Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Casus belli - oder die normative Kraft des Faktischen

Von Andrea Noll - ZNet Kommentar 16.05.2006

2003 führt die amerikanische Regierung entgegen internationalen Warnungen und ohne Deckung durch eine UN-Sicherheitsratsresolution - mit einer Koalition der weniger Unwilligen - den Einmarsch in den Irak durch. Begründung: Der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, die eine Bedrohung für den Weltfrieden darstellten. Diese Kriegsbegründung erwies sich als komplett aus der Luft gegriffen. Zwar konnte das Hussein-Regime gestürzt werden, aber Voraussagen, die westlichen Soldaten würden als Befreier begrüßt, erwiesen sich als falsch. Heute versinkt der Irak in einem blutigen Bürgerkrieg.

Eigentlich hätte man folgendes Szenario erwarten sollen: Seine Irak-Lügen kosten George Bush 2004 die Wiederwahl. Tony Blair, der wiederholt öffentlich eingestehen musste, Großbritannien mit fragwürdigen "Beweisen" über Massenvernichtungswaffen in den Krieg getrickst zu haben, muss seinen Hut nehmen. Angela Merkels politische Karriere ist, nach ihrem Bekenntnis zum Irakkrieg, beendet. Sie hatte mit der Linie der offiziellen deutschen Außenpolitik gebrochen, als sie vor einer USA-Reise im Februar 2003 in einem Artikel für die Washington Post schrieb: "Schröder spricht nicht für alle Deutschen". Aber er sprach für die überwältigende Mehrheit der Deutschen, als er der militärischen Option im Falle Irak eine eindeutige Absage erteilte (inwieweit er sein Wort gehalten hat, bleibt eine andere Frage). Die Süddeutsche Zeitung: "Am 18. März 2003, nachdem die amerikanische Regierung vom irakischen Diktator Saddam Hussein gefordert hatte, er müsse binnen weniger Tage das Land verlassen, sagte Merkel" - neuerdings Bushs ‘partner in leadership’ - "in der ARD: "Wenn wir das Ultimatum unterstützen, dann impliziert das natürlich alle Folgen, die sich aus einem solchen Ultimatum ergeben". Das konnte nur so zu verstehen sein, dass Merkel auch den Krieg unterstützt. Auch später hat sie den Einmarsch nie konkret kritisiert - im Gegenteil: "Man hatte einen Punkt erreicht, an dem Krieg unvermeidbar geworden war. Bei einem Nichthandeln wäre der Schaden noch größer geworden", so Merkel im März 2003" www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/637/57580 . "Mit einer Kanzlerin Merkel stünden heute deutsche Soldaten in Bagdad", stand im SPD-Wahlmanifest 2005. Vielleicht stehen "mit einer Kanzlerin Merkel" bald deutsche Soldaten in Teheran - so, wie sie es bereits in Afghanistan tun und demnächst im Kongo. Wie gesagt, das eigentlich logische Szenario ist nicht eingetreten. Die Irakkriegstreiber wurden belohnt - Frau Merkel mit der Kanzlerinnenschaft.

Was wir momentan erleben, ist ein Déjà-vu. Lediglich ein Buchstabe wurde ausgetauscht, statt Irak heißt der böse Feind nun Iran. Und statt Saddam Hussein, der "Bestie von Bagdad", schießen sich westliche Konzernmedien derzeit auf einen kleinen Mann mit losem Mundwerk ein - nein, nicht John Bolton, sondern Ahmed Ahmadinedschad. Der iranische Premierminister wird zum neuen "Hitler des Mittleren Ostens" hochstilisiert. Und wieder sind es dieselben Argumente von nicht existenten Massenvernichtungswaffen und der angeblich mangelnden Kooperationsbereitschaft des Regimes. Schlimmer noch: Anders als vor dem Irakkrieg scheinen sich führende europäische Regierungen diesmal einig mit Präsident Bush. Großbritannien, Frankreich und Deutschland haben sich als Büchsenspanner hergegeben, um eine Iranresolution im UN-Sicherheitsrat vorzubereiten, die, gemäß Kapitel 7 der UN-Charta, leicht zur militärischen Durchsetzung eventueller Sanktionen missbraucht werden könnte.

Wohlgemerkt, es geht nicht um die völlig überzogenen israelfeindlichen und teilweise antisemitischen Äußerungen Ahmadinedschads, die zurecht kritisiert werden. Es geht um die angebliche Gefahr, die von (noch) nicht existenten iranischen Atomwaffen eventuell eines Tages ausgehen könnte, sollte der Iran sein ziviles Programm der atomaren Wiederaufbereitung tatsächlich ernsthaft weiterverfolgen. Viele Wenns und Abers, eine allenfalls diffuse Bedrohung. In einem aktuellen ‘Stern’-Interview fordert der ehemalige US-Sicherheitsberater Brzezinski sein Land auf, endlich direkt mit dem Mullah-Regime zu verhandeln. Auf die ‘Stern’-Frage, für wie gefährlich er eine mögliche Atommacht Iran halte, antwortet Brzezinski achselzuckend: "Nicht viel schlimmer als im Moment" und später im Interview: "Ich glaube, letztlich wäre ein nuklearer Iran nicht gefährlicher als die Atommächte Indien oder Pakistan. Oder etwa Israel". "Was soll die Welt also tun?" fragt der ‘Stern’ und Brzezinksi: "Man müsste sich auf eine Denuklearisierung des Nahen Ostens einigen, auf eine atomwaffenfreie Zone." www.stern.de/politik/ausland/:Iran-Ein-Iran/560430.html   Noch sperren sich China und Russland gegen eine Iranresolution im Sicherheitsrat, aber die Uhr tickt.

Wir erinnern uns an das deutliche ‘Non’ zum Irakkrieg des damaligen französischen Außenministers Dominique de Villepin, im Frühjahr 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat. Im Frühjahr 2006 droht der französische Präsident Chirac so genannten "Terrorstaaten" mit französischen Atomwaffen und sein Premierminister Villepin nickt kläglich. So ändern sich die Zeiten. Auch Kanzlerin Merkel stellte sich hinter Chiracs kriegstreiberische Äußerungen. "Mit nuklearer Kraftmeierei kann man im Kampf gegen den Terrorismus keinen Blumentopf ernten" kontert Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn in der Berliner Zeitung. Auch die Lage im Iran werde sich auf diese Weise "verschärfen", so Kuhn. Haben die westlichen Regierungschefs nichts aus dem Irak-Debakel gelernt? Sind Pawlovs Hunde plötzlich verrückt geworden?

Die normative Kraft des Faktischen

Als Prinzip gilt: Der Prophet wird immer zweimal abgewatscht - vorher und nachher. Stellen Sie sich vor, Noah wäre nach der Sintflut jenen Leuten wiederbegegnet, die er vergebens vor der kommenden Flut gewarnt hatte, die er händeringend angefleht hatte, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Hätten sie ihm für seine Warnungen nachträglich gedankt, ihm die Hand gedrückt: "Noah, Sie hatten vollkommen recht, wir unrecht"? Vermutlich hätten sie Noah als arroganten Besserwisser vermöbelt. Die Welt hasst Menschen, die nicht erst hinterher klüger sind - die Deutschen sowieso. Längst wittern Deutschlands Bellizisten Morgenluft - jene Jünger Friedbert Pflügers und Wolfgang Schäubles, die mit ihren Voraussagen stets meilenweit danebenliegen (Somalia, Jugoslawien, Afghanistan, Irak), sich aber ostentativ weigern dazuzulernen und die deutsch-amerikanische Freundschaft höher bewerten als die Verhinderung eines Krieges.

Die Gegner des Irakkriegs 2003 sehen sich heute nicht etwa gerechtfertigt, sondern mit einer abstrusen Dolchstoß-Legende konfrontiert. Schuld am Irak-Debakel sei im Grunde die europäische Friedensbewegung bzw. ihr Erfolg. Mit einer einheitlichen westlichen Allianz - einer Großkoalition der Willigen - und mit deutschen Soldaten 2003 an Tigris und Euphrat hätten wir heute ‘mission accomplished’; am deutschen Wesen wäre der Irak bestimmt längst genesen. Bestimmt, siehe Afghanistan. Und während der Kongo-Einsatz vorbereitet, der hoffnungslose Afghanistan-Einsatz immer weiter ausgedehnt und ein Irankrieg provoziert wird, macht sich in der westlichen Zivilgesellschaft vor allem eines breit, apathischer Frust.

Um die Jahrhundertwende formulierte der österreichische Staatsrechtler Georg Jellinek die These von der "normativen Kraft des Faktischen". Durch das "Faktische", so Jellinek, werde aufgrund von Stabilitätsüberlegungen die "Norm" der Realität angepasst. (Ein Beispiel ist die Verjährungsregelung im Strafrecht.) Auf die modernen Kriege des Westens (nach 1989) übertragen, hieße dies, wenn du nur lange genug das Falsche tust, ohne, dass dir jemand auf die Finger klopft, wird dieses Fehlverhalten irgendwann zur Norm. Was wir derzeit erleben, ist eine Krise der Vereinten Nationen. Anstatt ihrer Rolle gerecht zu werden und die Souveränität ihrer Mitgliedsländer zu schützen, lassen es die Vereinten Nationen immer öfter zu, dass die UN-Charta und insbesondere der Sicherheitsrat, zur Legitimierung unprovozierter Angriffskriege missbraucht werden. Und je folgenloser dieses Handeln, desto "normativer" wird es. Die westliche Zivilgesellschaft zeigt sich schockgelähmt von der normativen Kraft des Bellizistischfaktischen. Was nützt es, sich auf internationales bzw. nationales Recht zu berufen, wenn die Normen des internationalen Miteinanders ad absurdum geführt werden - ohne Konsequenzen! Im Gegenteil, die internationalen Täter werden noch belohnt.

Bereits der Angriff auf Jugoslawien war völkerrechtswidrig. Auch der Kosovo-Krieg fand in der völkerrechtlichen Grauzone statt. Im Falle des Irakkriegs wurde sich um internationales Recht kaum noch geschert. Und im Falle der mutwillig provozierten Irankrise macht man sich nicht einmal mehr die Mühe, eine neue "Begründung" zu erfinden, man greift einfach in die altbewährte Mottenkiste der "Massenvernichtungswaffen". Wie hirnrissig der Atomvorwurf an die Adresse des Iran ist - eines Landes, das den Atomwaffensperrvertrag (im Gegensatz zu den Atommächten Israel, Pakistan, Indien und Nordkorea) unterzeichnet hat -, legt ein aktuelles Interview mit Jürgen Trittin in Der Spiegel nahe: "Washington erkennt faktisch die Atommacht Indien an - mitten in den Iran-Verhandlungen über dessen Nuklearprogramm. Das ist ein fatales Signal. Regierungen in der Dritten Welt fragen mit Recht, warum Indiens jahrzehntelange Missachtung internationaler Abrüstungsnormen nun amnestiert wird, man aber bei Iran so harsch vorgeht. Berlin hätte das deutlich kritisieren müssen."‘Fatales Signal’, Der Spiegel 20/2006, S.58, Ralf Beste im Interview mit Jürgen Trittin’.

Berlin hätte das deutlich kritisieren müssen? Berlin plant längst seinen eigenen Atomdeal mit Indien. Ein kleiner Artikel im Handelsblatt hätte in Deutschland für helle Empörung sorgen müssen. Unter der Überschrift ‘Deutschland und Indien wollen Energie-Kooperation stärken’ schreibt Handelsblatt online über die Hannover Messe im April: "Deutschland und Indien wollen die Zusammenarbeit im Feld der Energie intensivieren. Dies betreffe insbesondere Energieeffizienz und die Energieversorgung, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag in Hannover, auch eine engere Zusammenarbeit Deutschlands mit Indien bei der zivilen Nutzung der Atomenergie schloss Merkel nicht aus. Allerdings wolle die Bundesregierung zunächst den Ratifizierungsprozess in den USA zu deren Kooperation mit Indien bei der zivilen Nutzung der Atomenergie abwarten, sagte Merkel…" www.handelsblatt.com/pshb/fn/relhbi/sfn/buildhbi/cn/GoArt!200013,200051,1067770/

Offiziell liest sich das so: ‘Regierungspressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem indischen Premierminister Singh in Hannover’ am 23. April 2006: "Wir haben natürlich auch über das Nuklearabkommen gesprochen, das zwischen den Vereinigten Staaten und Indien geschlossen wurde, und ich habe meinerseits deutlich gemacht, dass wir den Ratifizierungsprozess in den Vereinigten Staaten jetzt verfolgen werden und dass wir dann sehen werden, wie der Diskussionsprozess in der sogenannten Nuclear Suppliers Group läuft. Wir sind daran interessiert, und das ist von indischer Seite zugesagt worden, dass die Nichtverbreitung von Atomwaffen ein ganz wichtiger Punkt in der gesamten internationalen Politik ist. Dieses Bekenntnis ist ein wichtiges Bekenntnis für uns, und deshalb glaube ich, dass wir, wenn der Prozess so weitergeht, wie er jetzt in den Vereinigten Staaten und auch in der Nuclear Suppliers Group eingeleitet wurde, dann auch unsere Kooperation im Bereich der zivilen nuklearen Kooperation intensivieren können", soweit Kanzlerin Merkel www.handelsblatt.com/pshb/fn/relhbi/sfn/buildhbi/cn/GoArt!200013,200051,1067770/ .

Wie gesagt, Indien führt seit 1974 illegale Atomwaffentests durch, es ist im Besitz einsatzbereiter Nuklearwaffen und deshalb seit Jahrzehnten international geächtet (als illegale Atommacht außerhalb des Atomwaffensperrvertrags). Diesem Land bieten die USA und offensichtlich bald auch Deutschland, einen Atomdeal an. Die normative Kraft des Faktischen. Auch über den Iran hatte Merkel in derselben Rede etwas zu sagen: "Wir haben miteinander über eine Vielzahl von Fragen der internationalen Politik gesprochen und sind uns darüber einig, dass es besonders wichtig ist, international geschlossen vorzugehen, wenn es Konflikte gibt, z.B. im Zusammenhang mit dem Iran. Ich habe es außerordentlich begrüßt, dass Indien im Zusammenhang mit den Abstimmungen in der Internationalen Atomenergiebehörde auch deutlich gemacht hat, dass alle Länder - auch der Iran - die auferlegten Verpflichtungen erfüllen müssen." www.bundesregierung.de/servlet/init.cms.layout.LayoutServlet?global.naviknot

Fassen wir zusammen: Dem Atom-Gangster Indien wird ein Atomdeal angeboten, und er darf darüber hinaus in der IAEO gegen den Atomwaffensperrvertrags-Unterzeichner Iran vorgehen. Die normative Kraft des Irrsinns. Anders als die großen offiziellen Atommächte USA, Frankreich, Großbritannien und Russland ist Iran seinen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag und dessen Zusatzabkommen - zugegeben, mit Abstrichen - nachgekommen. Dieser Vertrag sieht die zivile Nutzung der Atomenergie ausdrücklich vor. Soviel zu entsprechenden Vorwürfen gegen den Iran. Was den Vorwurf der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Mullahs mit der IAEO angeht, so hat die iranische Führung mittlerweile ein weitreichendes Angebot über "weitgehende und umfassende unangekündigte" Inspektionen unterbreitet. Den offiziellen Atommächten erwächst aus dem Atomwaffensperrvertrag die Verpflichtung, ihre Atomwaffen sukzessive auf Null zu reduzieren. Das Gegenteil ist der Fall. NPT-Kontrollkonferenzen werden regelmäßig zum Platzen gebracht. Eine funktionierende IAEO bzw. UNO würde dies monieren und sanktionieren. Aber inzwischen scheint sich die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen weitgehend auf den Sicherheitsrat zu beschränken - und einige flankierende Goodwill-Agencies wie Unicef, UNHCR usw..

Es ist geradezu gespenstisch. Angesichts eines in Flammen stehenden Irak hat der UN-Sicherheitsrat nichts Besseres zu tun, als sich mit dem Iran zu befassen - einer insgesamt stabilisierenden Kraft in der Region und als islamistisches Regime weit gemäßigter als zum Beispiel das saudische oder kuwaitische. Warum wurde nicht schon längst eine Irak-Konferenz auf den Terminplan der Vereinten Nationen gesetzt, eine Roadmap für die (tatsächliche) Unabhängigkeit des Irak entworfen, die den Abzug aller ausländischen Truppen und fremden Kämpfer regelt? Das allein schon könnte den bürgerkriegschürenden ausländischen Terroristen (allen voran al-Sarkawi) den Wind aus den Segeln nehmen. Und über 150.000 amerikanische und europäische Soldaten hätten endlich die Chance, ihre Familien wiederzusehen.

Prager Fenstersturz

"Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret,
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfraun sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret."

(Andreas Gryphius: ‘Tränen des Vaterlandes, anno 1636’, 2. Strophe)

Es war einmal ein malerisches böhmisches Dorf namens Braunau mit einer Kirche. Diese wollten einige Protestanten für ihren Gottesdienst nutzen. Leider hatte der katholische Erzherzog von Böhmen, Ferdinand II, etwas dagegen. Er verweigerte den Protestanten die ihnen per Majestätsbrief zugesicherte Religionsfreiheit zur Nutzung des Kirchenraums. Diese Petitesse war der Initialfunke für den ‘Dreißigjährigen Krieg’, der von 1618 bis 1648 zwischen 50 und 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Eigentlicher Auslöser: der sogenannte ‘Prager Fenstersturz’. Nach dem Vorfall in Braunau zogen unzufriedene protestantische Adlige am 23. Mai 1618 auf die Prager Burg und warfen die in der Hofkanzlei anwesenden katholischen kaiserlichen Statthalter Graf von Martinic und Vilem Slavata sowie den Schreiber Johannes Fabricius kurzerhand aus dem Fenster der Prager Hofburg. Zu Schaden kam dabei niemand, die Herren waren angeblich auf einem Misthaufen gelandet. Der sogenannte ‘Prager Fenstersturz’ wurde als Vorwand für einen Religionskrieg missbraucht, dessen Hauptschlachtfeld die deutschen Lande waren. Als der Krieg 1648, mit dem Westfälischen Frieden, endete, waren 40% der Bevölkerung ausgerottet, in meiner süddeutschen Heimat überlebten lediglich 1/3 der Bevölkerung.

Einer der schlimmsten Kriege in der europäischen Geschichte ausgelöst durch eine Petitesse im Rahmen religiöser Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen - pardon, Katholiken und Protestanten? Scheint so. Zumindest war der ‘Dreißigjährige Krieg’ der (vorerst?) letzte Religionskrieg auf europäischem Boden. Natürlich ging es nicht um Gott und Kirche. Es ging um dynastische Interessen (auf europäischer Ebene vor allem um den Versuch Frankreichs, sich aus der Umklammerung der habsburgerischen Territorien Spanien, Burgund und Niederlande zu lösen, innerhalb des ‘Heiligen Römischen Reiches’ um den Gegensatz zwischen der Katholischen Liga und der Protestantischen Union), Schweden versuchte sich als neue Großmacht zu etablieren. Nach 30 Jahren Krieg waren die hegemonialen Karten in Europa endlich neu gemischt, Deutschland lag in Trümmern, Sieger, im eigentlichen Sinne, gab es keine.

Die Defenestration zu Prag, die sich in diesen Maitagen zum dreihundertachtundachtzigsten Male jährt, kam nicht aus heiterem Himmel. Kleinere religiös begründete Territorialkonflikte - Testkriege - waren dem Supergau vorausgegangen, diverse Scharmützel zwischen protestantischen Landesherren und katholischen (wobei die Bevölkerung alles andere als religiöse Wahlfreiheit genoss). Niemand schritt rechtzeitig ein - eine internationale Staatengemeinschaft, eine UNO, existierte noch nicht, Krieg, als Mittel der Politik, galt als legitim. Also nahm das Schicksal seinen Lauf. In einer Zeit, in der nicht mehr mit einschüssigen Schnapphähnen aufeinander losgegangen wird, sondern mit modernster Waffentechnologie, dauern Hegemonialkriege natürlich etwas kürzer - weniger grausam sind sie deswegen nicht notwendigerweise, wie der Vietnamkrieg beweist.

Auch bei den Konflikten im Mittleren Osten geht es nur vordergründig um Islamismus versus westliche "Demokratie". Es geht nicht einmal vorrangig um Ressourcensicherung oder um die "böse Imperialmacht" USA. Es geht um ein Wechselspiel der Kräfte, bei dem die kleineren Nationen unter die Hufe der Großen zu geraten drohen. Es geht um eine rigorose Neuordnung der Hegemonialansprüche auf globaler Ebene. Nach dem Ende des Kalten Krieges stehen sich USA, Europa, China und Russland, als die wesentlichen ‘globalen Spieler’, konfrontativ gegenüber. Manchmal miteinander, oftmals gegeneinander wetteifern sie um geopolitisch-strategisches Terrain, um Einflusszonen, um freien Zugang zu Ressourcen usw.. Und so wie das Gebiet des heutigen Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges Austragungsort eines der verheerendsten Kriege aller Zeiten war (wovon es sich zweihundert Jahre nicht erholte, daher die späte Staatsgründung), könnten die ressourcenreichen Staaten des Mittleren Ostens, Nordafrikas/Schwarzafrikas und Asiens zum Hauptaustragungsort der modernen globalen Konflikte werden. Bis zum Ausbruch eines globalen Megakrieges scheint es nicht mehr weit. Die Welt hält den Atem an und wartet auf den ‘Prager Fenstersturz’.

Gegenwind

"Die Jungen werfen zum Spaß mit Steinen nach Fröschen,
die Frösche sterben im Ernst"

Erich Fried

Die normative Kraft des Faktischen hat auch in die deutsch-europäische Außenpolitik Einzug gehalten. Nicht nur die neue europäische Sicherheitsdoktrin und der Aufbau mobiler Offensiv-Streitkräfte auf EU-Ebene sollte unsere Zivilgesellschaften aufhorchen lassen. Mitte Mai 2006 schreibt Der Spiegel über das ‘Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und der Zukunft der Bundeswehr’, dies sei ein "Grundsatzdokument", "in dem die offizielle Sicherheitsdoktrin der neuen Regierung festgelegt werden soll. "Das Ergebnis sind eine deutlich pessimistischere Einschätzung der Weltlage - und bisweilen nationalistische Töne. Hatte der rot-grüne Entwurf zum Beispiel die Globalisierung auch als "große Chance" beschrieben, politisch an der Gestaltung einer friedlichen Welt mitzuwirken, so sieht (Verteidigungsminister) Jung darin nur noch "Risiken und Gefährdungen"… " Für Jung geht es mit nationalem Pathos darum, "Recht und Freiheit des deutschen Volkes zu verteidigen" sowie "Sicherheit und Schutz der Bürger zu gewährleisten". Neben Terrorismus, "Störungen der Rohstoff- und Warenströme" oder Seuchen sollen nun auch Flüchtlinge und "unkontrollierte Migration" von Ausländern als Bedrohung deutscher Sicherheit zählen… In seinen Katalog nationaler Interessen nahm Jung gleich den "ungehinderten Welthandel" mit auf. Um deutsche Interessen zu wahren, gelte es eben auch "militärische Mittel" einzusetzen und sich "insbesondere Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden", heißt es ganz auf Linie der aktuellen US-Politik."‘Angriff des Verteidigers’ von Alexander Szandar und Konstantin von Hammerstein, Der Spiegel 20/2006, S. 52-54

Innenpolitisch-analog das Betreiben der Bundesregierung, die deutsche Verfassung für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern zu verändern. Mit Kanonen auf Spatzen schießen - oder auf WM-Hooligans? Anfang Februar, auf der internationalen Sicherheitskonferenz in München, auf der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eindringlich vor den "Aktivitäten des Regimes in Teheran" warnte und den Iran als "führenden Sponsor" des Terrorismus geißelte, sagte Kanzlerin Merkel wörtlich, der Iran habe "die rote Linie überschritten". Hierauf kam es zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen der deutschen Kanzlerin und dem iranischen Vizeaußenminister Abbas Araghchi. Dieser betonte, sein Land habe drei Jahre lang mit der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien zusammengearbeitet. Merkel: "Wir wollen und wir müssen die Entwicklung iranischer Atomwaffen verhindern". Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer lobte Merkel und sprach von einer "großen Rede". Sie habe einen neuen Anstoß gegeben. Darauf werde die Allianz aufbauen können, so Hoop Scheffer. Die Kanzlerin habe Recht, das erste Gremium für einen transatlantischen Dialog sei die Nato. Das bedeute aber nicht, so Hoop Scheffer, dass dem Gespräch immer Militärhandlungen folgen. Wie tröstlich. Eines ist klar. Sollte es zu einem Nato-Krieg gegen den Iran kommen, so wird Deutschland ihn politisch mit vorbereitet haben - und zwar von Anfang an, wie Merkels Äußerungen auf der Münchner Sicherheitskonferenz beweisen (ganz abgesehen von den Aktivitäten des EU-Trios, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, das den Streitfall Iran via IAEO erst vor den Sicherheitsrat gebracht hat). Höchste Zeit für Gegenwind.

Der so genannte ‘Karikaturenstreit’ zeigt, wie winzig der Tropfen sein kann, der ein Fass zum Überlaufen bringt und eine globale Kettenreaktion auslöst. Wir - die Zivilgesellschaft - können und müssen uns der normativen Kraft des Kriegsfaktischen entgegenstellen: mit der normativen Kraft der Vernunft und der Erkenntnis, die uns aus den Fehlern der Geschichte (z.B. Irakkrieg) erwachsen sollte. Eine erneute Provokation im Mittleren Osten - ein westlicher Militärschlag gegen iranische Atomanlagen etwa - wäre der Prager Fenstersturz. Wir leben nicht mehr im Barock, die heutige Zivilgesellschaft des Westens ist durchaus in der Lage, Gegenaußenpolitik zu betreiben - wie die machtvolle europäische Massenmobilisierung im Vorfeld des Irakkriegs bewiesen hat. Auch mit der amerikanischen Zivilgesellschaft ist diesmal zu rechnen. Sorgen wir dafür, dass den Kriegstreibern der Wind hart ins Gesicht blästsiehe z.B. www.kein-irankrieg.de . Beziehen wir alle Gruppen der westlichen Zivilgesellschaft mit ein und auch die Soldaten, sofern sie Zivilcourage besitzen, denn sie werden mit die ersten Opfer eines jeden neuen Krieges sein. ‘The first to go, the last to know’? Besser: ‘The first to know, the last to go’.

 

Quelle: ZNet Deutschland vom 17.05.2006.

Fußnoten

Veröffentlicht am

20. Mai 2006

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von