Das 155. OpferVon Uri Avnery, 19.08.2006 MIT EINIGEN wenigen Worten zerstörte vorgestern ein libanesischer Offizier die Illusion, dass Israel auch nur irgend etwas in diesem Krieg erreicht hätte. Bei der Fernsehübertragung einer Armeeparade, die auch im israelischen Fernsehen zu sehen war, verlas der Offizier vor den versammelten Soldaten, die kurz darauf entlang der libanesisch-israelischen Grenze stationiert werden sollten, eine Rede; hier ein Auszug aus der ursprünglich in Arabisch gehaltenen Rede: “Heute bereitet Ihr Euch im Namen des einheitlichen Volkswillens auf die Stationierung auf der Erde des verwundeten Süden unseres Landes vor. Ihr werdet dabei Seite an Seite stehen mit Eurem Volk und den Truppen des Widerstandes, die die Welt mit ihrem Beharrungsvermögen verblüfft und den Ruf einer Armee, die als unbesiegbar galt, zerschmettert haben.” Um es vereinfacht zu sagen: “der einheitliche Volkswille” - das ist der Wille aller Teile der libanesischen Öffentlichkeit einschließlich der schiitischen Gemeinde. “Seite an Seite mit dem Widerstand” - also Seite an Seite mit der Hizbollah. “…die die Welt mit ihrem Beharrungsvermögen verblüfft haben” - gemeint ist der heroische Widerstand der Hizbollahkämpfer. “Zerstörung des Rufes einer Armee, die als unbesiegbar galt” - gemeint ist die israelische. So sprach also ein Offizier der libanesischen Armee, deren Stationierung entlang der Grenze von der Olmert-Perez-Regierung als großer Sieg gefeiert wird, weil die Libanesen die Konfrontation mit der Hizbollah suchen und diese entwaffnen sollen. Israelische Kommentatoren hatten die Illusion erzeugt, dass die Armee unter der Verfügungsgewalt der Freunde der Vereinigten Staaten und Israels in Beirut stehe, wie zum Beispiel Fuad Siniora, Saad Hariri und Walid Jumblatt. Es geschieht nicht zufällig, dass diese Übertragung im Fernsehgelaber ersäuft wurde - wie ein Stein, den man in einen Brunnen wirft. Nach der Übertragung dieser Rede fand keinerlei Debatte darüber statt. Sie wurde aus dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht. ABER NICHT nur die illusionäre Blase der libanesischen Armee als einer Art Erlöser ist geplatzt. Dasselbe geschah mit der zweiten bunten Blase, die einen israelischen Erfolg suggerieren sollte: nämlich die Stationierung einer internationalen Truppe mit dem Auftrag Israel vor Hizbollah-Angriffen zu schützen und deren Wiederbewaffnung zu verhindern. Mit jedem Tag, der vergeht, wird klarer, dass diese Truppe ein Mischmasch aus kleineren nationalen Einheiten ohne klares Mandat und “robuste” Ausstattung sein wird. Die Kommandoaktion, die heute von unserer Armee durchgeführt wurde und eine massive Verletzung des Waffenstillstandes darstellt, wird gewiss nicht mehr Freiwillige aus der internationalen Gemeinschaft anziehen. ALSO WAS verbleibt von all den “Erfolgen” dieses Krieges? Gute Frage. Nach jedem verlorenen Krieg, wird der Ruf nach einer offiziellen Untersuchung in Israel laut. Es herrscht im jetzigen Moment ein “Trauma” vor, viel Bitternis, das Gefühl besiegt worden zu sein, und eine Gelegenheit verpasst zu haben. Daher der Ruf nach einer starken Untersuchungskommission, die die Verantwortlichen um einen Kopf kürzer machen soll. Das geschah genauso nach dem ersten Libanonkrieg, der seinen Siedepunkt in dem Massaker von Sabra und Schatilah erreichte. Die Regierung verweigerte jegliche ernstzunehmende Untersuchung. Die Massen, die sich daraufhin auf dem heutigen “Rabin-Platz” versammelten - die geradezu mythischen Vierhunderttausend - verlangten eine gerichtliche Untersuchung. Die öffentliche Stimmung begann zu kochen und schließlich gab der damalige Premierminister, Menachem Begin, nach. Die Kahan-Kommission, die mit der Untersuchung beauftragt war, verurteilte eine Anzahl von Politikern und Offizieren für die “indirekte” Verantwortung für das Massaker, obwohl die eigenen Fakteneinschätzungen der Kommission eine wesentlich schärfere Verurteilung gerechtfertigt hätten. Ariel Sharon aber wurde schließlich aus dem Verteidigungsministerium entfernt. Nach dem traumatischen Jom-Kippur-Krieg, hatte die Regierung ebenfalls eine Untersuchungskommission verweigert, aber der öffentliche Druck verschaffte sich auch hier die Durchsetzung seiner Forderung. Das Schicksal der Agranat-Kommission, der ein ehemaliger Oberbefehlshaber der Truppen und zwei hochrangige Offiziere angehörten, war recht seltsam: sie führte eine ernsthafte Untersuchung durch, gab dem Militär alle Schuld, warf den Oberbefehlshaber “Dado” Elazar aus seinem Amt - und sprach die politische Führung von jeglicher Schuld frei. Das verursachte einen spontanen Volksaufstand, der Golda Meir und Moshe Dayan - jeweils Vorgänger von Olmert und Peretz im Amt des Premierministers beziehungsweise des Verteidigungsministers - zum Rücktritt zwang. Auch dieses Mal versucht die politische und militärische Führung jegliche ernsthafte Untersuchung zu verhindern. Amir Perertz hat sogar eigens eine Kommission mit engen Gefolgsleuten besetzt, um alles übertünchen zu können. Aber der öffentliche Druck verstärkt sich ständig, und die Chancen stehen nicht schlecht, dass am Ende kein anderer Ausweg bleiben wird als eine Kommission mit gerichtlichen Befugnissen. Allgemein gesagt bestimmt derjenige, der eine Untersuchungskommission einberuft und ihre Bezugspunkte bestimmt, zugleich auch ihre Ergebnisse. Nach israelischem Gesetz, ist es die Regierung, die solch eine Kommission beruft und ihre Bezugspunkte bestimmt. (In meiner früheren Funktion als Mitglied der Knesset, habe ich gegen die entsprechenden Paragrafen gestimmt). Die Zusammenstellung der Kommission selbst aber, wird vom Vorsitzenden des obersten Gerichtshofes bestimmt. Wenn es zur Zusammenstellung einer solchen Kommission kommt, dann nehme ich an, dass der Vorsitzende des Gerichts, der hochangesehene Richter Aharon Barak, sich selbst für diese Aufgabe ernennen wird. WENN ES nun tatsächlich zur Aufstellung einer solchen Kommission kommt, was gilt es zu untersuchen? Die Politiker und Generäle werden sich bemühen, die Untersuchung auf technische Aspekte der Kriegsführung zu beschränken:
Die Regierung wird wahrscheinlich versuchen, den Fokus der Untersuchung zu erweitern, und einen Teil der Schuld auf ihre Vorgänger zu lenken:
All dies sind ernsthafte Fragen, und es ist sicherlich notwendig sie zu klären. Aber noch wichtiger ist es, die Wurzeln dieses Krieges zu erforschen:
Auch das ist noch nicht genug. Es gibt noch grundlegendere und wichtigere Fragen. DIESER KRIEG hat keinen Namen. Sogar nach 33 Kampftagen und sechs Tagen Waffenstillstand, hat sich noch kein naheliegender Name finden lassen. Die Medien benutzen einen Namen mit chronologischem Charakter: II. Libanon Krieg. Auf diese Weise wird der Krieg im Libanon abgetrennt von dem, der parallel dazu im Gazastreifen geführt wird, und der nach dem Waffenstillstand im Norden unabgemildert weiter getrieben wird. Haben diese Kriege einen gemeinsamen Nenner? Sind sie vielleicht sogar ein und derselbe Krieg? Die Antwort ist: mit Sicherheit Ja. Und der eigentliche Name dieses Krieges ist: der Krieg für die Aufrechterhaltung der Siedlungen. Der Krieg gegen das palästinensische Volk wird betrieben, um die Siedlungsblöcke halten und weite Teile der Westbank annektieren zu können. Der Krieg im Norden wurde geführt, um die Siedlungen auf den Golanhöhen halten zu können. Hizbollah ist mit Unterstützung Syriens, das zur damaligen Zeit den Libanon beherrschte, herangewachsen. Hafez al-Assad sah in der Rückkehr des Golans zu Syrien sein Lebensziel - schließlich war er es, der sie im Krieg von 1967 verloren hatte, und dem es 1973 nicht gelungen war, sie zurückzuerobern. Er wagte nicht einen weiteren Krieg an der israelisch-syrischen Grenze zu riskieren, die ja Damaskus so nahe ist. Daher versorgte er die Hizbollah, um Israel davon überzeugen zu können, dass es ohne die Rückgabe des Golan niemals Ruhe haben werde. Assad Jr. setzt das Erbe seines Vaters in diesem Sinne fort. Ohne die Kooperation Syriens, hat der Iran keine Möglichkeit, Waffen an die Hizbollah zu liefern. Die Lösung liegt auf der Hand: wir müssen die Siedler von dort zurückholen, und den Golan an seine rechtmäßigen Besitzer zurückgeben, wie groß auch immer der Preis an Wein und Mineralwasser sei. Ehud Barak hat dies beinahe getan, aber - wie es seine Gewohnheit ist - in letzter Sekunde die Nerven verloren. Es muss laut gesagt werden: jeder der 154 toten Israeli des zweiten Libanonkrieges starb für die Siedler der Golanhöhen. DAS 155. TODESOPFER dieses Krieges ist der “Konvergenzplan” - der Plan, der den unilateral bestimmten Rückzug aus Teilen der Westbank vorsah. Ehud Olmert wurde vor vier Monaten (kaum zu glauben! nur vier Monate ist das her!) vor dem Hintergrund des Konvergenzplanes gewählt, ganz ähnlich wie Amir Peretz als Befürworter einer Truppenverkleinerung und weitreichender sozialer Reformen gewählt wurde. Während des Krieges noch hat Olmert verkündet, dass er den Konvergenzplan umsetzen werde. Aber vorgestern musste er dann zugeben, dass wir den wohl vergessen können. Die Konvergenz sah vor, 60.000 Siedler zu entfernen, 400.000 andere jedoch in der Westbank (einschließlich der Jerusalem-Region) zu belassen. Nun wurde auch dieser Plan beerdigt. Was verbleibt? Kein Frieden, keine Verhandlungen, keinerlei Lösung für den mittlerweile historisch zu nennenden Konflikt. Auf Jahre hin komplett festgefahren, zumindest bis wir das Duo Olmert und Peretz los sind. In ganz Israel wird bereits über die “nächste Runde” geredet, den Krieg, der schlussendlich mit der Hizbollah aufräumt und sie dafür straft, unsere Ehre beschmutzt zu haben. Die Gewissheit, dass ein weiterer Krieg kommen wird, ist dem Anschein nach zu einer Binsenweisheit geworden. Selbst die Zeitung Haaretz bezeichnet den nächsten Krieg in ihren Leitartikeln als selbstverständlich. Was den Süden angeht, so wird nicht von einer nächsten Runde gesprochen, da die gegenwärtige Runde eine endlose ist. Um überhaupt irgendeinen Wert zu haben, muss die Untersuchungskommission die wahren Wurzeln des Krieges aufdecken und der Öffentlichkeit die historische Wahl, die sich in diesem Krieg so deutlich abgezeichnet hat, präsentieren: Entweder die Siedlungen und endloser Krieg, oder Rückgabe der besetzten Gebiete und Frieden. Andernfalls wird die Untersuchung nur Unterstützung liefern für die Perspektive der Rechten: wir müssen nur die Fehler, die gemacht worden sind, herausfinden und korrigieren, dann können wir den nächsten Krieg beginnen und werden siegen. Aus dem Englischen: Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert Weblinks: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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