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Mahnmal für die Zukunft

Havarie: Der russische Fotograf Igor Kostin hat kurz nach dem Unglück von Tschernobyl fotografiert

Von Barbara Hug

Die unverhohlene Drohung der US-Regierung, im Irankonflikt gegebenenfalls atomare Waffen einzusetzen, macht die Beschäftigung mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl vor 20 Jahren noch einmal dringlicher. Dringlich ist sie ohnehin, denn die Lehren sind daraus kaum gezogen und die Faktenlage nur unzureichend erfasst und aufgearbeitet. Tschernobyl darf jedoch weder ein Fall für die Geschichtsschreibung werden, noch darf aus den Bewohnern der kontaminierten Gebiete in Belarus, der Ukraine und Russland ein neuer Menschentyp, ein "Homo Tchernobylus", gezeichnet werden, wie es Forscher wie Guillaume Grandazzi und der französische Soziologe Frederick Lemarchand versuchen. Auch die amerikanische Journalistin Mary Mycio beleuchtet die Widersprüchlichkeiten des Verhaltens der Menschen aus den kontaminierten Gebieten in ihrem Buch Wormwood Forest derart, als ob sie nicht nachvollziehbar wären. Unterstellt wird eine unangepasste psychische Reaktion auf das Unglück, die sich etwa in über- oder untertriebener Besorgnis um den eigenen Gesundheitszustand zeige. Diese Art der Beschreibung der Menschen schafft seelische Distanz, statt seelische Verbindung, die als Grundlage von Hilfeleistung nötig wäre.

Igor Kostin war seit den ersten Stunden nach der Reaktorexplosion, am 26. April 1986, als Fotograf der russischen Nachrichtenagentur Novosti am Unglücksort. Kostin konnte auch die Aussicht auf massive Verstrahlung nicht davon abhalten, die er, wie Hundertausende junger Männer, erlitt. Er nahm sich vor, die Katastrophe der Explosion des Reaktorblocks 4 in Bilder zu fassen und für die Mitwelt zu erhalten.

Die Liquidatoren, Aufräumarbeiter nach der Havarie, führen in der todbringenden Umgebung des Reaktors verschiedene Aufgaben aus. Sie spritzen Lastwagen ab, vergraben Dörfer, sie stehen auf dem Nebendach der Reaktorruine und schaufeln Trümmer hinunter. Aufgeblähte Fische liegen verendet neben dem Kühlwasserreservoir. Eine Missgeburt, ein Fohlen mit acht Beinen, ist zu sehen. Lange wird es nicht überlebt haben. Die tote Stadt Pripjat, hoch verstrahlt mit Plutoniumisotopen, steht als erschreckendes Mahnmal für die Zukunft. Ein seltenes Bild sind auch die Ärzte in Schutzkleidung bei den verstrahlten Menschen, die sterben, neben Plastikvorhängen als Schutz vor Infektionen.

Wie ein schlechter Film mutet es aus heutiger Sicht an, dass gegen die Hauptverantwortlichen des Kraftwerks ein Prozess geführt wurde. Wer trug denn eigentlich die Schuld an der Katastrophe? Bis heute werden tatsächlich Alkohol und menschliches Versagen als Ursachen genannt. Aber gibt es nicht einige Fragen, die noch nicht eindeutig beantwortet sind? Bilder vom Epizentrum der Explosion im Reaktor sind zu sehen - Kostin vergisst jede Gefahr während des Fotografierens. Die Atommüllhalden unter freiem Himmel, Reihen um Reihen kontaminierter Räumfahrzeuge, Hubschrauber, Busse, Bagger, Schutt. Immer wieder hat Kostin auch Menschen fotografiert, die schicksalsergeben ihre Aufgaben in den radioaktiv verseuchten Gebieten erledigen, Wache stehen, andere dekontaminieren. Alte und verzweifelte Menschen schleppen ihr Hab und Gut, ohne zu wissen, wo sie hingehen sollen.

Die Bilder der 1. Mai-Parade in Kiew, wo bei bestem Wetter Tausende auf den Straßen waren, stehen in Kontrast zur radioaktiven Verseuchung, von der die feiernden Menschen nichts ahnten. Ausgestattet mit der unzureichendsten Schutzkleidung, mit Atemschutzmasken, die für Chemieunfälle konstruiert waren - so schickte die russische Regierung für die Lösch- und Aufräumarbeiten tausende und abertausende junger Männer an den Ort der Explosion. "Das sowjetische Volk ist stärker als das Atom", war nur eine der ausgegebenen Parolen, um die Männer bei Laune zu halten. Dass das nicht stimmt, war wohl eine Ahnung - das Ausmaß der Lüge wurde aber erst später bewusst. Trotz massiver Vertuschungsmaßnahmen sprach sich die Wahrheit herum, und Pripjat und Tschernobyl wurde evakuiert. Die Dörfer mussten eingegraben, die Tiere erschossen, die verstrahlten Liquidatoren in eine Spezialklinik nach Moskau gebracht werden.

Kostin hat es verstanden, Dimensionen der Reaktorexplosion, auch in ihrer Langzeitwirkung, fotografisch festzuhalten. Seine Kommentare nähern sich der Wirklichkeit, sie geben die tragische Lage der Bevölkerung wieder. Sie war das Opfer dieses Unglücks, und sie sind es bis heute. Kostin war als Kriegsreporter in Vietnam, Kambodscha und Afghanistan, eine, wie er sagt, Schachfigur im Dienst der Propaganda. Kriegsgräuel waren ihm nicht fremd. Tschernobyl habe jedoch einen anderen Menschen aus ihm gemacht. "Heute fällt es mir sehr schwer, mit anderen zusammenzuleben. Ich verstehe nicht, worum sie sich sorgen: ihren Lohn, ihren Alltag, ihre kleinen Herzensnöte. Neben dem Unglück, das ich gesehen habe, ist das alles nichts. Diese Katastrophe hat meine Werte gewandelt. Sie hat mich gereinigt, geläutert." Man wünschte diesem Buch viele jugendliche Leser, die vielleicht nicht einmal den Namen Tschernobyl kennen. Es dient der Aufklärung und gibt mehr als einen neuen Anlass, die "Sicherheit" der Atomenergie zu überdenken. Womöglich kann es auch dazu beitragen, dass sich Widerstand gegen die atomaren Vernichtungspläne der US-Regierung zu regen beginnt.

 

Igor Kostin: Tschernobyl - Nahaufnahme. Interpretiert von Thomas Johnson. Übersetzt von Claudia Kalscheuer. Antje Kunstmann, München 2006, 240 S., 24,90 EUR

 

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 16 vom 21.04.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

27. April 2006

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