. Zusätzlich erodiert mit der Globalisierung die Souveränität von Staaten. Sie spielen nicht mehr die Rolle, die sie ursprünglich einmal im Konzert der Mächte gespielt haben.

Ein entscheidender Faktor für diesen Souveränitätsverlust sind die Finanzmärkte. Gibt es da einen Entmachtungsmechanismus?

Die Finanzmärkte sind heute wahrscheinlich die wichtigsten Märkte überhaupt, sie verkörpern so etwas wie externe Sachzwänge. Der ehemalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Bräuer, hat von Finanzmärkten als der fünften Gewalt in der Demokratie gesprochen - nach Legislative, Exekutive und Rechtsprechung und nach der vierten, der medialen Gewalt. Gegen die Finanzmärkte kann keiner an, wollte Bräuer sagen. Dafür sorgen schon Rating Agenturen, die nicht nur die Kreditwürdigkeit von Unternehmen, sondern auch von Staaten bewerten. Und je schlechter deren Urteil ausfällt, desto höher sind die Zinsen. Aber Zinsen müssen aus Staatshaushalten gezahlt werden, also fehlt Geld für andere Zwecke.

Die Souveränität einer Regierung oder eines Staates ist auf jeden Fall eingeschränkt, es sei denn, man führt eine Kontrolle des Kapital-Geld-Verkehrs ein. Gerade die großen Finanzkrisen in Asien und in Lateinamerika haben gezeigt, mit welcher Macht Finanzmärkte auf nationale Gesellschaften und große Teile der Bevölkerung treffen können.

Sie haben einmal gesagt, dass der Rücktritt Oskar Lafontaines als Finanzminister im März 1999 vor diesem Hintergrund zu sehen sei.

Davon bin ich ziemlich überzeugt. Über diesem Rückzug liegt noch sehr viel Dunkel. Es waren ganz zweifellos auch die Finanzmärkte, die heftigste Propaganda gegen Lafontaine betrieben haben. Es wurden Anzeigen geschaltet in großen britischen Zeitungen gegen “den gefährlichsten Mann Europas”. Und warum war er das? Weil er Kontrollen des Kapitalverkehrs einführen und dafür sorgen wollte, dass die Wechselkurse nicht einfach so, wie es im finanztechnischen Jargon heißt volatil - also häufig und hochgradig schwankend - sind, sondern stabilisiert werden. Er wollte Zielzonen für die Wechselkurse einrichten, die auch eingehalten werden sollten.

Das wäre für kleine und mittlere Unternehmen gut gewesen …

… und für Entwicklungsländer, die meistens gegen die Finanzspekulation der großen Fonds von Banken und multinationalen Unternehmen nichts ausrichten können. In dieser Situation haben die Finanzmärkte gegen Lafontaine heftigst vom Leder gezogen. Wie das im Einzelnen gelaufen ist und wie dann sein Rücktritt zustande kam, das ist historisch noch nicht aufgeklärt.

Neben der Aufhebung der räumlichen Grenzen des Containers Nationalstaat spielt in Ihren Analysen auch die technologische Dimension von Zeit eine Rolle. Inwieweit kann die Durchbrechung einer Zeitgrenze die Demokratie gefährden?

Hier muss man zunächst auf eine Definition von Globalisierung verweisen, die besagt: Wir leben mit einer Kompression von Zeit und Raum, wir vernichten praktisch den Raum, in dem wir die Beschleunigung in der Zeit ermöglichen und etwa in zehn Stunden von Deutschland nach Ostasien fliegen. Das heißt, der Raum spielt nicht mehr die Rolle einer Schallgrenze, wie dies noch für vorangegangene Generationen der Fall war. Allerdings bleiben sehr viele von dieser Zeit- und Raumkompression ausgeschlossen - die Vorzüge von Globalisierung wie größere Mobilität oder verbesserte Kommunikation bleiben einer Mehrheit der Erdbevölkerung verwehrt.

Das Ganze hat Konsequenzen, die man unbedingt sehen muss. Eine davon lautet: Zeit und Raum sind die Koordinaten, in denen sich die Natur bewegt. Also mit der Kompression, der Vernichtung von Raum und Zeit, vernichten wir auch Natur. Das ist ganz offensichtlich. Die ökologischen Folgen von ökonomischen Prozessen im Zeitalter der Globalisierung sind bekannt. Man denke an die Rolle des Verkehrs bei Kohlendioxid-Emissionen. Eine zweite Konsequenz besteht darin, dass demokratische Partizipation eingeschränkt wird, denn die braucht Zeit - Muße und Ruhe. Daher ist alle Beschleunigung, um den Notwendigkeiten der Globalisierung Rechnung zu tragen, dazu angetan, die demokratischen Rechte von Bürgern einzuschränken. Bezeichnenderweise heißt in Deutschland ein Gesetz, das es ermöglicht, Straßenbau-Projekte schnell durchzusetzen, Beschleunigungsgesetz. Die so genannten Sachzwänge setzen sich durch - und die Politik tut das Ihre, dies zu ermöglichen.

Mit anderen Worten, es gibt eine Kollision zwischen dem Zeittakt der Märkte und dem der Demokratie?

So ist es. Es gibt viele Zeitrhythmen, die kollidieren können. Das war immer so - mit der Globalisierung hat sich das verschärft. Die Zeitrhythmen der Märkte und die Innovationsgeschwindigkeiten sind so, dass es sehr häufig zum Crash kommt. Die Einführung von neuen Straßenbahn-Systemen bei Siemens etwa stand so unter Zeitdruck, dass die Fahrzeuge nicht richtig ausgereift sind und stillgestellt werden müssen, weil sie zu gefährlich sind. Das kostet Hunderte Millionen von Euro. Oder die Kompressoren bei Daimler-Benz, die zu schnell entwickelt wurden, nicht funktionierten und zurückgerufen werden mussten. Da werden Rhythmen eingeführt, die sowohl dem gebotenen Innovationsrhythmus als auch den Möglichkeiten der Menschen widersprechen. Erst recht gilt das für die Rhythmen, in denen politische Prozesse ablaufen.

Oder die Rhythmen, in denen sich die Natur entfaltet.

Die braucht viel mehr Zeit, als die Ökonomie ihr lässt. Darunter haben schon jetzt viele Menschen zu leiden.

Ebenso bedrohlich für die Demokratie scheint mir die Tendenz dieses neuen Kapitalismus, eine immer radikalere ökonomische Ungleichheit zu erzeugen und damit das Prinzip der politischen Gleichheit aller Bürger zu unterlaufen.

Eine vollkommene Gleichheit gibt es natürlich nicht. Die ist auch nicht wünschenswert. Wenn aber Reiche bei einem Essen, das der Präsident der Vereinigten Staaten gibt, 500.000 oder eine Million Dollar für den Wahlkampf spenden, dieser Präsident nicht zuletzt dadurch wiedergewählt wird, und diese Leute dann mit einem Botschafterposten in Deutschland oder in Großbritannien belohnt werden - das ist ja passiert - dann sage ich: Hier erleben wir eine höchst fragwürdige Seite von Demokratie. Und damit habe ich mich wirklich sehr vornehm ausgedrückt.

Die Stärke der Marktkräfte bewirke eine Lockerung der Kohäsionskräfte in der Gesellschaft, schreiben Sie. Gibt es eine reale Gefahr, dass die Schicksalsgemeinschaft, als die der Nationalstaat oft apostrophiert wird, zerbröselt?

Ich fürchte ja. Durch die Kürzungen von Sozialleistungen ist vielen Menschen ein Schutz verloren gegangen, den sie aber benötigen, da sie ihn sich mit ihren Einkünften nicht verschaffen können. Sie haben nicht das Geld, dies zu tun. Dann fallen sie heraus, und es geht ein Stück Kohäsion verloren. Wenn man heute durch die Städte geht und sich fragt, wie war das vor zehn oder 20 Jahren, dann sieht man den Verlust von gesellschaftlicher Kohärenz. Die vielen Bettler, die vielen Obdachlosen, die wir in einem reichen Land wie der Bundesrepublik haben, und nicht in einem Drittweltland wie Brasilien, die gab es früher nicht. Es gab dieses berühmte Netz der sozialen Sicherheit, das Helmut Kohl als Hängematte bezeichnete und einzurollen begann. Rot-Grün hat dies im Prinzip nur fortgesetzt. Dadurch ging sehr viel Kohärenz verloren.

Was wird sie ersetzen? War die Demokratie nur eine Schönwetter-Veranstaltung für die Zeiten des Wachstums und des Wohlstands?

Es ist auf jeden Fall richtig, dass Gefährdungen daraus folgen, wenn man Demokratie an das Wachstum bindet und weiß, dass dieses Wachstum an Grenzen stößt. Das bedeutet von der Logik her, dass die Demokratie auch an Grenzen stößt. Ludwig Erhard hat es explizit so gesagt: Jeder bekommt ein Stück vom immer größer werdenden Kuchen, nicht jeder ein gleich großes, aber jeder ein von Mal zu Mal größeres. Da lässt sich Ungleichheit ganz gut ertragen. Aber wenn das Wachstum ausbleibt, können keine Zuwächse mehr - dann müssen Reduktionen verteilt werden. Und das ist für eine Demokratie außerordentlich schwierig. Da werden ganz neue Konflikte auf uns zukommen, und die Neigung, sie autoritär zu lösen, wird mit Sicherheit sehr groß sein.

Sie haben gesagt, dass die demokratische Frage auch durch die Krise der Ökologie radikalisiert wird. Wie ist das zu verstehen?

Wenn sich durch die ökologische Krise Lebensbedingungen verschlechtern und - um sie zu lösen - das Wachstum eingeschränkt werden muss, gibt es im Prinzip nur drei Möglichkeiten, dies in den Griff zu bekommen: Entweder man löst das durch den Markt, das bedeutet, bei zunehmender Ungleichheit können sich die einen schön rauskaufen, Stichwort Emissionshandel, und die anderen haben die ganze Last zu tragen. Oder man löst das Ganze autoritär, durch das Militär. Dafür gibt es inzwischen viele Szenarien. Das Pentagon hat ein Planspiel: Was passiert eigentlich, wenn der Treibhauseffekt dazu führt, dass der Golfstrom abreißt, die nördlichen Breiten des Atlantik kälter werden infolge des Treibhauseffekts, und dann Flüchtlingsströme entstehen? Wie hält man sich die vom Leibe?

Und es gibt eine dritte Variante, die solidarische, indem man fragt, wie werden die Energieressourcen verteilt, wenn wir nicht mehr auf billiges Öl zurückgreifen können? Wie kommen wir zu einer Gesellschaft, die sich auf erneuerbare Energieträger konzentriert? Wie verhindern wir die Vermüllung unserer Landschaft, wie reduzieren wir den Treibhauseffekt? Was tun wir, damit die Biodiversität erhalten bleibt - die ist Voraussetzung für die Evolution des Lebens - und wir Menschen sind Teil dieses Lebens. Wir können uns nicht entwickeln, wenn um uns herum die Natur abstirbt.

Das Gespräch führte Stefan Fuchs


Elmar Altvater …

… geboren 1938 im westfälischen Kamen als Sohn eines Bergmanns, promovierte über “Umweltprobleme in der Sowjetunion” und war von 1971 bis 2004 Professor für Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, an dem er noch immer lehrt. 1970 war er Mitbegründer der PROKLA - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Politisch aktiv war Altvater seit 1979 zunächst bei der Alternativen Liste, dann bei den Grünen. Als deren Bielefelder Parteitag 1999 den rot-grünen Kriegskurs gegen Serbien billigte, ging Altvater auf Distanz zur Partei. Von 1999 bis 2002 war er Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages “Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten”. Altvater gehört dem wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland an.

Neben Fragen der Entwicklungstheorie, der Verschuldung sowie der Regulierung von Märkten beschäftigen Elmar Altvater Auswirkungen kapitalistischer Ökonomien auf die Umwelt. Er gilt zudem als einer der besten Kenner von Marx’ Kapital. Mit Birgit Mahnkopf verfasste er 1996 das Standardwerk Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, das mittlerweile in der sechsten Auflage vorliegt.


Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 45 vom 11.11.2005.

Veröffentlicht am

16. November 2005

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