Absurdes TheaterVon Gideon Levy, Haaretz, 15.12.2005 Irja! Inzwischen kennt jeder dieses Wort. Es gibt keinen Soldaten an einem Checkpoint, der es nicht ausspricht; es gibt keinen Palästinenser, der es nicht schon gehört hat. “Irja!” schreit ein Soldat zu jemandem hin, den er daran hindern will, den Kontrollpunkt zu passieren. Es heißt: “Geh zurück! Geh weg!” Irja! zu dem Mann, der ein verletztes Kind trägt und es nach Hause bringen will. Irja! zum Bau-Ingenieur, der zur Arbeit will. Irja! zur Mutter, die mit ihrem Baby auf dem Weg zu ihren Eltern ist. Irja! zu dem alten Mann, der seine Enkelkinder besuchen will. Das absurde Theater der Besatzung bringt eine neue Szene, die an alte erinnert. Am letzten Donnerstag hat Yosef Abu-A’adi, 29, den Soldaten Nir Kahana am Qalandia-Kontrollpunkt mit einem Messer angegriffen und getötet. Der Kontrollpunkt wurde sofort geschlossen, und viele tausend Palästinenser durften letzte Woche den Kontrollpunkt nicht mehr passieren. Qalandiya ist - das sollte hier erwähnt werden - ein “Mega-Checkpoint” in den besetzten Gebieten, nicht etwa zwischen diesen Gebieten und Israel. Die grausame Kollektivbestrafung, die letzte Woche verordnet wurde, verurteilte Zehntausende Unschuldiger, denen es sowieso schon schlecht geht, zu noch mehr Schikane. Ist der Checkpoint geschlossen? Nicht wirklich. Er kann passiert werden. Nicht, indem man ein paar hundert Meter geht, wie üblich, sondern indem man mit einer sehr teuren und langen Taxifahrt von fast 50 km und anderthalb Stunden in jeder Richtung, den Kontrollpunkt umfährt. Das ist ein Trip, der fast durch die ganze Westbank führt. Man fährt nach Norden, um ein paar hundert Meter nach Süden zu gelangen, um auf die andere Seite des Kontrollpunktes zu kommen. Ist das nicht Kollektivstrafe? Bald wird der neue Qalandiya-Grenzübergang eingeweiht: eine virtuelle Checkpointstadt mit der abwürgenden Trennungsmauer, eindrucksvoll organisierten internationalen Fahrspuren mit Parkplätzen für Behinderte - welch rücksichtsvolle Besatzung! Steine vom Golan verschönern den Platz und ein großes Schild, das jemand mit großer Chutzpah dort aufgestellt hat: “Die Hoffnung von uns allen!” mit dem Bild einer roten Rose. Der renovierte Kontrollpunkt, der die besetzte Westbank halbiert, wird “die Hoffnung von uns allen sein”. Welch miserable Hoffnung!Das Minibus-Taxi, das wir diese Woche nehmen, um die Absurdität der Fahrerei von Dutzenden von Kilometer zu erleben, nur um den geschlossenen Kontrollpunkt zu umfahren, sagt uns auf Hebräisch: Verzweifelt nicht! Aber dieser Winter in Qalandiya, den die IDF einen Grenzübergang nennen, ist auch weiterhin eine deprimierender. Die Berge von Müll, der Sand, der Stacheldraht und die Zementblöcke, die letzte Woche dorthin geworfen oder aufgestellt wurden, verhindern jede Möglichkeit, mit dem Wagen durchzufahren. Wenn es in Tel Aviv einen Mord gibt, wird dann ganz Tel Aviv belagert? Wenn es in Haifa eine Messerstecherei gibt, kommt dann ganz Haifa ins Gefängnis? Aber hier in den besetzten Gebieten ist alles möglich: ein Mord in Qalandiya und die halbe Westbank befindet sich in Haft. Die palästinensische Presse berichtet täglich von diesem Kontrollpunkt auf ihren vorderen Seiten - aber wer hat in Israel je davon gehört? Wer ist daran interessiert? Ein junger Mann trägt seinen Neffen, ein Kind mit völlig eingegipstem Bein und nähert sich den Zementblöcken, zwischen denen Stacheldraht angebracht ist. Der Grenzpolizist erlaubt - vor lauter Menschlichkeit - dem verletzten Kind die Rückkehr nach Hause; denn Israel erlaubt aus “humanitären Gründen” das Passieren, wie es veröffentlicht hat. Doch der Onkel, der das Kind in seinen Armen trägt, ist kein “humanitärer Fall”. Der Junge kann alleine nicht stehen. Der Onkel setzt ihn wie einen Gegenstand auf dem Zementblock vor den eiskalten Augen des Polizisten ab. “Ich will ihn doch nur in einen Wagen setzen, der ihn nach Hause bringt”, bittet der Onkel, aber den Grenzpolizist rührt dies nicht. “Irja!” (Ein anderer wurde von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen und hatte noch die Narben davon.) Jeder trägt Narben vom Kontrollpunkt an sich. Ein Sozialarbeiter vom Roten Kreuz in Ramallah, der sich als Freiwilliger um Traumatisierte kümmert, versucht dem Grenzpolizisten vergeblich sein Zertifikat der humanitären Organisation zu zeigen und den Zeitungsartikel, dass es “humanitären Fällen” erlaubt sei, zu passieren. “Irja!” Die Traumatisierten in Ramallah können warten. Am Sonntag wurde die Absperrung etwas gelockert. Leute aus Ost-Jerusalem durften passieren - aber nicht die aus Ramallah oder aus der Westbank. Wir gingen zu Fuß durch den schmutzigen Tunnel, wo uns ein junger Mann voller Zorn entgegenkam: “Sie sind Hundesöhne!” Er hatte eine Zigarette geraucht. Der Soldat befahl ihm, sie zu löschen. Nachdem er den Zigarettenstummel in den Müll geschleudert hatte, der dort überall herumlag, befahl ihm der Soldat, alle Zigarettenstummel rund um den Kontrollpunkt aufzulesen. “Ich arbeite nicht für dich!” sagte er und verzichtete auf das Passieren. “Diese ganze Sache mit dem Messer war keine einfache Sache”, sagte der junge Mann. “Es war wahrscheinlich ein Mann, der an diesem Kontrollpunkt sehr gelitten hat. Es ist keine Kleinigkeit, einen Soldaten mit einem Messer zu erstechen.” Der ältere Jedda Darwish hat einen amerikanischen Pass und ein gültiges Touristenvisum für Israel. Er dürfte frei in Tel Aviv spazieren gehen - aber nicht den Qalandyia-Kontrollpunkt passieren, ob er Amerikaner ist oder nicht. “Irja!” … (Um nach Süd-Ramallah zu gelangen, muss man durch Ramallah, Birzeit, an Bethel und Ofra vorbei nach A-Ram. Nach 48 km ist man am Ziel, auf der anderen Seite des Qalandiya-Kontrollpunktes.) Ein Sprecher von IDF sagt: “Der Kontrollpunkt wurde geschlossen wegen des großen Sicherheitsrisikos für die Soldaten, die direkt den Kontakt mit den Palästinensern haben und die Sicherheitskontrollen ausführen. So wurde ein IDF-Soldat von einem Terroristen getötet.” “Da der neue Grenzübergang Qalandiya, der besseren Schutz für unsere Soldaten bietet und bessere Bedingungen für die palästinensischen Bewohner verspricht, bald geöffnet wird, entschied das zentrale IDF-Kommando, keine weiteren Risiken auf sich zu nehmen und mit der Öffnung zu warten, bis der neue Übergang fertig ist. Es sollte noch erwähnt werden, dass trotz des geschlossenen Überganges “humanitären Fällen” und Bewohnern von Ost-Jerusalem das Passieren erlaubt sei. Eine naive Frage: wenn es einesteils für Soldaten hier gefährlich ist und andernteils möglich ist, zu passieren - aber nur über die lange und teure Route - warum nimmt man dann diesen lächerlichen Kontrollpunkt nicht einfach weg? Übersetzung: Ellen Rohlfs Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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