Verfassungsschutz auflösenNeuer Verfassungsschutzskandal verstärkt eine Botschaft: Um der grundgesetzlichen Demokratie und ihrer bürgerlichen Grund- und Menschenrechte willen ist es geboten, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesämter für Verfassungsschutz, in Berlin die "Abteilung Verfassungsschutz" der Senatsverwaltung für Inneres aufzulösen. Für die Mitarbeitenden sind sozial verträgliche Übergangsregelungen geboten. 1. Durch den SPIEGEL vom 11.6.2006 wurde bekannt, dass das Berliner Sozialforum und darin das langjährige Vorstandsmitglied des Komitee für Grundrechte und Demokratie, Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin, Peter Grottian, seit 3 Jahren durch Verdeckte Ermittler vom Berliner Verfassungsschutz und gleichzeitig vom Bundesverfassungsschutz überwacht würden. 2. Die seither bekannt gewordenen Äußerungen insbesondere der Leiterin der Abteilung Verfassungsschutz in Berlin, Frau Schmid, bestätigen diese Ausspionierung einer reputierlichen sozialen Einrichtung und eines politisch engagierten Hochschullehrers und Intellektuellen. Indem die oberste offizielle Verfassungsschützerin des Landes Berlin die Überwachung Grottians und des Sozialforums rechtfertigt und verharmlost in einem, demonstriert sie ungewollt, dass und warum der Verfassungsschutz strukturell und funktionell auf Missbrauch angelegt ist, ja geradezu als institutionalisierter, die Verfassung des Grundgesetzes gefährdender Missbrauch bezeichnet werden muss. Dies gilt, gerade weil Frau Schmid keine arge Absicht zu unterstellen ist. Zuerst macht Frau Schmid in ihrer Erklärung vom 12.6.2006 darauf aufmerksam, der Berliner Verfassungsschutz beobachte "seit Jahren die autonome Szene insbesondere im Hinblick auf Zusammenhänge mit militanten Gruppen". Weil sich, so ihr 2. Argument, "einige dieser Gruppen" am Berliner Sozialforum beteiligten, sei dieses in den verfassungsschützerischen Blickwinkel geraten. In Sachen Grottian gäbe es weder eine eigene "Personalakte", fügt sie beschwichtigend hinzu, noch werde Grottian "gezielt" observiert. Leider sei es aber nun einmal so, dass sich unvermeidliche "Gemengelagen" ergäben, wenn sich Gruppen mischten. Sie werde hinfort aber darauf dringen, dass "notwendige Differenzierungen" erfolgten. 3. Die guten Absichten von Frau Schmid in Ehren. Als zuständige oberste Verfassungsschützerin kann sie von Amts wegen nicht begreifen, dass es sich bei diesem Übergriff nicht um verfassungsschützerische "Peanuts" handelt. Die bürgerliche Integrität nicht nur einer Person, hier von Peter Grottian, vielmehr von allen im Sozialforum beteiligten Personen, welcher Gruppenzugehörigkeit auch immer, wurde nachdrücklich und wenigstens über drei Jahre hinweg verletzt. Verdeckte Ermittler, also maskierte Menschen, die aber von einem prinzipiell demokratisch verantwortlichen Amt legitimiert wurden, haben mit ihrem ganzen ausspähenden, Informationen geheim sammelnden und weitergebenden Verhalten gegen minimale grundrechtlich demokratische Gebote verstoßen. Grundrechtlich-demokratisch schlimmer noch: die von der Berliner Schutzperson der Verfassung vorgetragene Rechtfertigung weist auf die Normalität dieses Verhaltens des amtlichen Verfassungsschutzes hin. Damit stellt diese Art des Verfassungsschutzes, ihr Schutzgut, die lebendige Verfassung, prinzipiell in Frage. In einer "Gemengelage" befinden sich alle Bürgerinnen und Bürger sozial und politisch glücklicher Weise wenigstens ab und an, wenn sie sich lebens- und vor allem demokratie-gefährdend nicht allein im Panzerschrank vergnügen. Wenn eine "Rosine" aus dem "Gemenge" von irgendeiner Behörde aufgrund nicht zureichend öffentlich und grundrechtlich kontrollierter Verfahren als "schlecht" und "ansteckend" behauptet wird (der Verfassungsschutz gebraucht allemal pseudowissenschaftlich den Ausdruck "Erkenntnisse") und darum alle "Rosinen" ab und an verfassungsschützerisch mit geheim anzapfenden gesetzlich pauschal genannten "nachrichtendienstlichen Mitteln" überwacht werden dürfen, dann ist das Ende demokratischer Öffentlichkeit erreicht. Dann müssen alle Bürgerinnen und Bürger ängstlich werden, sich zu engagieren. Es sei denn als "Verdeckte Ermittler" (VE), wenn sie möglichst zugleich und zuvor der NPD angehör(t)en. 4. Ein Blick in das 2001 erneuerte Verfassungsschutzgesetz Berlins (VSG) wie Blicke in das Gesetz des Bundesamts für Verfassungsschutz und die Gesetze der meisten sonstigen Landesämter für Verfassungsschutz belegen, dass selbst der lobenswerte Berliner Versuch einer möglichst großen Genauigkeit und der Eingemeindung des Verfassungsschutzes in den Innensenat die diversen Tore des Missbrauchs sperrangelweit offen hält. Die Sperrangeln öffnen sich gesetzesgeölt so weit, dass die Missbräuche geradezu als "Lob der Routine" angesehen werden müssen. Dass so wenig Skandale bekannt werden, liegt zum einen daran, dass diese Ämter 50 Jahre und älter nicht mehr in Frage gestellt werden. Zum anderen liegt es daran, dass sich der Verfassungsschutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln selber schützen darf. Darum wissen die "armen" Innenminister, an ihrer Spitze der seinerzeitige oberste aller Verfassungsschützer, BMI Otto Schily, bis heute nicht, wer die VE waren, die ihnen die jedem ansonsten lesefähigen Zeitgenossen zugänglichen hochgeheimen Informationen über die NPD mitteilten (s. § 8 Abs.3 Ziffer 4. VSG). Der Einzug der Missbräuche als Normalität geschieht durch das Spektrum der Aufgaben und ihre lose Definition. Hierbei fällt auf, ein Umstand der durch die Geburt des Verfassungsschutzes aus dem (Un-)Geist des Kalten Krieges bedingt ist, der sich bekanntlich auch gegen die eigenen, nicht ganz gerade gescheitelten Bürgerinnen und Bürger richtete, dass die viel genannte "freiheitliche demokratische Grundordnung", die essentiellen Grund- und Menschenrechte gerade unter ferner liefen pauschal erwähnt. Der Durchzug des Missbrauchs hält an, betrachtet man die sogenannten Befugnisnormen und die für die Befugnisse im Sack "nachrichtendienstliche Mittel" u.ä. bereit gehaltenen Mittel. Hinzukommt, dass all das, was die Ämter des angeblichen Verfassungsschutzes gesetzlich versprechen, als nicht im einzelnen kontrollierte Behauptung stehen bleibt (angefangen von den Speicherungs-, hin zu den Löschungszeiten und der Trennung von den exekutiven Polizeifunktionen). Schließlich bleiben alle Kontrollvorkehrungen, so ehrlich sie gemeint sein mögen, so lange alle möglichen Geheimhaltungsecken und Funktionen vorgesehen sind, bestenfalls eine minimale, primär symbolisch beruhigende Angelegenheit. 5. Um ein langes Argument mit schier lückenlos negativ eindeutigen Belegen aus Geschichte und Gegenwart der Ämter für Verfassungsschutz abzukürzen: präsentierten sich die deutsche Demokratie und ihre Grund- und Menschenrechte einer "Welt von Freunden entsprechend ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern freundlich, dann schaffte sie die Ämter für (administrativen) Verfassungsschutz ab. Das ist das zentrale Verlangen, das sich bürger-rechtlich ohne Wenn und Aber ergibt. Im Rahmen einer demokratischen Verfassung wird es immer Konflikte und verschiedene Auffassungen geben, auch Gefahren entstehen und nehmen möglicherweise an Potenz zu. Konflikte und Gefahren werden aber demokratisch grundrechtlich nur erkannt und immer wieder gebannt, wenn man demokratisch menschenrechtlich verfährt. 6. In Sachen unseres Mitbürgers und Freundes Peter Grottian verstehen sich die Konsequenzen unseres Erachtens von selbst: ihm, aber auch dem Sozialforum und seinen Mitgliedern insgesamt, muss in jedem Fall volle Genugtuung angefangen von einem vollständigen Akteneinsichtsrecht begleitet von datenschutzkundigen Anwältinnen und Anwälten gewährt werden. Darüber hinaus stellt eine öffentliche Entschuldigung ein Minimum Morale dar. Ansonsten gilt: sollten sich der Innenausschuss und das Abgeordnetenhaus nicht zu dem demokratisch selbstverständlichen, ihre Verantwortung bewährenden Akt durchringen können, die Abschaffung des Verfassungsschutzes zu initiieren, der sein behauptetes Schutzobjekt, die Verfassung gefährdet, dann sollten sie wenigstens entscheiden, dass geheimdienstlich/nachrichtendienstliche Mittel und Verfahren im Innern der Bundesrepublik gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger strikt ausgeschlossen werden.
gez. RA Hannes Honnecker (Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein) gez. RA Dr. Fredrik Roggan (stellv. Bundesvorsitzender der Humanistischen Union)
Quelle: Komitee für Grundrechte und Demokratie , Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, Humanistische Union - Pressemitteilung vom 20.06.2006. Veröffentlicht amArtikel ausdrucken |
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