Die Revolte der chilenischen ‘Pinguine’Von Frederico Moreno - ZNet 15.06.2006 Die Oberschüler überrennen Chile - ein Massenprotest, der die chilenische Regierung zwingt, ihre Kürzungspläne bei den Bildungsausgaben fallen zu lassen. In Chile tragen die Schüler Uniform - Anzug und Krawatte - daher der Name "Pinguine". Die Schüler haben das Fundament der festgefügten Sozialstruktur Chiles erschüttert - einer Struktur, die noch Erbe der blutigen Pinochet-Diktatur ist. Anfang 2006 hatte die neue Regierung, unter Präsidentin Michelle Bachelet von der Sozialistischen Partei, die Regierungsmacht übernommen. Nun muss sie zurückrudern. Die letzten sechs Wochen in Chile waren gekennzeichnet durch Schulstreiks, an denen sich über 1 Million Schüler beteiligten. Bis zu 1.000 Oberschulen wurden besetzt gehalten und die meisten Universitäten des Landes. Marschiert wurde wöchentlich, manchmal täglich. In den Straßenkämpfen konnte sich die Bewegung gegenüber der ausgefeilten chilenischen Repressionsmaschinerie behaupten. Die Carabineros (Nationalpolizei), in Randaleausrüstung, sind Teil dieser Maschinerie oder die Panzer-Wasserwerfer, die eine Mischung aus Wasser und Tränengas versprühten. Aber die Schüler, darunter schon 13jährige, schlugen zurück - mit Stöcken, Steinen und Molotow-Cocktails. Im März hatte der Kampf begonnen - ursprünglich noch defensiv. Die Vorschläge der Bachelet-Regierung sollten gestoppt werden: Höhere Zuzahlungen für die Aufnahmeprüfung an Universitäten (PSU) und Schülerfahrkarten, die nur noch zwei Fahrten pro Tag zuließen. Seither hat sich der Protest schneeballartig zum offensiven Kampf weiterentwickelt. Jetzt lauten die Forderungen: kostenloser Schülertransport und überhaupt keine Gebühren für die PSU. Zudem wird die Abschaffung eines Gesetzes zur Privatisierung des chilenischen Schulsystems verlangt (bekannt unter der Abkürzung LOCE). LOCE war das letzte Gesetz, dem Pinochet zugestimmt hat, bevor er zurücktrat. "Im Durchschnitt kostet ein College-Jahr $ 4000", so Rodrigo Olivares, Präsident der Föderation der Schüler in Solidarität (FESOL). Er ist Mitglied des Schüler-Verhandlungskomitees, das mit der Regierung verhandelt. Es besteht aus 34 Schülern. "Nur 30 Prozent der Oberschüler schaffen es aufs College, und Familien aus der Arbeiterschicht können sich nicht Fahrkarten und Essen für ihre Kinder leisten. Bachelet sagt, es sei kein Geld da, dabei würde das Geld für einen einzigen dieser 17 F16-Jets, die sie dieses Jahr den Streitkräften besorgt hat, ausreichen, um all unsere Forderungen zu erfüllen". Organisiert wird die Bewegung von der Koordinierenden Versammlung der Oberschüler (ACES). ACES entstand 2006 aus der Jugendorganisation der kommunistischen Partei (JC), der Jugendorganisation der Sozialistischen Partei (JS) und FESOL. Jede chilenische Schule entsendet zwei Delegierte in die ACES. Diese bestimmt 34 Repräsentative, die mit der Regierung verhandeln. Es gehört zum demokratischen Wesen von ACES, dass sich die Schüler aktiv an Schulbesetzungen beteiligen. Dieser demokratische Charakter von ACES macht es schwerer, die Bewegung zum Kippen zu bringen - auch wenn die eigene Jugendorganisation der Sozialistin Bachelet zu den führenden Kräften in der Bewegung gehört. Der Marsch der Pinguine hat es geschafft, breite Schichten der chilenischen Gesellschaft hinter sich zu vereinen - die Universitätsstudenten, die Arbeiterklasse, die meisten Eltern. Nach Meinungsumfragen werden die Schüler mittlerweile von 87% der Bevölkerung unterstützt. Auf die wöchentlichen Märsche gegen die Bachelet-Vorschläge wurde im April repressiv reagiert, Tausende wurden verhaftet. Das schürte die Wut und war Initialfunke für eine zunehmend militante Antwort der Schüler. Die wachsende Mobilisierung brachte Bachelet unter Druck. Sie verzichtet jetzt auf ihre Vorschläge, weigert sich jedoch, die weitergehenden Forderungen der Schüler in Betracht zu ziehen. Mai 2006. Schüler von 13 Oberschulen Santiago de Chiles besetzen ihre Schulen. Sie warten gespannt, was Bachelet anlässlich ihrer Rede zur Nation am 21. Mai dazu sagen wird. Als Bachelet ihre Rede zu Ende bringt, ohne auch nur ein Wort zum Thema zu verlieren, greifen die Schulbesetzungen wie Waldbrände um sich. Am 29. Mai ruft Bildungsminister Martin Zilic zu einem Treffen mit Vertretern der Oberschüler auf. Hunderte kommen, aber nur wenige Auserwählte dürfen tatsächlich ins Ministerium. Zilic ist nicht persönlich anwesend, sondern schickt einen Sekretär. "Dies hat in der Bewegung zu rasender Wut geführt", so Olivares. "Wir sagten, wir setzen uns nicht hin, bevor der Minister persönlich erscheint. Jetzt waren wir es, die die Bedingungen diktierten, und nicht mehr die Regierung. Hinzu kam, dass sämtliche Schüler, die von überall aus Chile gekommen waren, dem ACES beitraten, sodass dieser zu einer echten Nationalversammlung wurde." Die nächsten beiden Wochen war das chilenische Bildungswesen lahmgelegt. Landesweit kam es zu Besetzungen an fast 1.000 Oberschulen, und aus Solidarität mit den Pinguinen besetzten Studierende ihren Campus und stellten eigene Forderungen. Dreimal wöchentlich fanden wichtige Märsche statt - in unterschiedlichen Regionen des Landes. Dabei kam es zu Konfrontationen mit der Polizei, und Tausende wurden verhaftet. In dieser Situation ließ sich die Regierung schließlich auf Verhandlungen mit dem 34-köpfigen Schülerkomitee ACES ein. Die Regierung lenkte Schritt für Schritt ein, bis schließlich fast alle Forderungen der Schüler akzeptiert wurden. Höhepunkt der Pinguin-Revolte war der 5. Juni. Für diesen Tag hatte ACES zum Nationalstreik aufgerufen. Verschiedene soziale und politische Organisationen sowie Gewerkschaften, ja selbst, die Mitarbeiter des Bildungsministeriums, befolgten den Aufruf. Am 5. Juni wachte Santiago auf und sah Barrikaden auf den Straßen. Den ganzen Tag konfrontierten Tausende Schüler die Polizei - bis weit in die Nacht hinein. Die 15-, 16- und 17-jährigen Schüler, die diese Bewegung anführen, sind inzwischen zum chilenischen Phänomen geworden. Bei live TV-Debatten bringen sie Senatoren in Verlegenheit, sie treiben Nachrichtenredakteure zur Weißglut und behandeln Regierungsminister wie Kinder, denen man nein sagt. Olivares beschreibt den Verlauf der Verhandlungen mit Minister Zilic: "Wenn der Minister rausging, um eine zu rauchen oder sich mit Bachelet zu beraten, unterbrachen wir das Meeting. Ohne ihn kein Dialog. So schafften wir es, den Kerl von 5 Uhr morgens bis Mitternacht für uns zu haben. Er war umzingelt. Wenn uns nicht passte, was er sagte, unterbrachen wir ihn: ‘Das können Sie nicht sagen, Herr Minister, es beleidigt uns. Das entspricht nicht unseren Forderungen’". Oliverares glaubt, dass "Bachelets jüngstes Angebot an die Schüler ein Trick" ist, "aber zweifellos ist es auch ein Sieg - vor allem im Hinblick auf die Radikalisierung und Organisierung Tausender. Zwar gewährt sie (Bachelet) den Vierfünfteln der ärmsten Schüler jetzt freie PSU-Prüfungen und freie Schülerfahrausweise. Gleichzeitig will sie jedoch die Verwaltung beider Dienstleistungen privatisieren. Was LOCE angeht, so bietet sie eine Reformkommission an. In ihr sollen die Schüler 10 Prozent stellen. Aber die (Kommission) hat lediglich beratende Funktion. Der Kongress wird alles, was die sagen, ignorieren können. Die Führungen von JC und JS wären bereit, auf das Angebot einzugehen, vorausgesetzt, Bachelet gewährt 50 Prozent plus Eins Schülerbeteiligung an der Kommission." "Meiner Meinung nach ein mieses Manöver von denen", so Olivares weiter, "nämlich zum Nutzen ihrer Mutterparteien. Schließlich haben wir die Kräfte auf unserer Seite und könnten all unsere Forderungen durchsetzen. Im Moment sieht es so aus: ACES hat beschlossen, die Besetzungen zu beenden. Die Mobilisierung wird aber aufrechterhalten, um Druck auf die Regierung auszuüben. Gut so, die Kids waren müde und angespannt. Ich weiß, JC und JS wollen verhandeln und demobilisieren, aber es dürfte schwerfallen, alle Schüler zum Stillschweigen zu bringen, die glaubten, sie würden für das Ende von LOCE kämpfen". Im Kampf der Pinguine ist ein Ende längst nicht in Sicht. Doch schon jetzt haben die Schüler der Welt eine machtvolle Lektion erteilt: Es ist möglich, gegen die Repression zu gewinnen - indem man sich demokratisch organisiert, indem man sich mit den anderen Sektoren der Arbeiterklasse vereint und indem man auf der Straße mobilisiert.
Quelle: ZNet Deutschland vom 19.06.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Originalartikel: The Revolt Of The Penguines In Chile . Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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