Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Fehler können zum Super-GAU führen

Schlampereien im Atomkraftwerk Biblis - Fast-Unfälle in deutschen Atomkraftwerken

Von IPPNW - Presseerklärungen vom 09. und 07.08.2006

Anlässlich der Äußerungen von Umweltminister Gabriel zur Sicherheit deutscher Atomkraftwerke weist die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW darauf hin, dass die Behörden die Problematik der bei Wartungsarbeiten häufig auftretenden Fehler vollständig ausklammern. “Umweltminister Gabriel konzentriert sich jetzt auf die Vergleichbarkeit von elektrischen Schaltplänen und setzt dabei voraus, dass bei Wartungsarbeiten keine Fehler gemacht werden, die die Sicherheitssysteme jederzeit außer Kraft setzen können. Das geht aber an der Praxis in den deutschen Atomkraftwerken völlig vorbei”, so IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz. “Zeitdruck, Hetze, Planungsfehler, Montagefehler, Prüffehler, der Einsatz von Hilfskräften und Leiharbeitern, überfordertes Personal, 10-Stunden-Schichten und mehr in Strahlenbereichen, Nachtschichten, unzureichende Kontrollen durch die TÜVs, die Verzögerung von sicherheitstechnisch wichtigen Reparaturen und Prüfungen - das ist die Realität in den deutschen Atomanlagen.”

Aufgrund des Kostendrucks im Zuge der Liberalisierung der Energiewirtschaft wurden laut IPPNW die Revisionszeiten in den deutschen Atomkraftwerken zur Durchführung von Wartungsarbeiten drastisch verkürzt. In Neckarwestheim verkürzte man die Zeit vor einigen Jahren von 33 auf 17 Tage. “Faktisch bleiben dann noch rund 10 Tage für Wartungsarbeiten”, so Paulitz.

Siemens verkündete vor Jahren, man habe Arbeiten am Schnellabschaltsystem im Atomkraftwerk Isar-1 - unter Beteiligung von “Hilfskräften” - “in Rekordzeit” durchgeführt. Im Atomkraftwerk Neckarwestheim 1 habe Siemens 1998 für das Schnellabschaltsystem die digitale Leittechnik TELEPERM XS nachgerüstet. Der Atomkraftwerkshersteller habe von einem “Rekord” und von einem “Traumstart” gesprochen, weil das neue System in nur 19 Tagen installiert worden sei. Am 10. Mai 2000 sei es dann aufgrund der neuen digitalen Leittechnik zu einer Blockade der für eine Reaktorschnellabschaltung erforderlichen Steuerstäbe gekommen. Auch in Forsmark-3 habe Siemens TELEPERM XS im Bereich der Steuerstabsteuerung nachgerüstet. “Glücklicherweise wurde am 25. Juli in Forsmark-1 und nicht in Block 3 das Schnellabschaltsystem angefordert”, so Paulitz.

Die IPPNW hatte das Bundesumweltministerium schon vor Jahren vor den neuen so genannten “Instandhaltungskonzepten” gewarnt, “zu denen auch gehört, dass man den Prüfaufwand von Sicherheitssystemen reduziert und Reparaturarbeiten zeitlich verschiebt, um kurze Revisionen zu erreichen”. Umweltminister Jürgen Trittin habe am 20. Dezember 1999 die Kritik bestätigt. Trittin schrieb an die IPPNW: “Es trifft zu, dass in jüngerer Zeit die Revisionszeiten in Atomkraftwerken insbesondere durch Verringerung von Wartezeiten für das Personal durch Optimierung der Arbeitsplanung nennenswert verkürzt wurden und damit Kosteneinsparungen bei den Betreibern erreicht werden.” In der Sache habe sich aber nichts geändert, kritisiert die IPPNW. Trittin habe sich auch ausdrücklich geweigert, 10-stündige-Arbeitsschichten in Strahlenbereichen bei der Prüfung und Reparatur von Sicherheitssystemen zu verbieten.

“Dass in deutschen Atomkraftwerken alles gründlich geprüft und gewartet werde, mag man zwar gerne der Öffentlichkeit erzählen, mit der Realität hat das allerdings nichts zu tun, wie uns auch ehemalige Beschäftigte der Atomwirtschaft bestätigten”, so Paulitz. “Der neue Umweltminister muss jetzt diesen Unsicherheitszustand beseitigen. Die Wartung von Atomkraftwerken muss durch ein Bundesgesetz geregelt werden, welches diese Zustände beseitigt. Um die Anlagen auch nur halbwegs vernünftig warten, reparieren und nachrüsten zu können, müssen die Jahresrevisionen mindestens zwei Monate pro Jahr dauern”.

Nach Angaben der IPPNW kommt es auch im Atomkraftwerk Biblis regelmäßig zu schweren Fehlern aufgrund menschlichen Versagens. Hier einige Beispiele:

  • Am 3. Oktober 1989 war die Notstandsstromversorgung von Biblis B für Block A teilweise ausgefallen, weil es bei der Revision von Biblis B zu Fehlern bei Freischaltmaßnahmen kam. Dieser Zustand wurde vom Personal erst nach rund 14 Stunden erkannt und behoben.
  • Am 6. Juni 1990 wurden in Biblis A während der Jahresrevision zwei Schalter verwechselt. Durch den vollständigen Ausfall der Gleichstromversorgung wurden - ähnlich wie in Forsmark - wichtige leittechnische Einrichtungen nicht mehr mit Strom versorgt.
  • Am 23. Januar 1991 wurde in Biblis B ein Brennelement versehentlich in den Reaktorkern transportiert und auf ein dort befindliches anderes Brennelement aufgesetzt.
  • Am 9. September 1993 wurde bei Wartungsarbeiten in Biblis B festgestellt, dass in einem sicherheitstechnisch wichtigen Ventil des Not und Nachkühlsystems falsche Ventilteile eingebaut worden waren.
  • Im März 1994 brannte in Biblis A der Motor einer Hauptkühlmittelpumpe, weil es aufgrund eines bei Wartungsarbeiten in dem Motor vergessenen Stahlmeißels zu einem Kurzschluss gekommen war.
  • Am 23. Februar 1995 kam es in Biblis B zu einer gefährlichen Leckage. Die betreffende Rohrleitungsstelle war erst wenige Monate zuvor geprüft worden. Hierbei gab es keinerlei Hinweise auf mögliche Schäden.
  • Am 18. August 1997 fielen in Biblis B zwei Nebenkühlwasserpumpen aus, die für die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern in Betrieb waren. Ursache war ein Lagerschaden an einer Pumpe, der vermutlich durch einen im Laufrad der Pumpe befindlichen Schutzhelm ausgelöst worden war.
  • Bei der Anlagenbegehung von Biblis A am 9. Mai 1999 zur Überprüfung des Notkühlsystems wurden Abweichungen der Siebflächen von der Anlagendokumentation und der Genehmigung weder vom Betreiber noch vom TÜV-Nord erkannt.
  • - Am 6. August 2001 riss in Biblis B ein abgebranntes, hochradioaktives Brennelement beim Verladen mit dem Hallenkran auseinander und stürzte ab, weil das Bedienungspersonal des Betreibers das Brennelement nicht hoch genug angehoben hatte.
  • Am 18. Oktober 2001 teilte das Bundesumweltministerium mit, dass in Biblis B Korrosionserscheinungen in den Hauptkühlmitteilleitungen möglicherweise 23 Jahre lang nicht entdeckt wurden.
  • Am 13. März 2002 stürzte in Biblis A eine Ultraschallmesseinrichtung in den gefluteten Reaktordruckbehälterraum.
  • Am 19. Juni 2002 kam es in Biblis B zum Ausfall der Notstandsstromversorgung für Block A, weil elektrische Arbeiten in zwei Schaltern fehlerhaft geplant und entsprechend falsch ausgeführt wurden.
  • Am 28. August 2002 kam es in Biblis B zum Ausfall der Notstandsstromversorgung für Block A, weil elektrische Arbeiten in einer falschen Redundanz durchgeführt wurden.
  • Am 9. Mai 2004 wurde bei Sonderprüfungen festgestellt, dass Schalter an Komponenten des Notspeisewassersystems fehlerhaft eingestellt waren. Nach Angaben der hessischen Atomaufsicht handelte es sich um eine “systematische Störung”, die in Biblis A und B an insgesamt 15 Komponenten gefunden wurde. Der systematische Fehler wurde erst aufgrund von Sonderprüfungen und aufgrund erster Befunde aufgrund weiterer gezielter Prüfungen gefunden.

Fast-Unfälle in deutschen Atomkraftwerken

Eine Chronik aus 30 Jahren

Ebenso wie im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark ein Kurzschluss außerhalb der Anlage einen Beinahe-GAU auslöste, ist auch vor knapp 30 Jahren ein externer Kurzschluss die Ursache für den Großunfall und Totalschaden von Block A des deutschen Atomkraftwerks Gundremmingen gewesen. Am 13. Januar 1977 kam es in den beiden abführenden Stromleitungen dieses Akws nach einem Kälteeinbruch und einem Blitzschlag zu Kurzschlüssen, so dass das Atomkraftwerk seinen Strom nicht mehr ableiten konnte. Aufgrund von mehreren Fehlern in der Steuerung des Atomkraftwerks kam es zur Schnellabschaltung, was zu einem schnellen Druckanstieg und zur Dampfabblasung ins Reaktorgebäude führte und in Folge dessen zu Rissen in Sicherheitsventilen und Rohrleitungen. Schon nach rund zehn Minuten stand im Reaktorgebäude das Wasser drei bis vier Meter hoch, die Temperatur war auf brisante 80 Grad Celsius angestiegen. Das Atomkraftwerk erlitt einen Totalschaden und ging nie wieder in Betrieb.

“Es geht nicht vorrangig darum, Schaltpläne von AEG-Notstromsystemen zu analysieren und zu schauen, ob genau die gleiche Schaltung auch hierzulande vorkommt”, meint Henrik Paulitz, Atomexperte der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW. “Es mag zwar im Interesse der Atomkraftwerksbetreiber und der Atomaufsicht liegen, die Wahrnehmung der Öffentlichkeit auf diese Detailfrage zu beschränken. Sie lenkt aber geschickt von dem grundlegenden und ungelösten Problem ab, dass Unwetter und Kurzschlüsse in Atomkraftwerken jederzeit zur Katastrophe führen können. Die derzeitig häufigen Sommergewitter mit Blitzschlägen stellen eine akute Gefahr dar.”

Chronik einiger vergleichbarer Störfälle in deutschen Druck und Siedewasserreaktoren:

  • AKW Gundremmingen am 13. Januar 1977: Kälte und Blitzschlag, Kurzschluss, Abfangen auf Eigenbedarf misslingt, Notstromfall, Druckanstieg und Dampfabblasung, AKW-Totalschaden, endgültige Stilllegung
  • AKW Neckarwestheim-1 am 6. Juni 1982: Blitzschlag in das 220-kV-Hochspannungsnetz, Abfangen auf Eigenbedarf misslingt, die automatische Umschaltung auf das Reservenetz misslingt, Notstromfall
  • AKW Isar-1 am 29. Mai 1983: Blitzschlag, Ausfall mehrerer Elektronikkarten und der Speisewasserbehälterfüllstandsanzeige, Reaktor und Turbinenschnellabschaltung
  • AKW Krümmel 4. August 1984: Blitzschlag, Ausfall von Messkreisen, Leistungsreduzierung
  • AKW Biblis B am 4. Mai 1986: Blitzschlag während der Revision, Abschaltung der Reservenetzeinspeisung, Notstromfall
  • AKW Biblis am 19. April 1988: Explosion eines 220-kV-Stromspannungswandlers, Kurzschluss, Ausfall des Reservenetzanschlusses, Doppelter Notstromfall in Biblis Block A und Block B
  • AKW Brokdorf am 23. Februar 2003: Sturm, Kurzschlüsse in Freileitungen des 400-kV-Netzes in Kraftwerksnähe, Abschaltung von AEG-Gleichrichtern im Notspeisegebäude; Teilausfall der Notstromversorgung
  • AKW Biblis B am 8. Februar 2004: Sturm, Kurzschluss im 220-kV-Netz, fehlerhafte Netztrennung, Abfangen auf Eigenbedarf misslingt, Notstromfall, Schnellabschaltung, Teilausfall der Notstandsstromeinspeisung für Block A
  • AKW Brunsbüttel am 23. August 2004: Kurzschluss in einer Kabelverbindung des Eigenbedarfs vermutlich aufgrund von Alterungserscheinungen und nachgerüsteten Blitzschutzmaßnahmen, Kabel verschmorte auf 1 Meter Länge, Reaktor und Turbinenschnellabschaltung, Nichtverfügbarkeit eines Notstromdiesels

Quelle: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) - Presseerklärungen vom 07. und 09.08.2006

Veröffentlicht am

09. August 2006

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von