Brände mit Benzin löschenFrankreich: Ausnahmezustand und sozialer Notstand werden zum “Normalzustand” erklärtVon Rudolf Walther Wenn das Ganze nicht so bizarr wäre, könnte man sagen: die Gallier spinnen - zumindest die Regierenden unter ihnen. Erst verabschiedet die Nationalversammlung mit 346 gegen 148 Stimmen ein Gesetz, das den Ausnahmezustand um drei Monate verlängert - kurz darauf verkünden die Polizeibehörden die Rückkehr des “Normalzustands”. Was meint hier normal? Ist der rechtliche Ausnahmezustand inzwischen der Normalzustand? Bis zum Ausbruch der Krawalle in den Vorstädten am 27. Oktober wurden in Frankreich durchschnittlich pro Nacht 100,3 Autos angezündet. Seither sind es insgesamt etwa 8.500 gewesen, also über 400 pro Nacht - mehr als ein Indiz für einen sozialen Ausnahmezustand, der sich als Gewalt gegen Fahrzeuge, öffentliche Einrichtungen, Polizisten und Feuerwehrleute äußert. Dass der Staat 100 verbrannte Autos pro Nacht monatelang als Normalität hinnimmt, aber mit der scharfen Waffe des Ausnahmezustandes reagiert, wenn die Zahl sich vervierfacht, ist ein politischer Doppelfehler - zuerst anhaltendes Wegsehen, dann blindes Zuschlagen. In den Banlieues bewirkt der Ausnahmezustand deshalb nur eines: Er entlarvt als Heuchelei und Verlogenheit, was Chirac beschwörend deklamiert hat: “Ich will den Jungen in den Quartieren, woher sie auch immer stammen, sagen, dass sie alle Söhne und Töchter der Republik sind. (…) Es ist eine Chance, der französischen Gemeinschaft anzugehören.” Es wäre eine gemeingefährliche Illusion zu glauben, die immensen Konflikte, wie sie sich rund um Frankreichs Metropolen verdichtet haben, ließen sich mit polizeilichen Mitteln lösen, denn die Bewohner der Banlieues befinden sich in doppelter Hinsicht im sozialen Ausnahmezustand. Entgegen der in vielen deutschen Medien von Bild bis Spiegel verbreiteten Lesart: “Sie stehlen, dealen, tricksen. Die Immigranten haben in Frankreichs Trabantenstädten ein kriminelles Netzwerk aufgezogen” ( Stern) - entgegen derartiger Wahrnehmungen sind die randalierenden Jugendlichen mehrheitlich keine “Einwanderer”, sondern junge Staatsbürger mit französischem Pass. Einwanderer waren deren Eltern oder Großeltern. Unter den bislang fast 3.000 verhafteten Jugendlichen fand der Innenminister ganze zehn, die er als Nicht-Franzosen nach Afrika abschieben könnte. Von der Mehrheit der Franzosen unterscheiden sich die Jugendlichen freilich durch ihre Hautfarbe und dadurch, dass sie nicht als gleichberechtigte Bürger behandelt werden und in den Schulen oder auf dem Arbeitsmarkt nicht einen Hauch von Chancengleichheit erfahren. Sie sind da, aber niemand will das wahrhaben. Diesem permanenten sozialen Ausnahmezustand mit dem polizeilichen Notstand zu begegnen, gleicht dem Versuch, Feuer mit Benzin zu löschen. Den Ausnahmezustand überhaupt auszurufen und erst recht, ihn zu verlängern, verstößt gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Das entsprechende Gesetz vom 3. Juli 1955 wurde bisher viermal angewandt: zweimal nur in den Kolonien - nach dem Sturm auf das Gouverneursgebäude in Algier am 13. Mai 1958 sowie nach dem Putsch der Generäle am 22. April 1961 auch im Mutterland. Der Artikel 1 des Gesetzes nennt als Kriterien, um den Ausnahmezustand verkünden zu können, “Ereignisse mit dem Charakter öffentlicher Katastrophen” sowie “unmittelbare Gefahren, die von schweren Störungen der öffentlichen Ordnung ausgehen”. Nichts davon ist eingetreten, es gab in Frankreich weder eine “Katastrophe” noch war der Staat zu irgendeinem Zeitpunkt in “unmittelbarer Gefahr”. Dass die Regierung dennoch zum schärfsten Instrument griff, das nach Artikel 11 auch “alle Maßnahmen” erlaubt, um “die Kontrolle der Presse und von Veröffentlichungen aller Art” zu garantieren, beruht auf einem politischen Kalkül - dem Schielen nach rechts. Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy wollten damit den Rechten in den eigenen Reihen und den Rechtsradikalen um Le Pen ( Front National) und Philippe de Villiers ( Mouvement pour la France) signalisieren: Auch wir sind bereit, gegen “Ausländer” und “Fremde” Stärke und Härte zu zeigen. Sarkozys Beliebtheit stieg rasant und liegt jetzt bei 72 Prozent. Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 47 vom 26.11.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Walther und des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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