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Bombe unter dem “Wolf”

Deutsches Kommando über ISAF in Afghanistan

Von Otfried Nassauer - Kommentar

Auf Wunsch Washingtons wird der NATO-Einsatz in Afghanistan ausgeweitet. Die USA wollen ihre Präsenz auf rund 10.000 Soldaten reduzieren und auf Anti-Terroreinsätze konzentrieren. Am 1. Juni übernahm deshalb die Bundeswehr das Kommando über die Stabilisierungstruppen der NATO (ISAF) im Norden. Gleichzeitig dehnen Niederländer, Kanadier und Briten das ISAF-Aktionsfeld in die instabileren Südprovinzen aus. Zum Jahresende - so Washington - soll die NATO auch die Zuständigkeit für den umkämpften Osten des Landes, die unruhigen Grenzgebiete zu Pakistan, übernehmen - ISAF soll quasi ganz Afghanistan stabilisieren, das Mandat dafür wird robuster und umfasst nun auch die “Aufstandsbekämpfung”. Lediglich die “Terrorbekämpfung” soll weiter Domäne der US-geführten Operation Enduring Freedom bleiben.

Zeitgleich häufen sich beunruhigende Meldungen: Ein von US-Soldaten verursachter Verkehrsunfall in Kabul löst die schwersten Unruhen seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Oktober 2001 aus. Von Januar bis Mai 2006 gab es in Afghanistan mehr Anschläge mit Todesfolge als im gesamten Jahr 2005. Die NATO lässt im Süden nicht 3.000, sondern 6.000 Soldaten aufmarschieren. US-Militärs sagen einen heißen Sommer voraus - Begründung: Die Taliban seien wiedererstarkt.

Das sind sie in der Tat: sie haben sich nicht nur neu formiert, sondern greifen gegen die US-, aber zusehends auch gegen die NATO-Truppen zu Taktiken, die bereits gegen die viel größere Sowjetarmee in den Achtzigern erfolgreich waren. Im Süden testen sie gerade, ob die NATO-Verbände dafür anfälliger sind als die US-Streitkräfte. In kleinen Gruppen sickern sie aus Pakistan ein, holen zu “Hit-and-Run-Missionen” aus und verschwinden wieder. Wiedererstarkt sind auch lokale Fürsten, Warlords und Drogenbarone, die sich auf den Fall vorbereiten, dass die Zentralregierung unter Präsident Karsai zerfällt, die schon jetzt kaum noch mehr darstellt als eine Oberbürgermeisterei für den Großraum Kabul. Denn mit Hilfe des Westens ausgebildete Polizei- und Militäreinheiten der Zentralmacht zeigen nicht selten nach Ende der Ausbildung ihr wahres Gesicht: Von einem 600-Mann-Batallion ist nach kurzer Zeit nur noch die Hälfte übrig. Der Rest hat sich absetzt - mitsamt Bewaffnung. Afghanistan ist ein “Narco-State”. Ohne Drogen geht nichts - das gilt bis in die Führungsebenen der Zentralregierung. Deshalb verwundert es nicht, dass auch Karsai-Gegner wie Gulbuddin Hekmatyar, Vorsitzender der islamistischen Hezb-i Islami, in Kabul massive Präsenz zeigen können. Geringe Fortschritte beim Wiederaufbau, besonders in ökonomischer Hinsicht, haben viele Afghanen desillusioniert und aufgebracht. Überdies werden die ausländischen Truppen mehr und mehr als Besatzer empfunden.

Für die Öffentlichkeit in Deutschland mag all das überraschen. Über Monate - bis zu den getroffenen Entscheidungen, die ISAF-Mission auszudehnen - wurde die Lage am Fuße des Hindukusch als stabil verklärt. Die Bundeswehr pflegte sich mit missionarischer Attitüde in ein rosig mildes Licht zu stellen: “Wir sind Gäste, die beim Wiederaufbau helfen. Gäste gehen wieder.” Fliegt den Gästen gelegentlich eine Rakete übers Lager oder ein kleiner, wohl kalkulierter Sprengsatz unter den “Wolf”(-Geländewagen), wird dies als Erinnerung daran gedeutet, den Gäste-Status nicht zu vergessen. Geduldete Gäste, die sich besser nicht in die örtlichen Machtrangeleien und die Drogenwirtschaft einmischen. Eine verharmlosende Sicht, geschuldet der Notwendigkeit, deutschen Steuerzahlern den Einsatz in Afghanistan als sinnvoll oder alternativlos zu verkaufen. Tatsächlich erinnert die Lage an jene Zustände, wie sie den “überraschenden Unruhen” im Kosovo 2004 vorausgingen. Nicht die westlichen “Stabilisierungskräfte” haben das Heft des Handelns in der Hand, sondern lokale Akteure, die jederzeit begreiflich machen können, wie viel Stabilisierung sie zulassen.

Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Wenn NATO-Formationen die US-Kampftruppen ablösen, aber auch zur Aufstandsbekämpfung auftauchen - wie soll die einheimische Bevölkerung da den Unterschied verstehen? Wie sollen das die eingesetzten Soldaten erklären? Zuständig für Angriffe auf die Taliban, aber nicht auf al-Qaida? Der ISAF-Einsatz gerät auf eine vollends schiefe Bahn - er wird zusehends “amerikanischer”. Afghanistan kann zum Irak der NATO werden.

Otfried Nassauer ist Direktor des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit/BITS.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 23 vom 09.06.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Otfried Nassauer und Verlag.

Veröffentlicht am

12. Juni 2006

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