Kernenergie und Kernwaffen: Siamesische Zwillinge
Der Text von Otfried Nassauer basiert auf der Studie Atomenergie und Proliferation für die Heinrich-Böll-Stiftung. Sie findet sich in dem von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Buch: Mythos Atomkraft. Ein Wegweiser. Berlin 2006. Eine vollständig überarbeitete Fassung befindet sich zum Download hier
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. Nachfolgend abgedruckt sind Einleitungs- und Schlusskapitel dieses ausführlichen Artikels von Otfried Nassauer.
Siamesische ZwillingeKernenergie und KernwaffenVon Otfried Nassauer Die Welt verbraucht immer mehr Energie. Öl und Gas sind endliche Ressourcen. Die Kernenergie steht möglicherweise vor einer Renaissance. Doch die zivile Nutzung der Kernenergie ist technologisch janusköpfig. Sie kann militärischen Zwecken dienen und zur Verbreitung von Kernwaffen führen. Mit dieser Proliferation sind große sicherheitspolitische Risiken verbunden. Das globale Nichtverbreitungssystem von Kernwaffen steckt in einer Krise. Zwischen dem Versuch, die nukleare Bewaffnung weiterer Staaten zu verhindern und die Nutzung der zivilen Kerntechnik auszubauen, gibt es einen unlösbaren Widerspruch. Jeder zivile atomare Brennstoffkreislauf und insbesondere einige der dazu gehörenden Elemente konfrontieren die Welt mit bestimmten Sicherheitsrisiken. Atomare Technologien, das entsprechende Wissen und nukleares Material können weitergegeben werden. Nuklearexperten können reisen oder auswandern. Schon die Existenz einer breiten Palette spezifischer Exportkontrollen, Verlässlichkeitstests für Mitarbeiter und einer besonderen nuklearen Nichtverbreitungspolitik sind ein Nachweis für die Gefahren der Proliferation. Während des Ost-West-Konflikts richteten sich die Proliferationsbefürchtungen vor allem auf Staaten, die an Material, Technologie oder Wissen für Nuklearwaffen herankommen wollten. In den 1960er und den frühen 1970er Jahren gehörten Deutschland, Indien, Israel, Japan und Schweden zu den Ländern, die unter Beobachtung standen. Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zählten Argentinien, Brasilien, Ägypten, Indien, Iran, Irak, Pakistan, Südkorea, Taiwan und Südafrika dazu. Seit den 1990er Jahren stehen der Irak, Iran, Pakistan und Nordkorea ganz oben auf der Liste. Beinahe alle Nichtkernwaffenstaaten, die nukleare Forschung oder Kernenergieprogramme betreiben, sind mit Blick auf ihre Absichten durchleuchtet worden. Dennoch blieb bis zum Ende des Ost-West-Konflikts die Zahl der Länder, die tatsächlich über Atomwaffen verfügten, bemerkenswert klein: Neben den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates hatten nur Israel, Indien und Südafrika die Bombe gebaut. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) und die Bemühungen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) sowie multilaterale und nationale Technologie- und Exportkontrollen in Kombination mit der Selbstbeschränkung der Nichtkernwaffenstaaten sowie Sicherheitsgarantien durch Atommächte und/oder diplomatische Zwangsmaßnahmen haben dazu beigetragen, die Zahl überschaubar zu halten. Südafrika hat nach dem Ende der Apartheid sein nukleares Arsenal wieder abgerüstet. Belarus, Kazachstan und die Ukraine willigten ein, ihre von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen aufzugeben. Anfang der 1990er Jahre gab es sogar eine gewisse Hoffnung, dass nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung die Welt von der Gefahr atomarer Vernichtung vielleicht doch noch einmal befreien könnten. Heute sieht die Situation wieder ganz anders aus. Die Proliferation ist auf einen Spitzenplatz auf der Liste der Risiken für die internationale Sicherheit zurückgekehrt. Einige Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Nuklearwaffenstaaten haben ihre Arsenale nicht so schnell reduziert, wie es viele atomwaffenfreie Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erwarteten. Einige Atommächte sprachen wiederholt von der Notwendigkeit, ihre Atomwaffen zu modernisieren. Die Auflösung der Sowjetunion und die darauffolgende Schwäche Russlands riefen ernsthafte Besorgnis hervor, ob die Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Fähigkeit haben würden, die Atomwaffen, das Nuklearmaterial, die Technologie und das Wissen zu sichern. Nach dem Golfkrieg 1991 deckten internationale Inspektoren ein geheimes irakisches Nuklearwaffenprogramm auf. 1998 musste Pakistan auf die Liste der Nuklearmächte gesetzt werden, weil es Atomwaffentests durchgeführt hatte. Schließlich trat Nordkorea 2003 nach einer langen Hängepartie aus dem Nichtverbreitungsvertrag aus und erklärte, es verfüge nun über Atomwaffen. Seit dem 11. September 2001 ist die öffentliche Aufmerksamkeit für die Risiken der Proliferation erneut und schnell gewachsen. Eine ganz neue Gruppe von Akteuren und potentiellen Nutznießern der Proliferation wurde der Bedrohungsanalyse hinzugefügt: transnationale nichtstaatliche Akteure wie z.B. Terroristen, das Organisierte Verbrechen, religiöse Extremisten und transnationale Konzerne. Während manche Fachleute diese Akteure schon seit vielen Jahren auf ihrem Radarschirm hatten, machten sich Politiker und die breitere Öffentlichkeit erst nach den Terrorattacken von New York und Washington öffentlich Sorgen. Was wäre, wenn Terroristen bei künftigen Terrorattacken eine Atombombe oder eine schmutzige Bombe aus radioaktivem Material und herkömmlichen Sprengstoffen einsetzen würden? Tatsächlich war ein Teil dieser neuen Aufmerksamkeit auf Politiker, Think Tanks und Industrien in den Vereinigten Staaten und anderswo zurückzuführen, die schnell versuchten, aus der Bedrohung durch den Terrorismus - speziell den Terrorismus durch Massenvernichtungswaffen - Verkaufsargumente für ihre eigenen Produkte, Dienstleistungen und Interessen zu machen. Transnationale nichtstaatliche Akteure wie Terroristen könnten in der Tat versuchen, Zugang zu nuklearem Material, zu Technologien und Know-how zu erlangen. Falls diese Gruppen tatsächlich planen, schmutzige, primitive oder sogar hochwertige Nuklearsprengkörper zu bauen, stellt allein die Möglichkeit, dass sie Erfolg haben könnten, ein ernstes Problem dar. Da die Proliferation an die Spitze der Agenda internationaler Sicherheit zurückgekehrt ist, gewinnen auch die Risiken wieder zusätzliche Aufmerksamkeit, die aus Nuklearprogrammen aller Art erwachsen. Die aktuelle Diskussion über das iranische Nuklearprogramm ist ein gutes Beispiel. Man misstraut dem Iran nicht nur, weil er Nukleartechnologie geheim eingeführt und einige seiner Verpflichtungen als nichtnukleares Mitglied des NVV, das den Kontrollen der IAEO unterliegt, verletzt hat, sondern auch aufgrund der Erfahrungen mit dem Irak und Nordkorea. Das irakische Beispiel hatte ja deutlich gemacht, dass ein Land ein militärisches Atomprogramm vorantreiben und vor den Kontrollen durch die IAEO verbergen kann. Auch Nordkorea könnte über ein "ziviles" Nuklearprogramm in den Besitz von Atomwaffen gelangt sein. Obwohl Nordkorea sich massivem internationalen Verdacht und Sanktionen ausgesetzt sah, kam das Land nahe genug an die Entwicklung von Atomwaffen heran, um seinen Austritt aus dem NVV zu riskieren. Heute sind viele Länder darauf bedacht zu verhindern, dass der Iran ein "zweites Nordkorea" wird. Selbst wenn das iranische Nuklearprogramm und die Absichten des Landes rein ziviler Natur wären, wie Teheran behauptet, würde man dem Iran misstrauen. Nach dem Fall Nordkorea werden alle zivilen Nuklearprogramme, die mehr umfassen als Leichtwasser- und Leichtwasserforschungsreaktoren, vermutlich mit sehr viel größerer Skepsis betrachtet als vorher. Der Iran ist nur das erste Land, das sich mit dem entstehenden neuen Klima in der Nichtverbreitungspolitik konfrontiert sieht. Der Iran dürfte der Präzedenzfall für ein künftiges Nichtverbreitungsregime sein. Andere Fälle werden wohl folgen. (…) Eine Welt auf der Suche nach EnergieDie Sorge wächst, ob die heutigen Hauptquellen der Primärenergie - Öl und Erdgas - auch weiterhin den wachsenden Bedarf ausreichend befriedigen können. Die weltweite Nachfrage nach Energie wächst rapide. Seit Asien viele arbeits- und energieintensive Produktionen übernimmt, die früher in der westlichen, sich jetzt deindustrialisierenden Welt beheimatet waren, ist der Energiebedarf dort sprunghaft gestiegen. Eine ausreichende Energieversorgung ist zu einer der Grundvoraussetzungen für die asiatische Entwicklung geworden. Jedoch sind weder Öl noch Gas unerschöpflich oder können zu erschwinglichen Preisen in unbegrenzten Mengen überall und jederzeit geliefert werden. Früher oder später ist mit Engpässen zu rechnen, die entweder aus der Kluft zwischen Nachfrage und Angebot oder aus regionalen Konflikten resultieren. Deshalb ist die Suche nach alternativen und zusätzlichen Energiequellen zu einem maßgeblichen Trend sowohl in der westlichen Welt als auch in den sich entwickelnden Ländern geworden. Die Atomenergie ist eine der Alternativen, die immer stärker in Betracht gezogen wird. Diverse Studien gehen davon aus, dass es möglich sei, die Proliferation zu begrenzen, während gleichzeitig zivile Nukleartechnologie exportiert wird.The Atlantic Council: Proliferation and the Future of Nuclear Power. Washington DC 2004. Die politischen Nichtverbreitungsvorschläge, die angeboten werden, dürften jedoch in etwa so vielversprechend und wirksam sein wie jene, die in den 1960er und 1970er Jahren proklamiert wurden. Sie erlauben es, Zeit zu erkaufen, bis erneut Schlupflöcher und Lücken sichtbar und durch erste Proliferationsfälle demonstriert werden. Wenn nichtstaatliche Akteure beginnen, sich auf diesem Feld zu tummeln, werden Nichtverbreitungsregime, die geschaffen wurden, um die Proliferation zwischen Staaten zu verhindern, vermutlich noch mehr Schlupflöcher aufweisen als früher. Übersehen wird von jenen, die nukleare Technologieexporte trotz der Proliferations- und Sicherheitsbedenken befürworten, dass sie die Existenz einer wichtigen Problematik leugnen. Man kann nicht zugleich ein Maximum an Schutz vor Proliferation und ein Maximum an wirtschaftlichen Vorteilen aus dem Export ziviler Nukleartechnik erreichen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wird die nukleare Proliferation auch in Zukunft ein Problem für die internationale Sicherheit darstellen. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht übertrieben zu behaupten, dass es unmöglich ist, die zivile Nutzung der Atomenergie hundertprozentig resistent gegen Proliferation zu machen. Es ist zwar möglich, die Hürden für die nukleare Proliferation zu erhöhen und das Problem zu begrenzen. Jedoch werden wohl alle vorgeschlagenen und auch umgesetzten Maßnahmen zur Begrenzung des Problems wahrscheinlich mit der Zeit an Wirksamkeit einbüßen. Technologischer Fortschritt und wachsender Zugang zu Technologien wird irgendwann die Versuche erleichtern, auch verbesserte Nichtverbreitungsmaßnahmen zu umgehen. Selbst unter günstigsten Bedingungen ist anzunehmen, dass die Proliferationsrisiken langsam wachsen, weil die Zahl der Länder wächst, die Atomenergie zur Elektrizitätserzeugung nutzen. Mit jedem Land, das sich dem Kreis der zivilen Atomenergienutzer anschließt, gibt es zusätzliche Orte, an denen nukleares Material überwacht werden muss, zusätzliche Experten und Wissenschaftler mit spezieller Ausbildung und Spezialwissen, die beschäftigt werden wollen, und zusätzliche Orte mit Einrichtungen, die durch Terroranschläge verwundbar sein könnten. Die Proliferationsrisiken können aber aus verschiedenen Gründen auch noch weiter steigen: Erstens ist auch Uran eine begrenzte Energiequelle. Die Weltreserven an Uran werden definitiv zu Ende gehen. Um Uran zu einer nachhaltigeren Energiequelle zu machen, muss man geschlossene Brennstoffkreise und damit Technologien wie Wiederaufbereitung und Plutoniumabtrennung nutzen, die höhere Proliferationsrisiken bergen. Zweitens ist einer der Effekte der Globalisierung die Schwächung des staatlichen Gewaltmonopols. Dieses Phänomen wird oft unter dem Rubrum failing states oder failed states abgehandelt. In solchen Staaten haben Regierungen Teile des Territoriums, das sie kontrollieren sollen, nicht mehr unter wirksamer Kontrolle und können dort Sicherheit nicht mehr garantieren. Wenn failing states nukleare Einrichtungen beherbergen, ganz gleich ob zivile oder militärische, so werden sie zu einem großen Proliferationsproblem. Der Zerfall der Sowjetunion hat der Welt viele Aspekte, die eine solche Situation kennzeichnen, bewusst gemacht. Können wir sicher sein, dass Pakistan niemals zu einem failing state wird oder zerfällt? Drittens wird es immer mehr Länder geben, die Lieferanten nuklearer Technologie werden, weil die Zahl der Länder zunimmt, die zivile nukleare Einrichtungen betreiben, und damit auch der Technologietransfer in diese Länder steigt. Die Deindustrialisierung des Westens und die Industrialisierung des Südens werden ein ernsthafter Test für die heutigen Mechanismen der Kontrolle, der Begrenzung oder des Verbots nuklearer Technologieexporte. Einige der potentiellen künftigen Lieferstaaten nuklearer Technologie könnten ein anderes Verständnis von einer legitimen zivilen Nutzung der Nukleartechnik haben als die traditionellen Nuklearmächte und ihre engen Verbündeten. Das wird auch die Systeme zur Kontrolle nuklearer Ausfuhren vor bedeutende neue Herausforderungen stellen. Wenn neue Lieferländer erst einmal beginnen, um Marktanteile zu kämpfen, könnte es durchaus sein, dass die Industrien in den westlichen Ländern ein altes und gefährliches Argument wiederaufbringen, das schon in früheren Jahrzehnten die nukleare Proliferation gefördert hat: "Wenn wir es nicht verkaufen, werden sie es tun. Also ist es besser, wir verkaufen es selbst." 1979 kam eine Studie des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI über die Proliferationsrisiken der Nuklearenergie zu dem Schluss, dass ein geschlossener Brennstoffkreis, der auf multilateralen Anreicherungs- und Brennstoffeinrichtungen beruht, der vermutlich gegen Proliferation resistenteste Weg für die zukünftige Nutzung der Atomenergie sei.Frank Barnaby et al. (Eds.): Nuclear Energy and Nuclear Weapon Proliferation. London, Stockholm 1979. Die Studie drang darauf, entschlossen jene zwei oder drei Jahrzehnte zu nutzen, die durch den NVV und andere Nonproliferationsmaßnahmen an Zeit gewonnen würden, um Anlagen für einen solchen Brennstoffkreislauf zu entwickeln. Seither ist kaum Fortschritt gemacht worden. Warum sollte das künftig anders sein? Atomenergie wird in vielen Ländern noch immer als hochwertige und moderne Technologie angesehen. Deshalb wird sie als ein normaler Weg der Modernisierung betrachtet. Nicht alle Länder werden über die wirtschaftlichen Mittel verfügen, diesen Weg zu gehen. Aber diejenigen, die das finanzielle Potential haben, könnten die nukleare Option wählen. Solange westliche Länder, die am profitablen Export nuklearer Anlagen und Technik interessiert sind, Atomenergie als moderne, umweltfreundliche und billige Energiequelle darstellen, werden sie weitere Länder ermutigen, nukleare Technologie zu nutzen. Indem sie es tun, erhöhen sie zwangsläufig das Risiko der Proliferation.Es wäre eine Überlegung wert, die Atomenergie verstärkt als veraltende Technologie darzustellen. Heute arbeiten in immer mehr Ländern die besten Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler eher an Technologien zur Erhöhung der Energieeffizienz oder an erneuerbaren Energien denn an nuklearen Technologien. Zum Schluss eine Erinnerung: Der Nichtverbreitungsvertrag und das Nichtverbreitungsregime, die zwischen den späten 1960er Jahren und dem beginnenden 21. Jahrhundert geschaffen wurden, fußten auf einem unausgesprochenen "Tauschhandel": Es ist möglich, die Nichtverbreitung und ihre Mechanismen zu stärken. Dies erfordert politischen Willen. Ob dieser Wille existiert, hängt aber in vielen Ländern von sichtbaren Fortschritten bei der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung ab. Der gegenwärtige Mangel an politischem Willen, Fortschritte bei der Abrüstung zu erzielen, könnte sich negativ auf den politischen Willen zur Unterstützung eines strengeren Nichtverbreitungsregimes auswirken. In diesem Fall würde das Regime eher geschwächt als gestärkt.
Quelle: BITS vom 05.04.2006. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Otfried Nassauer.
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