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Zwei konkurrierende Erfindungen: Die Atombombe und die Soziale Verteidigung

Die Studiengruppe “Soziale Verteidigung” in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler

Von Theodor Ebert

In der Zeit des Kalten Krieges stand die Politik im Banne der mutual assured destruction, der wechselseitigen Vernichtungsgarantie. Der Aufbau immer größerer Vernichtungspotentiale, die für eine Mehrfachvernichtung menschlichen Lebens auf der Erde ausreichten - man nannte dies Overkill -, war der verrückte Weg, für eine prekäre Stabilität zwischen dem östlichen und dem westlichen Paktsystem zu “sorgen”, falls man dieses Schlüsselwort moderner Existenzphilosophie auf diesen Irrsinn überhaupt anwenden durfte.

Es gab Entspannungsbemühungen, doch von wirklicher Stabilität konnte keine Rede sein, weil es sich um kein fehlerfreundliches System handelte und ständig die Gefahr nicht mehr zu kontrollierender Abläufe bestand. Der amerikanische Futurologe Herman Kahn nährte zwar mit seinen Szenarien künftiger Atomkriege die Hoffnung bzw. die Illusion, die menschliche Vernunft könne auch die Eskalation atomarer Schläge noch kontrollieren, aber den Physikern, welche die Kernspaltung entdeckt hatten, war deutlich, dass es sich bei den Szenarien Kahns und anderer Vordenker in ihren “think tanks” um höchst gefährliche Illusionen handeln dürfte und dass die Menschheit gut daran täte, sich in ihrer Fantasie auf die historisch völlig neue Möglichkeit der kompletten Vernichtung ihrer Spezies einzustellen.

Angesichts dieser Herausforderung, die in ihrer biblischen Dimension die Schöpfungsgeschichte selbst betraf, entwickelten einige Kritiker der atomaren Abschreckung ein neues Sicherheitskonzept, welches die traditionelle militärische Abschreckung durch die abhaltende Wirkung des vorbereiteten zivilen Widerstands zu ersetzen suchte. Sie nannten dieses Konzept zunächst “gewaltfreie, zivile und soziale Verteidigung”, weil die Methoden gewaltfrei, die Akteure Zivilisten und die Kriegsziele sozialer und nicht territorialer Natur waren. Später setzte sich im deutschen Sprachraum die Kurzform “Soziale Verteidigung” und im angelsächsischen Bereich “Civilian Defence” durch. Das verblüffend Neue an diesem reinen Defensivkonzept war, dass seine abhaltende Wirkung auf potentielle Aggressoren von der Ankündigung gewaltfreien Widerstands für den Fall einer Okkupation ausgehen sollte. Es war jedoch umstritten, ob diese Warnungswirkung im Falle einer Umstellung auf Soziale Verteidigung tatsächlich eintreten würde. Kritiker der Sozialen Verteidigung behaupteten, durch die einseitige militärische Abrüstung würde ein Vakuum entstehen, das Aggressoren geradewegs anziehen und das bestehende Ost-West-Gleichgewicht aus der Balance bringen würde.

Um die behauptete Warnungswirkung plausibel zu machen, verwiesen die Vertreter der Sozialen Verteidigung auf historische Erfahrungen mit unbewaffnetem Widerstand gegen Besatzungsregime. Sie fügten hinzu, dass in der Vergangenheit der gewaltlose Widerstand improvisiert worden sei, wohingegen sie eine möglichst allgemeine Vorbereitung auf den zivilen Widerstand vorsehen würden - in der Erwartung, dass dies zu einer Qualitätssteigerung der Sozialen Verteidigung führe.

Die ersten Konzepte einer solchen gewaltfreien Wehrbarkeit waren nicht erst im Atomzeitalter entwickelt worden, sondern in pazifistischen Kreisen der Niederlande in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Doch erst die Einsicht in die Unmöglichkeit, einen Atomkrieg als lebensfähige Industriegesellschaft zu gewinnen, gab den Überlegungen zur Entwicklung der gewaltfreien Verteidigungskonzepte auch außerhalb pazifistischer Zirkel einen neuen Impetus. Die führenden deutschen Atomwissenschaftler wandten sich in der Erklärung der Göttinger 18 scharf gegen Bundeskanzler Konrad Adenauers verharmlosende Darstellung der Atomwaffen als eine Fortentwicklung der Artillerie. Sie verwiesen auf die neuartige zerstörerische Qualität dieser Waffen und erklärten, dass sie sich an deren Entwicklung nicht beteiligen würden.

Auf der Basis der Göttinger Erklärung entstand die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW). Ihr führender Kopf war Carl Friedrich von Weizsäcker. Einerseits untersuchte er mit einer Studiengruppe die Schadenswirkung atomarer Waffen in Industrieländern, andererseits wünschte er sich parallele Untersuchungen zur Wirkung des gewaltfreien Widerstands, den er über die Taten und Schriften Gandhis zumindest in Umrissen kennen gelernt hatte und der ihm auch zur christlichen Ethik, der er sich durch seinen Glauben verbunden wusste, zu passen schien. Die Schwierigkeit bei der Durchführung der gewünschten parallelen Untersuchungen zum gewaltfreien Widerstand bestand darin, dass die Naturwissenschaftler von Haus aus über keine besondere wissenschaftliche Kompetenz auf diesem Gebiet verfügten. Hier waren sie auf die Kooperation mit Sozialwissenschaftlern angewiesen.

Solche Sozialwissenschaftler gab es in der VDW von Anfang an, aber sie waren noch in der Minderheit. Die Einzigen, die sich mit der Wirkung gewaltfreier Aktionen befasst hatten, waren der Hannoveraner Philosoph und Pädagoge Gustav Heckmann und der Berliner Politologe Ossip K. Flechtheim. Beide kannten die angelsächsischen Forschungen auf diesem Gebiet und hatten Kontakte zu den ganz wenigen deutschen Nachwuchswissenschaftlern, die 1964 an der Civilian Defence Study Conference in Oxford (G.B.) beteiligt waren. Diese internationale Konferenz hatte untersucht, wie aus der Idee der gewaltfreien Verteidigung sich eine operationalisierte Strategie machen ließe. Heckmann und Flechtheim, die auch dem Kuratorium des Ostermarsches der deutschen Atomwaffengegner angehörten, empfahlen der VDW, die Ergebnisse der Oxforder Konferenz aufzugreifen und auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen.

Im Jahre 1966 konnte ich auf einer Tagung der VDW zu “Fragen des Übergangs in die Weltordnung des Atomzeitalters” als frisch gebackener Doktor und Hilfsassistent mit Bibliotheksaufgaben vor der Crême dè la crême der deutschen Naturwissenschaftler einen Forschungsbericht erstatten über die Anwendung von gewaltlosen, zivilen Widerstands in internationalen Konfliktfällen im 20. Jahrhundert. Das war der erste Testlauf, und im September 1967 kam es dann in München dank der intensiven Unterstützung Carl Friedrich von Weizsäckers und unter der Leitung Klaus Gottsteins zu einer Fachtagung der VDW, die sich auf das Konzept der Civilian Defence konzentrierte und die bekannteren Konzepte der wechselseitigen, kontrollierten Abrüstung absichtlich vernachlässigte.

Der Tagungsbericht erregte mit einjähriger Verzögerung öffentliches Aufsehen, als das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” aus meinem Referat “Grundzüge der Strategie der sozialen Verteidigung” fünf Grundregeln des Widerstandes gegen eine Besatzungsmacht publizierte. Anlass für dieses Interesse waren auffallende Parallelen zwischen dem Verhalten der Tschechen und Slowaken im August 1968 und meinen Widerstandsempfehlungen. Walter Ulbricht zog aus diesen Parallelen dann sogar die (durch nichts zu belegende) Schlussfolgerung, dass eine westdeutsche Zentrale der Konterrevolution für dieses Widerstandsverhalten verantwortlich sei und dafür den Begriff des “gewaltfreien Aufstands als Alternative zum Bürgerkrieg” (so der Titel meiner Dissertation) ausgeheckt habe.

Diese Art der öffentlichen Resonanz hatte einen Vor- und einen Nachteil. Der Vorteil war, dass die Untersuchung des gewaltfreien Widerstands hinfort in seiner politischen Bedeutung nicht mehr unterschätzt wurde; der Nachteil war, dass diese Bemühungen in das traditionelle ideologische Schema der Ost-West-Auseinandersetzung eingeordnet wurden. Als sich die Forschung später von dieser Zuordnung distanzierte, blieb die publizistische Resonanz auf diese Forschungen über längere Strecken aus und es mussten verlässliche Bezugsgruppen gefunden werden, welche sich die Strategie politisch zu eigen machen sollten.

Zunächst war jedoch die publizistische Resonanz hilfreich. Auch das Fernsehen brachte Sendungen zum gewaltfreien Widerstand und förderte so das öffentliche Interesse an dieser neuen Forschungsrichtung. Da in dieser Zeit auch die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung und als Förderungsorganisationen die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung und die Berghof-Stiftung für Konfliktforschung gegründet wurden und ich zur Mitarbeit in diesen Gremien eingeladen wurde, hatte ich das Gefühl, dass mit dem neuen Ansatz der gewaltfreien Konfliktaustragung zumindest mittelfristig die Kalte-Kriegs-Situation sich verändern und in eine Friedensordnung überführen ließe.

Im Detail war die Arbeit jedoch schwierig, weil es anders als bei der Entwicklung der ersten Atombombe kein Manhattan-Projekt mit Tausenden von Mitarbeitern und praktisch unbegrenzten Mitteln, sondern nur ganz wenige Personen gab, die darauf vorbereitet waren, sich mit Forschungen zum gewaltfreien Widerstand zu befassen, und im Unterschied zum militärischen Sektor standen auch nur minimale Mittel zur Verfügung. Diese Forschung konnte auch nicht allein am Schreibtisch und in Bibliotheken stattfinden, sondern es bedurfte der Erfahrungen im Feld der gewaltfreien Konfliktaustragung. Das Suchen und Aufzeichnen solcher Erfahrungen wurde später als “Aktionsforschung” bezeichnet. Diese wurde ergänzt durch das Training für die gewaltfreie Konfliktaustragung. Letztere war eine neue Herausforderung für die Erwachsenenpädagogik. Dies ahnte ich noch nicht, als die VDW sich entschloss, die Nacharbeiten zur Münchener Civilian-Defence-Konferenz im Jahre 1970 in eine reguläre Studiengruppe mit einem eigenen Federführenden und einem Sekretär und einem Etat in Höhe von DM 30.000 zu überführen. Diese bescheidene Summe erlaubte ein Honorar für den Sekretär, die Erstattung von Reisekosten und die Vervielfältigung eines Rundbriefs mit den Arbeitspapieren. Das war einerseits wenig, aber angesichts der bisherigen Arbeiten auf privater Basis doch ein erheblicher Fortschritt.

So war es seit 1970 auch möglich, auswärtige Forscher an der Arbeit der Studiengruppe “Soziale Verteidigung”, die sich bisher vor allem aus meinen und Flechtheims Doktoranden und Diplomanden zusammengesetzt hatte, zu beteiligen. Es waren aber doch nur wenige, die den Flug nach Berlin-Tempelhof regelmäßig auf sich nahmen. Hans-Georg Wittig gehörte 1970 noch nicht dazu. Die Nicht-Berliner, die von Anfang an und kontinuierlich mitarbeiteten, waren Wolfgang Sternstein (Stuttgart), Egbert Jahn (Marburg), der Exil-Tscheche Vladimir Horsky (Heidelberg) und der Holländer Hylke Tromp aus Groningen. Auch der Norweger Johan Galtung war immer wieder mal zugegen, wenn er nicht gerade an einem ganz anderen Ende der Welt provozierende Vorlesungen zur Überwindung personaler und struktureller Gewalt hielt. Korrespondierende Partner der VDW-Studiengruppe “Soziale Verteidigung” waren der Amerikaner Gene Sharp (Cambridge, Mass.) und der Engländer Adam Roberts (Oxford), und es bestanden auch vielfältige Beziehungen zu österreichischen, schwedischen und norwegischen Wissenschaftlern. Um den Auswärtigen räumlich entgegenzukommen, traf sich die VDW-Studiengruppe “Soziale Verteidigung” in der Nähe des Flughafens im Club-Raum der Evangelischen Kirchengemeinde Alt-Tempelhof-Ost, deren Gemeindekirchenrat ich angehörte. Auch ansonsten war die Evangelische Kirche mit ihren Einrichtungen immer wieder behilflich. Nach den beiden Münchener Tagungen fand die erste Fachtagung der Studiengruppe “Soziale Verteidigung” in der Evangelischen Akademie am Kleinen Wannsee vom 9.-13. Dezember 1970 statt. Die Ergebnisse erschienen als Doppelheft der 1969 neu gegründeten Zeitschrift “Gewaltfreie Aktion. Vierteljahresheft für Frieden und Gerechtigkeit”.

Die Erforschung der Sozialen Verteidigung war ein weites Feld. Es handelt sich um ein Verteidigungskonzept, bei dem die gesamte Gesellschaft auf dem Prüfstand ist. Um beurteilen zu können, wie widerstandsfähig eine Gesellschaft ist und wie sie auf bestimmte Formen der Unterdrückung und Verführung reagieren würde, bedarf es der Aussagen von Generalisten, nicht nur von Spezialisten. Ich erinnere mich, wie während der Beratungen über die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung C. F. v. Weizsäcker einmal über das Spezialistentum in der Wissenschaft witzelte: “Ein Spezialist ist ein Mensch, der über immer weniger immer mehr weiß, bis er schließlich über nichts alles weiß.”

Die Studiengruppe “Soziale Verteidigung” musste sich also einerseits generell mit der Frage der Widerstandsfähigkeit der deutschen Gesellschaft befassen und andererseits auch spezielles Wissen über gewaltfreien Widerstand und über Unterdrückungsmethoden ansammeln, ordnen und bewerten. Die Nachwuchswissenschaftler in der Studiengruppe, die in der Regel auch nur wenige Jahre jünger waren als ich, konnten schwerlich Generalisten sein und wer sich dies anmaßte, lief Gefahr, angelesene Theorien auf die neuen sicherheitspolitischen Fragestellungen in dogmatischer Form zu übertragen. Diese Gefahr war gerade in den Jahren der außerparlamentarischen Opposition der Studenten außerordentlich groß. Manchmal kam ich mir in der Studiengruppe “Soziale Verteidigung” vor wie in einer Dependance der Frankfurter Schule, so adornitisch ging es zu, aber mehr nach dem Motto: “wie er sich räuspert und wie er spuckt, das hat er ihm trefflich abgeguckt”. Ich fand die allgemeine Diskussionen über die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Sozialen Verteidigung ziemlich lähmend, weil sie leicht auf die Formel hinausliefen: Zuerst muss alles ganz anders werden und dann lässt sich die Revolution auch gewaltfrei verteidigen.

Gewitzte Unterstützung fand ich bei dem Soziologen Vladimir Horsky, der in der CSSR den Marxismus-Leninismus zur Genüge inhaliert hatte und die Nachwuchssozialisten die guten Sitten empirischer Sozialwissenschaft - mit Blick auf Max Weber - lehrte. Mein politisches Ideal war zwar auch der demokratische Sozialismus, aber der Gebrauch der großen, welterklärenden Begriffe war mir unheimlich und ich suchte nach historischen Vorbildern für einige mir vorschwebende Verbesserungen. Ich war bestrebt herauszufinden, welche speziellen Kenntnisse und Interessen bei denjenigen, die für eine Mitarbeit in der Studiengruppe in Frage kamen, vorhanden waren. Erfuhr ich von besonderen Sprachkenntnissen, war der Weg nicht weit, einem Lutz Mez vorzuschlagen, den Widerstand der norwegischen Lehrer im Zweiten Weltkrieg zu untersuchen. Ulrich Poch, dessen Vater in der deutschen Wirtschaftsverwaltung im okkupierten Dänemark tätig gewesen war, schlug ich vor, die deutsche Reaktion auf gewaltlose und gewaltsame Widerstandsaktionen der Dänen zu untersuchen. Gernot Jochheim hatte bei häufigen Urlauben soviel Holländisch gelernt, dass er es sich zutraute, der Vorgeschichte des ersten gewaltfreien Verteidigungskonzepts in den Niederlanden, der so genannten “pazifistischen Volksverteidigung” nachzugehen.

Mit solchen historischen Untersuchungen war - zumindest aus meiner Sicht - bei der Entwicklung von Strategien der Sozialen Verteidigung mehr anzufangen als mit Thesen, welche in der Tradition der Kritischen Theorie die Idee der Verteidigung grundsätzlich in Frage stellten und der Gesellschaftsveränderung die Priorität geben wollten - in der Erwartung, dass sich aus der Kritik dann quasi naturwüchsig respektive dialektisch die richtigen Widerstandsverfahren ergeben würden.

Diese interne Auseinandersetzung in der Studiengruppe war eine Fortsetzung der bekannten APO-Diskussionen an einem neuen Objekt. Ich wurde insbesondere bei einer Vierergruppe, die sich durch eine Analyse der Motive von Kriegsdienstverweigerern qualifiziert hatte und uns zur Diskussion ihrer umfangreichen, ideologiekritischen Ausführungen am Beispiel der Sozialen Verteidigung nötigte, den Verdacht nicht los, dass sie eine echte Gefahr für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gar nicht sah und das Nachdenken über das Verteidigen von demokratischen Errungenschaften für überflüssig, zumindest voreilig, faktisch jedenfalls für eine Ablenkung von vordringlichen, innergesellschaftlichen Veränderungen hielt.

Im Übrigen waren wir in uns in der Studiengruppe ziemlich einig, dass nur eine einigermaßen gerechte Gesellschaftsordnung sich gewaltfrei verteidigen lässt und die Beseitigung von Ungerechtigkeiten ins Vorfeld der Verteidigung gehört. Insofern war es auch fast selbstverständlich, dass die Mitglieder der Studiengruppe Soziale Verteidigung sich andernorts in Bürgerinitiativen, die innenpolitische Ziele verfolgten, engagierten.

Auch wenn die Mehrheit der Studiengruppe in der Tradition des SDS stehende gesellschaftskritische Positionen nicht beziehen wollte und an der Ablehnung aller Formen der Diktatur (zuvorderst der im Warschauer Pakt herrschenden) als Credo festhielt, führte doch die interne Auseinandersetzung mit radikalen, linken Positionen dazu, dass auch die Ideologie des Westens kritisiert wurde und die Existenz von Diktaturen innerhalb der NATO und in ihrem Umfeld als Skandal benannt wurde. Als die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes in Chile durch einen Militärputsch beseitigt wurde, war uns klar, dass dafür die Verantwortlichen in Washington, D.C. zu suchen waren und die Kanaille nicht Franz, sondern Henry hieß. Wenn in Europa ein Staat aus dem westlichen Verteidigungsbündnis aussteigen und sich auf die Soziale Verteidigung verlassen wollte, musste dieser mit politischen, wirtschaftlichen, militärischen und vielleicht sogar terroristischen Sanktionen aus dem Raum des eigenen Bündnisses rechnen.

Die VDW-Studiengruppe “Soziale Verteidigung” arbeitete intensiv in den Jahre 1970 bis 1974. Am Anfang standen historische Fallstudien zum Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht im Mittelpunkt des Interesses. Ab 1971 befassten wir uns mehr und mehr mit den Problemen des Übergangs von der militärischen zur sozialen Verteidigung in Mitteleuropa. Die tragende Überlegung war dabei: Es sollte gelingen, die Bundesrepublik (möglicherweise inklusive der DDR und West-Berlins) nach österreichischem Vorbild zu neutralisieren. Ein Gürtel neutraler Staaten sollte sich von Norwegen bis Jugoslawien zwischen NATO und Warschauer Pakt schieben. Es gab ja bereits einige dieser neutralen Staaten. Direkt war die militärische Konfrontation von NATO und Warschauer Pakt in Deutschland. Dort würde sich die Machbarkeit des Konzepts der Sozialen Verteidigung entscheiden. Dabei schien es uns vorteilhaft, wenn Deutschland den Übergang zur Sozialen Verteidigung nicht im Alleingang besorgen, sondern diesen Schritt zusammen mit anderen gefestigten, europäischen Demokratien tun würde. Es gab in Norwegen, Dänemark und den Niederlanden Forschergruppen, die Ähnliches im Schilde führten. Wir wollten nicht am Kartentisch einen Europa-Plan aushecken, sondern erkunden, wie die Menschen in den anderen europäischen Staaten und insbesondere die dortigen Friedensforscher über dieses Problem dachten.

Auf der Suche nach Übergangslösungen richtete sich das Interesse auf die anderen neutralen Staaten Europas und überhaupt auf den Stand der Diskussion um die Soziale Verteidigung in allen anderen Staaten. Es war eine gigantische Aufgabe für die winzige Studiengruppe der VDW, diese Informationen über die vielen europäischen Staaten zusammenzutragen. Unser Ziel war, diese Informationen zu publizieren - in Verbindung mit Konzepten des Übergangs von der militärischen zur sozialen Verteidigung. Einige von uns machten sich mit großem Elan an die Arbeit. Gernot Jochheim dokumentierte die Diskussion in Österreich; Lutz Mez knüpfte die Verbindungen zu den skandinavischen Staaten; Hylke Tromp, der kompetenteste Niederländer auf diesem Felde, war ständiges Mitglied der Studiengruppe; ich hatte ein Papier über die Lage in Großbritannien in petto. Es fehlte eine Untersuchung der Schweiz.

Hier kam nun Hans-Georg Wittig ins Spiel. Als Lörracher lebte er an der Grenze zur Schweiz und konnte sich in die Mentalität der Schweizer besser einfinden und auch auf dem Wege persönlicher Begegnungen leichter Informationen sammeln als jedes andere Mitglied der Studiengruppe. Wittig war mit den Schriften Carl Friedrich von Weizsäckers vertraut und teilte dessen Einschätzung, dass mit der wissenschaftlich-technischen Möglichkeit, die Menschheit als ganze zu vernichten, ein von Grund auf neues Zeitalter begonnen hat und dieses Atomzeitalter für den gesamten weiteren Verlauf der menschlichen Geschichte andauern wird, weil jene Entdeckung sich nicht rückgängig machen lässt.

Durch seine Begeisterung für die philosophischen Analysen C. F. v. Weizsäckers war Hans-Georg Wittig hochgradig motiviert, sich an den Anstrengungen der VDW-Studiengruppe “Soziale Verteidigung” zu beteiligen. Als ihn sein Tübinger Studienfreund Wolfgang Sternstein im Laufe des Jahres 1972 dazu einlud, sagte er sofort zu. Er sammelte die Informationen über gewaltfreie Sicherheitspolitik in der Schweiz und verfasste bis zum April 1973 die 24-seitige Untersuchung “Zur Geschichte und zum gegenwärtigen Stand der Diskussion über gewaltfreie Konfliktaustragung in der Schweiz”. Sie erschien wie auch die anderen Länderstudien nur im Rundbrief der Studiengruppe. In seinem Falle war es der 17. Rundbrief. Wittig erläutete zunächst die schweizerischen Vorstellungen der abhaltenden Wirkung der Ankündigung eines hohen “Eintrittspreises” bzw. “Aufenthaltspreises”, verband diese mit dem Konzept der Sozialen Verteidigung, untersuchte die schweizerische pazifistische Tradition unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten des religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz und berichtete von den Bemühungen um Willi Kobe und Rudolf Epple, in der Schweiz eine Arbeitsgruppe für Soziale Verteidigung aufzubauen.

Hans-Georg Wittig beteiligte sich aber auch mit einem philosophisch-pädagogischen Text an der sofortigen Vermittlung der Soziale Verteidigung an eine breitere Öffentlichkeit. “Über die geschichtliche Notwendigkeit gewaltfreier Konfliktaustragung im Atomzeitalter” stellte die Verbindung her zu dem von Karl Jaspers und Carl Friedrich von Weizsäcker getragenen Diskurs um die Lage der Menschheit nach der Erfindung und dem Einsatz der Atomwaffen. Wittigs grundlegendes Papier wurde in dem Sammelband “Demokratische Sicherheitspolitik. Von der territorialen zur sozialen Verteidigung” 1974 im Münchener Hanser-Verlag veröffentlicht.

Die Studiengruppe hatte gehofft, dass die Veröffentlichung von “Demokratische Sicherheitspolitik” eine breite Diskussion über die künftige Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und der NATO auslösen würde und sie dann mit ihrer Studie über den mitteleuropäischen Gürtel neutraler, sozial verteidigter Staaten nachlegen könnte.

Im Vorwort zu dem Sammelband mit Beiträgen von Theodor Ebert, Vladimir Horsky, Rolf Niemann, Adam Roberts, Roland Vogt und Hans-Georg Wittig hieß es:

“Sicher und wehrhaft können Demokratien auch ohne Waffen sein, wenn ihre Bürger fähig sind, Aggressoren von innen oder außen zivilen Widerstand zu leisten. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Gruppe von Friedensforschern in dem vorliegenden Band. Sie untersuchen, wie in Situationen, in denen die militärische Verteidigung von Grenzen und Territorien militärisch und politisch aussichtslos ist, die Selbstbestimmung in den sozialen Institutionen mit gewaltfreiem Widerstand verteidigt werden kann. Diese Forschergruppe hält das Feindbild der gegenwärtigen Militärpakte für einseitig. Falls es im Zuge einer breiten Demokratisierungsbewegung zu innergesellschaftlichen Strukturwandlungen kommt, sieht sie gefährliche wehrpolitische Lücken für Staatsstreiche und Interventionen aus dem Bereich des eigenen Bündnisses.

Als die systematischen Forschungen zum zivilen Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik im Jahre 1964 mit der Civilian Defence Study Conference in Oxford begannen, und in der Bundesrepublik von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler in der Studiengruppe “Soziale Verteidigung” aufgegriffen wurden, geschah dies noch im Banne der Feindbilder der NATO und mit betont antistalinistischer Akzentsetzung. Inzwischen sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Verteidigungsform präzisiert und die potentiellen Konfliktsituationen neu bestimmt worden und zwar unter den Eindrücken, welche diese Forscher bei ihrem innenpolitischen Engagement in Bürgerinitiativen gegen kapitalistisches Profitstreben und imperialistische Ausbeutung gesammelt haben. Die Soziale Verteidigung ist für sie kein Instrument, das clevere Technokraten unter den Prämissen einer konservativen Politik an die Stelle einer zu teuren oder ineffektiven militärischen Verteidigung setzen könnten; sie kann nach ihrer Überzeugung nur die wehrpolitische Ergänzung des basisdemokratischen Prozesses zu einer sozialistischen Demokratie sein.”

Mit diesen sozialkritischen Überlegungen hatten die Sozialwissenschaftler die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht und sich ins politische Abseits manövriert. Ohne dass dies ausgesprochen worden wäre, hatte man wohl angenommen, die Erfindung der Atombombe lasse sich gesellschaftsneutral und ohne Konflikt mit den vested interests durch eine entsprechende soziale Erfindung, den gewaltfreien Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik, ersetzen. Dass die Soziale Verteidigung wahrscheinlich nur das Nebenprodukt einer gesellschaftlichen Umgestaltung, also eines basisdemokratischen Prozesses sein würde, war eine - eher unangenehme - Überraschung. Dieses Ergebnis der Arbeit der Studiengruppe passte überhaupt nicht zum herkömmlichen sicherheitspolitischen Diskurs - mit der Konsequenz, dass die Arbeit der Studiengruppe vollständig ignoriert wurde. Es gab nicht eine einzige Besprechung des Sammelwerkes “Demokratische Sicherheitspolitik”. Ohne solche öffentliche Resonanz fehlte den Mitgliedern der Studiengruppe jedoch die Motivation, weiterhin “auf Halde” zu forschen. Der VDW selbst fehlten nach dem Jahre 1974 die Mittel, die Arbeit ihrer Studiengruppen im bisherigen Umfang zu fördern. So war man im Vorstand erleichtert, als die Studiengruppe ihre Arbeit im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung fortsetzen wollte, und verzichtete auch auf die von mir eingeforderte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Konzept “Demokratische Sicherheitspolitik”.

Die Vorarbeiten der Studiengruppe wurden allerdings nicht vergessen. C.F. v. Weizsäcker hat mich in den 80er Jahren bei der Entwicklung eines rein defensiven (militärischen) Verteidigungskonzepts wieder hinzugezogen, wenn auch nur als Spezialisten für gewaltlosen, zivilen Widerstand in besetzten Gebieten.

Die Einsicht der Studiengruppe, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den sozialen Prozessen einer Gesellschaft und ihren sicherheitspolitischen Konzepten, hatte auch gruppeninterne Folgen. Die Befürworter der Sozialen Verteidigung konnten als Gruppe nicht weiter vor sich hin forschen, sondern mussten sich nach den geeigneten sozialen Trägern für dieses Konzept umsehen. Ab Mitte der 70er Jahre sammelten die früheren Mitglieder der Studiengruppe praktische Erfahrungen in ökologisch orientierten Bürgerinitiativen, vor allem in der Anti-AKW-Bewegung. Zum politischen Programm wurde die Soziale Verteidigung zum ersten Mal, als die “Grünen” als Exponenten der Ökologie- und Friedensbewegung in den Bundestag gewählt wurden. Sie hatten die Soziale Verteidigung zu ihrem sicherheitspolitischen Konzept deklariert. Auf Initiative von Roland Vogt und Petra Kelly lud die Fraktion der Grünen im Bundestag im Juni 1984 zu einem international besetzten Hearing über den Aufbau der Sozialen Verteidigung nach Bonn ein. Für die Fortentwicklung der Konzeption war dieses Hearing wichtig, doch innerhalb der Grünen waren die Vertreter der Sozialen Verteidigung zu schwach, um sich momentan gegen die so genannten Realpolitiker durchzusetzen. Dies gelang nicht einmal mit Hilfe des 1989 in Minden gegründeten Bundes für Soziale Verteidigung, in dem sich die pazifistischen Gruppierungen der Bundesrepublik zusammenschlossen, um dieses neuartige verteidigungspolitische Konzept zu entwickeln und lobbyistisch zu vertreten.

Blickt man nach 35 Jahren auf die Anfänge des Konzeptes Soziale Verteidigung zurück, dann waren die Bemühungen nicht vergebens. Beim Unabhängigkeitskampf der baltischen Staaten und bei der Abwehr des Staatsstreiches in der UdSSR im Jahre 1992 hat der gewaltlose, zivile Widerstand eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Doch das Ende des Ost-West-Konflikts hat auch neue Herausforderungen mit sich gebracht. Wer heute auf dem Felde der demokratischen Sicherheitspolitik forscht, muss sich darauf einstellen, in immer neuen Anläufen das Konzept fortzuentwickeln. Und dies ist geboten angesichts der nach wie vor latenten Bedrohung der Menschheit durch die Existenz atomarer Waffen.

Dieser Artikel wurde von Theodor Ebert als Beitrag zur Festschrift für Prof. Dr. Hans-Georg Wittig verfasst, der in der Studiengruppe “Soziale Verteidigung” der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler mitgearbeitet hat.

Veröffentlicht am

05. Januar 2006

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