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Arno Gruen: “Ich will eine Welt ohne Kriege!”

Von Michael Schmid - Rezension

"Kriege hat es immer gegeben", "Der Mensch ist nun mal schlecht", "Wer verliert ist selber schuld" - wer kennt sie nicht, solche und weitere oft mit unerschütterlicher Überzeugungskraft vorgetragenen "Weisheiten". Entsprechend wird dann häufig Gewalt und Unrecht gerechtfertigt. Eine solche Sicht der Wirklichkeit lässt kaum Hoffnung zu auf eine ganz andere, bessere Welt. Und wer sich dennoch für eine solche einsetzt, wird als naiver Träumer abgetan - bestenfalls.

"Ich will eine Welt ohne Kriege" lautet das neueste Buch von Arno Gruen. Bereits der Titel drückt aus, dass der 83-jährige Psychoanalytiker an seinem Traum einer Welt ohne Krieg und Gewalt festhalten möchte. Entstanden ist ein aufrüttelndes Manifest, in dem es um die Überwindung von Kriegen geht, aber auch darum, jede Art von Gewalt zu überwinden.

Gruen vertritt die Meinung, zum Verständnis für Krieg und Gewalt reiche eine Betrachtung von politischen, ökonomischen und ideologischen Gesichtspunkten nicht aus. Es seien Menschen, die Kriege führen. Deshalb interessiert ihn besonders die Frage, was Menschen dazu treibt, anderen Gewalt anzutun oder solche zu dulden.

Gruens Grundthese: Menschen, deren Kindheit von Lieblosigkeit geprägt war, wappnen sich ein Leben lang gegen den Schmerz, der aus diesem frühen Erleben emporsteigt. Sie müssen immer "stark" sein und alles unter Kontrolle halten. Die Verleugnung des Schmerzes, das Abgeschnittensein von den Möglichkeiten eines eigenen Selbst, führt jedoch dazu, zeit Lebens den Schmerz außerhalb von sich selbst zu suchen, indem anderen Leid zufügt wird. Die in frühester Kindheit durch Unterdrückung des Eigenen entfachte Wut sucht sich also Ersatzobjekte. Vermeintlich "Schwächere" werden heruntergemacht, verhöhnt, unterdrückt, wodurch man sich selber aufgewertet und bedeutsam fühlen kann. Im schlimmsten Fall kann das in Mord, Terror, Genozid münden.

Demgegenüber entsteht nach Gruen wahre innere Kraft durch bewusstes Erleben von Leid und Schmerz. Dadurch lässt sich erfahren, dass Sicherheit ein Zustand in uns selber ist, etwas, was auch dann bestehen bleibt, wenn wir schwach und hilflos sind. Dieses Gefühl, das auf einem Sich-selbst-Sein beruht, kann ein Mensch wiederum nur entwickeln, wenn er als Kind liebevoll in seinem Schmerzerleben begleitet wurde. Aus dem Erleben von Schmerz und der gleichzeitigen Erfahrung, dass dieser nicht tötet, wächst ein Gefühl der Stärke, das von Dauer ist und sich nicht immer wieder im Wettstreit mit anderen beweisen muss.

In einer solchen inneren Kraft wiederum sieht Arno Gruen die Grundlage für unsere Fähigkeit, am Mitgefühl für andere festzuhalten. Und es ist erst das Mitgefühl, das den Menschen zum Menschen macht. Was Menschen verbindet, ist die Empathie, das Mitgefühl. Dadurch sind wir in der Lage, uns in die Situation anderer hineinzufühlen und deren Bedürfnisse, Wünsche, Gedanken und auch Bewegungen nachzuempfinden. Einfühlungsvermögen macht dem Menschen seine Entwicklung überhaupt erst möglich, denn sie ist die Basis aller frühen Lernerfahrungen.

Unsere Fähigkeit zum Mitgefühl verstärkt nach Gruen auch unsere innere Kraft. Wir erfahren auf diese Weise, dass wir anderen etwas geben können und dass auch Selbstlosigkeit eine Quelle der Kraft ist. Wenn wir also unser Erleben mit anderen Menschen teilen, dann werden mitfühlende Tendenzen gefördert, die wir alle in uns tragen. Wir selbst erfahren dadurch eine Stärkung, und anderen wird der Mut gegeben, sich auf ihre mitfühlenden Wahrnehmungen von Leid und Schmerz zu verlassen.

Eine Hilfe sieht Gruen in der Sehnsucht vieler Menschen nach menschlicher Verbundenheit, weil die damit verbundenen Träume dazu beitragen können, die Wahrheit zu erkennen und den Mut zu stärken, Mitgefühl zum Maßstab unseres Handelns zu machen. In der menschlichen Fähigkeit zum Mitgefühl besteht das wichtigste Mittel zur Verhinderung von Gewalt.

Arno Gruen hat in diesem Buch ein flammendes Plädoyer für einen liebevollen Umgang mit Kindern und dem Festhalten an dem Glauben an das Gute im Menschen entfaltet. Darin, sowie in der Fähigkeit zum Mitgefühl sieht er die Voraussetzung für eine friedvolle Welt. Es ist zu wünschen, dass dieses kleine, gut lesbar geschriebene Buch viele Leserinnen und Leser finden wird. Dies gilt auch dann, wenn zu wünschen gewesen wäre, dass Gruen konkreter auf jene Menschen und Gruppen eingeht, die sich, getrieben von der Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, in einer bunten Vielfalt von Gruppen und sozialen Bewegungen bereits jetzt dafür engagieren, dass eine andere Welt möglich ist.

 


Arno Gruen: "Ich will eine Welt ohne Kriege", Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 1. Aufl. 2006, gebunden, 126 Seiten, ISBN: 3-608-94443-5, Preis EUR [D] 12.00* / SFr 22.10*

 

Arno Gruen,

1923 in Berlin geboren, emigrierte 1936 in die USA. Nach dem Studium der Psychologie leitete er ab 1954 die psychologische Abteilung der ersten therapeutischen Kinderklinik in Harlem. 1961 promovierte Arno Gruen als Psychoanalytiker bei Theodor Riek. Es folgten Professuren in Neurologie und Psychologie. Daneben führte er seit 1958 eine psychoanalytische Privatpraxis in Zürich, wo er seither lebt und praktiziert.

In seinen zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigt sich Arno Gruen mit dem plötzlichen Kindstod, mit den psychologischen Ursachen für Gewalt und Fremdenhaß, mit den Voraussetzungen für Autoritätsgläubigkeit und Demokratie.

Für das bei Klett-Cotta erschienene Buch Der Fremde in uns erhielt Arno Gruen im Jahr 2001 den Geschwister-Scholl-Preis.

LESEPROBE

Vorwort
Dieses Buch wurde für junge Menschen geschrieben - in dem Glauben, dass diese noch stärker an ihrer eigenen Sicht der Wirklichkeit festhalten als ältere Generationen. Leider übernehmen wir ja mit dem Alter sehr oft die in unserer Gesellschaft üblichen Denksysteme, die sich in Sätzen wie "Der Beste gewinnt", "Wer verliert, ist selber schuld", "Der Mensch ist nun mal schlecht" ausdrücken. Man passt sich an, weil alles andere Angst macht. Die Jüngeren dagegen sehen noch andere Ufer. Sie möchte ich erreichen und ihre Wahrnehmung stützen. Natürlich wende ich mich auch an diejenigen, die in ihrem Denken jung geblieben sind und sich ihren eigenen Blick auf die Welt bewahrt haben, die sich noch anstecken lassen von der jugendlichen Lebendigkeit, der Intensität und der Hoffnung auf ein besseres Leben. All diesen Lesern möchte ich Mut machen, sich auf das Gute, das Kreative im Menschen zu besinnen.

"Ich will eine Welt ohne Kriege" - diesen Titel verdanke ich der Begegnung mit einer Gruppe von Jugendlichen, deren Begeisterung mich bewegte. Nach einem Vortrag in Stuttgart im Januar 2005 waren sie an mich herangetreten, um mich für die Jugendzeitung "kritische masse" zu interviewen. Sie wollten wissen, was man tun könne, um die Welt zu einem Ort zu machen, in dem Leben in all seiner Vielfalt möglich ist und bleibt. Diese Jugendlichen gingen mit ihren Fragen den Dingen ohne Furcht auf den Grund. Sie waren unerschütterlich in ihrem Wunsch nach einer friedvollen Welt. Wir stimmten darin überein, dass diese nur möglich wird, wenn "Maximen aus dem Bauch kommen", also aus dem Herzen und dem Mitgefühl.

Selbstverständlich geht es in diesem Buch nicht nur um Kriege, sondern um jede Art von Gewalt. Krieg ist jedoch die gefährlichste Form von Gewalt, denn er wird unter dem Signum der moralischen Gerechtigkeit ausgetragen. Immer wieder ziehen Nationen in den Krieg und glauben, in ihrem tödlichen Treiben eine "heilige Mission" zu erfüllen. Den darin liegenden Widerspruch erkennen Jugendliche oft viel deutlicher als ihre Eltern. Ich erinnere mich an meine Töchter, die schon während ihrer Schulzeit eine Erwachsenenwelt, die sie in der Schule zu Schutzübungen für den Kriegsfall aufforderte, für verrückt erklärten. Sie sagten: Was für ein Unsinn! Krieg war für sie unter keinen Umständen zu rechtfertigen oder entschuldbar.

In diesem Sinne widme ich dieses Buch der Jugend und den Erwachsenen, die wie ihre Kinder noch eine Hoffnung für die Menschheit in sich tragen.

Idee und Anregung für dieses Buch kamen von meiner Frau Simone. Das kritische Lesen übernahm unsere Tochter Zoé. Der Text selbst wurde gemeinsam mit Monika Schiffer geschrieben, deren einfühlsames Wirken dessen Gestaltung prägte.

Träume sind Lebendigkeit

Wünscht sich ein Kind eine Welt ohne Kriege, wird es von Erwachsenen als naiv abgetan, genauso wie der Jugendliche, der für Frieden demonstriert. Aber was ist naiv an solchen Wünschen? Was ist lächerlich daran, sich eine Welt ohne Gewalt vorzustellen? Warum wird ein von Liebe bestimmtes menschliches Zusammenleben verächtlich als naiver Traum abgetan? Es gilt als erwachsen und realistisch, sich mit Kriegen abzufinden. "Erwachsene" halten Gewalt für ein Naturgesetz. Der Mensch sei nun mal böse, heißt es. Sogenannte Realisten haben viele solcher Weisheiten auf Lager: "Was im Leben zählt, ist der Erfolg", "Einer muss immer das Sagen haben", "Wenn man etwas haben will, muss man es sich erkämpfen", "Die Welt ist schlecht": Sätze wie in Stein gemeißelt, die vermeintliche Wahrheiten verkünden und doch nichts anderes sind als Behauptungen von Menschen, die nicht mehr bereit sind, an die Möglichkeit einer anderen und besseren Welt zu glauben. "Vielleicht fehlt uns der Träumer, und wir wissen noch nicht einmal, dass er uns fehlt … der Träumer, der wahre begeisterte Irre, der Einsame, der wirklich Verlassene, der einzige tatsächliche Rebell."1 Das schrieb vor etwa 60 Jahren der Schriftsteller Henry Miller. Träume können subversiver sein als politische Ideologien, deshalb sind sie für die selbsternannten Realisten so bedrohlich.

Eine Patientin erzählte mir einmal, wie sie mit fünf oder sechs Jahren im Garten auf einen wunderschönen mit Schnee bedeckten Baum schaute. Plötzlich schlug ihr die Mutter, die sich von hinten genähert hatte, mit der flachen Hand in den Nacken und schrie sie an: "Hör auf zu träumen!" Die Erinnerung der Patientin war so stark, so gegenwärtig, dass sie mich fragte, ob ich es gesehen hätte.

"Hört auf zu träumen!" ist eines der typischen Diktate, die Erwachsene zwischen sich und Jugendliche stellen. Träumen macht vielen Erwachsenen Angst, denn Träumen bedeutet Freiheit von den Einschränkungen des Alltags, von einer Ordnung, die dem Denken Grenzen setzt, aber auch Schutz vor Zweifeln und Unsicherheiten bietet. Viele Erwachsene haben sich in ein Bollwerk aus Pseudo-Wahrheiten eingemauert. Eine solche Festung gibt ihnen das Gefühl, sicher vor Überraschungen zu sein und das Leben unter Kontrolle zu haben. Doch was ist das Leben ohne Überraschungen? Sicherheit ist das Gegenteil von Spontaneität und Neugier, von Mitmenschlichkeit und der Freude am Neuen, am Anderen, am Unbekannten. Kurz: Sicherheit ist der Tod alles Lebendigen. Träume dagegen bedeuten Lebendigkeit. Träume durchdringen die Mauern der Ignoranz und öffnen den Blick für das, was im Leben alles möglich wäre.

Die amerikanischen Indianer verstanden dies. Deshalb hatten sie ein volles Leben - trotz materieller Not und Unsicherheit. In ihrer Weisheit wollten sie diese Unsicherheit auch gar nicht aufgeben. Diese Menschen besaßen, was wir heute weitgehend verloren haben: Gleichmut in der Unsicherheit, Sicherheit in der Hilflosigkeit. Denn ihre Stärke wurzelte nicht in Unverletzlichkeit, sondern im Akzeptieren von Leid und Schmerz als einem selbstverständlichen Bestandteil des Lebens (auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen). Eine Jugend, die noch träumen kann, hat noch etwas von diesem Potential. Der Verlust kommt erst später, wenn das Träumen aus Gründen der Anpassung aufgehört hat.

In seinem Roman "Nachtzug nach Lissabon" schreibt Pascal Mercier über die Jugend: "Wieviel Leben sie noch vor sich haben; wie offen ihre Zukunft noch ist; was noch alles mit ihnen passieren kann; was sie noch alles erleben können."

Eltern, aber auch Gesellschaften im Allgemeinen, haben drei Alternativen, sich gegenüber diesem Zukunftspotential ihrer Kinder zu verhalten: Entweder sie lieben deren Möglichkeiten und fördern diese so gut sie können. Oder sie missbrauchen sie, um ihre eigenen Vorstellungen als gute Eltern zu bestätigen. Oder sie unterdrücken dieses Lebendige, weil sie es selbst nie leben durften, weil sie es ihren Kindern neiden und deshalb niedermachen müssen. Darum geht es in diesem Buch - und natürlich um die Frage, was das alles mit unserem Wunsch nach einer friedlichen Welt zu tun hat.

[…]

Veröffentlicht am

30. August 2006

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