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Renaissance der Atomwaffen? Deutschland und die neue NATO-Nuklearpolitik

Von Otfried Nassauer

Im nächsten Jahrzehnt veralten große Teile des nuklearen Arsenals der NATO. Trägerflugzeuge wie der Tornado und die F-16 erreichen das Ende ihrer technischen Lebensdauer. Die nuklearfähigen Tornados der Bundeswehr im rheinland-pfälzischen Büchel etwa sollen ab 2012 außer Dienst gestellt werden. Die Lagersysteme für die derzeit etwa 480 Atombomben in Flugzeug-Sheltern auf europäischem Boden bedürfen dann einer Modernisierung. Schließlich müssten auch die nuklearen Bomben verändert oder durch neue ersetzt werden, wenn sie auf lange Sicht einen militärisch plausiblen, wenn auch zweifelhaften Zweck erfüllen sollten.

Entscheidungen großer Tragweite stehen also in den kommenden Jahren an: Soll die NATO an ihren substrategischen Atomwaffen festhalten oder nicht? Neue Trägerflugzeuge - wie z.B. eine nuklearfähige Variante des Joint Strike Fighters oder des Eurofighters - benötigen eine lange Vorlaufzeit und würden viel Geld kosten. Sie müssten erst noch entwickelt und beschafft werden. Neue Nuklearwaffen oder neue Versionen der vorhandenen Bomben kämen ebenfalls teuer. Finanziell und vor allem politisch.

Im Bündnis höchst umstritten ist die amerikanische Idee, künftig mit bunkerbrechenden Nuklearwaffen kleinster Sprengkraft unterirdische Ziele zu bekämpfen, die vermutlich Lager oder Produktionsstätten für Massenvernichtungswaffen oder deren Trägersysteme enthalten. Damit verbunden wäre fast automatisch eine hitzige Diskussion darüber, ob die NATO-Strategie präventive und präemptive Schläge mit atomaren Waffen zulassen sollte. Diese wären ganz sicher nicht vom Völkerrecht abgedeckt. Mehr noch: Das politische Signal, das ausgesendet würde, wenn die NATO andeutet, dass ihre Mitglieder Milliarden investieren wollen, um auf Jahrzehnte weiter an substrategischen Nuklearwaffen festzuhalten, wäre rüstungskontrollpolitisch und im Blick auf Nichtverbreitungsbemühungen verheerend. Wäre es da nicht besser, durch einen Verzicht auf solche Waffen ein Signal zu setzen, zugunsten von Abrüstung und politischen Nichtverbreitungsbemühungen?

Die Diskussion über die Zukunft der substrategischen bzw. taktischen Nuklearwaffen der NATO hat bereits begonnen. Zaghaft noch, aber mit erkennbarer Verve beziehen die Kontrahenten Stellung. Vor einem Jahr regte die rot-grüne Bundesregierung halbherzig Konsultationen über die Atomwaffen in der NATO an. Schnell wurde die Debatte wieder beerdigt. Dieser Tage ist die Diskussion erneut ausgebrochen. Dieses Mal wurde sie vom Verteidigungsministerium ausgelöst. Mit umgekehrter Intention. In dem im April verfassten Entwurf für ein neues Weißbuch heißt es, auch künftig sei eine deutsche Teilhabe an den nuklearen Aufgaben der NATO erforderlich. Und wörtlich: "Dazu gehören die Stationierung von verbündeten Nuklearstreitkräften auf deutschem Boden, die Beteiligung an Konsultationen, Planung sowie Bereitstellung von Trägermitteln." Kurz darauf stimmte Verteidigungsminister Jung einem Kommunique der Nuklearen Planungsgruppe der NATO zu, das erstmals explizit atomare Abschreckung und Proliferationsrisiken verknüpft. "Die Gefahren, die dem wachsenden Risiko nuklearer Proliferation inhärent sind, unterstreichen die Bedeutung der Tatsache, dass die NATO ein glaubwürdiges und flexibles Abschreckungspotential aufrechterhält." Die SPD widersprach. In einem Positionspapier der Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen bezweifelte sie die Notwendigkeit der "Planung und Bereitstellung von Trägermitteln". "Die geforderte Bereithaltung nationaler Trägersysteme ist 16 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges überholt. In wenigen Jahren werden die Kampfflugzeuge Tornado außer Dienst gestellt. Damit endet die taktisch-nukleare Teilhabe Deutschlands. Die SPD ist nicht bereit, neue Trägersysteme bereitzustellen."

Noch steht man in Brüssel und Berlin ganz am Anfang der Debatte. Offiziell wird noch nicht einmal diskutiert. Zurzeit gibt es ein Nachdenken der Staaten und des Bündnisses über die nuklearen Optionen. Derer gibt es drei:

  • Erstens könnte beschlossen werden, die bisherige Nuklearstrategie zu ändern und auf die substrategischen Atomwaffen, die Washington in Europa lagert, zu verzichten, weil diese militärisch heute keinen Sinn mehr machen und man aus deren Abbau rüstungskontrollpolitisch Kapital schlagen kann.
  • Zweitens könnte vereinbart werden, dass die NATO auch in Zukunft längerfristig über substrategische Atomwaffen verfügen sollte. Dann müsste allerdings ein neues Rational, ein veränderter militärischer Zweck für diese Waffen gefunden und öffentlich vermittelt werden. Nur so ließe sich eine teure Modernisierung des nuklearen Arsenals der NATO gegenüber dem Steuerzahler rechtfertigen.
  • Schließlich könnte man versucht sein, sich noch ein paar Jahre um die eigentliche Entscheidung herumzudrücken. Dann würde man das bisherige Nukleararsenal der NATO so variieren, dass es in veränderter und reduzierter Form noch ein paar Jahre aufrechterhalten werden kann. Ein Beispiel: Die Bundeswehr würde einige ihrer verbleibenden Tornado-Flugzeuge für die nukleare Rolle in Reserve halten, die Waffen selbst aber würden im Frieden in Amerika gelagert. Das ist denkbar, weil die NATO schon heute Monate benötigt, um die nukleare Einsatzbereitschaft wiederherzustellen.

Doch kommen wir noch einmal zurück zum Entwurf des Weißbuches. Es propagiert eine problematische Idee. Eine neue NATO-Strategie soll erarbeitet werden. So mancher möchte, dass diese am 60. Geburtstag der Allianz, im April 2009, beschlossen wird. Ganz wie zum 50. in Washington 1999. Diese Strategie soll auch festlegen, welche Rolle Nuklearwaffen künftig spielen. Doch so einfach wird das nicht, und zwar aus mehreren Gründen:

Erstens greift das Weißbuch der NATO vor. Diese hat bislang keinen Beschluss gefasst, eine neue Strategie zu erarbeiten. Es darf auch bezweifelt werden, dass alle Europäer die Idee gut finden, mit der im Januar 2009 aus dem Amt scheidenden Regierung George W. Bushs in letzter Minute noch darüber zu streiten, ob zum Beispiel völkerrechtswidrige militärische Präventivschläge Eingang in das strategische Handlungssportfolio der NATO finden sollten.

Zweitens wird im Januar 2009 ein neuer US-Präsident ins Amt eingeführt. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dessen neue Administration ein so zentrales Dokument wie eine neue NATO-Strategie einfach von der Vorgängeradministration übernimmt.

Und drittens wird im Herbst 2009 in Deutschland gewählt. Der erwähnte Streit zwischen SPD, Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium würde 2009 und 2010 erneut aufbrechen. Denn kurz nach dem 60. Geburtstag der NATO wird die letzte, entscheidende Vorbereitungskonferenz für die nächste Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2010 stattfinden. Die Diskussion über die nuklearen Aspekte der neuen NATO-Strategie würde aber die Haltung einer wichtigen Staatengruppe zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrages präjudizieren. Nur wenn die NATO die Rolle und Zahl der Nuklearwaffen entscheidend und sichtbar reduzieren würde, könnte das für die Zukunft des nuklearen Nichtverbreitungsregimes hilfreich sein. Schon ein Festhalten am Status Quo, erst recht aber eine neue, langfristige Rechtfertigung und teure Modernisierung der nuklearen Option würde den Nichtverbreitungsvertrag und das Nichtverbreitungsregime weiter in die Krise treiben. Die Überprüfungskonferenz 2005 scheiterte vor allem, weil Washington die Abrüstungsverpflichtungen aus diesem Vertrag nicht mehr anerkennen wollte. Verbesserungen des Nichtverbreitungsregimes konnten deshalb nicht durchgesetzt werden. Die Abrüstung wieder neu zu beleben und auf diesem Wege zu einer Stärkung der Nichtverbreitung zu kommen, ist aber derzeit das erklärte Ziel des Auswärtigen Amtes.

Angesichts dieser Sachlage ist es nur zu begrüßen, dass das Bundeskabinett in dieser Woche ganz darauf verzichtet hat, über den Weißbuchentwurf zu diskutieren. Das schafft Zeit, über die Konsequenzen des weiteren Vorgehens noch einmal zu diskutieren. Und das ist eindeutig wichtiger als die Frage, ob das neue Weißbuch vor der Sommerpause oder überhaupt noch in diesem Jahr erscheint.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS

Quelle: BITS vom 18.07.2006. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Otfried Nassauer.

Veröffentlicht am

20. Juli 2006

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