Die USA nach 9/11: Es brauchte kein BekennerschreibenDer “Krieg gegen den Terrorismus” könne so lange dauern, wie der Kalte Krieg - oder länger, erklärte die US-RegierungVon Konrad Ege, Washington In der Literaturgattung “Alternativ-Geschichte” dürfen Autoren spekulieren. Sie entwerfen Szenarien: Was hätte passieren können, wären bestimmte Ereignisse nicht eingetreten? Wenn zum Beispiel die Nazis nicht besiegt worden wären im Zweiten Weltkrieg. Auch die Terroranschläge des 11. September 2001 bieten viel Material für solche Mutmaßungen. George W. Bush wäre wohl längst abgewählt worden, in den USA entstünden politische Freiräume für Umwelt- und Klimaschutz, die Macht der Militärs und ihrer unternehmerischen Verbündeten hätte vielleicht zurückgedrängt werden können. In der “Realitätsgeschichte” hat nach 9/11 die konservativste US-Regierung der modernen Geschichte ihre Macht gefestigt, Kriege und bewaffnete Konflikte angezettelt und in den USA ein Klima der Angst geschürt. Der Himmel über New York City war strahlend blau an diesem Herbstmorgen. Ein Herbsttag, wie man ihn sich wünscht nach einem heißen Sommer. Um 8 Uhr 46 Ortszeit am 11. September 2001 begann im Stadtteil Manhattan jene Kette von Ereignissen, durch die sich, wie man noch heute sagt, “alles verändert hat”. Ein neues Kapitel sei aufgeschlagen worden, in dem die schon lange nicht mehr brauchbaren, aber in den Köpfen weiter existierenden Orientierungsgefüge des Kalten Krieges endgültig begraben wurden. Denn in jener Minute steuerten die fünf saudi-arabischen Entführer des American Airlines Fluges Nummer 11 ihre Passagiermaschine in den mehr als 400 Meter hohen Nordturm des World Trade Centers. Was in den ersten Minuten wie ein Unfall aussah, erwies sich schnell als Teil einer ausgeklügelten Anschlagsserie extremistischer Selbstmordattentäter. Eine zweite Maschine krachte siebzehn Minuten danach in den Südturm des Welthandelszentrums. Beide Türme stürzten zusammen. Da brauchte es kein Bekennerschreiben: Der Angriff traf ins vermeintliche Herz der wirtschaftlichen Macht des amerikanischen Imperiums. Er richtete sich gegen die Millionenstadt am Hudson, die schon für andere Feinde, einschließlich Adolf Hitler, als Symbol sittlicher Verkommenheit, der Mischung der “Rassen” und Kulturen, und besonders der “jüdischen Macht” gegolten hatte. Ein drittes Flugzeug schlug ins Pentagon ein, dem militärischen Machtzentrum, ein viertes steuerte angeblich auf das Weiße Haus zu, stürzte jedoch auf eine Wiese im US-Bundesstaat Pennsylvania. Etwa 3.000 Menschen kamen bei den vier Anschlägen ums Leben. Das vielen US-Amerikanern unverwundbar erscheinende Festland war attackiert worden. Nur zwei Tage später - verzweifelte Angehörige der Opfer irrten noch immer mit Fotos der Vermissten von Krankenhaus zu Krankenhaus - erklärte die US-Regierung, das Komplott gehe auf das Konto von al Qaida und deren Chef Ossama bin Laden, einst ein saudi-arabischer Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans. Wogen der Sympathie mit den Opfern spülten über die USA. Hunderttausende versammelten sich zu Schweigeminuten in Berlin und anderswo. Erstmals in ihrer Geschichte erklärte die NATO den “Bündnisfall”; der Angriff auf die USA habe sich gegen alle NATO-Mitgliedsstaaten gerichtet. Präsident George W. Bush, der nach der Wahlkontroverse von Florida auf wackeligem Stuhl saß, rief in seiner neuen Rolle als Feldherr zur Einheit auf, auch weltweit: “Entweder seid ihr auf unserer Seite oder auf der der Terroristen”. Damit formulierte die US-Regierung ihr Leitmotiv im “Krieg gegen den Terrorismus”, der so lange dauern könne wie der Kalte Krieg, oder länger. Am 7. Oktober 2001 griffen US-Einheiten Afghanistan an, wo al Qaida ihre Stützpunkte habe. Der Name al Qaida avancierte bald zum Sammelbegriff für extremistische islamische Attentäter. In Washington erträumten und planten Regierungsvertreter bereits andere Kriege gegen den Irak und möglicherweise den Iran und Syrien, alles im Namen der Terrorismusbekämpfung. Fünf Jahre später bleibt die Struktur von al Qaida undurchsichtig; man muss davon ausgehen, es handelt sich um unterschiedliche Gruppen, die, wenn überhaupt, nur locker miteinander verbunden sind. Bin Laden bleibt anscheinend unauffindbar; allein im Jahr 2006 verschickte er sechs Botschaften per Tonband. Franklin D. Roosevelt sprach bei seiner Amtseinführung 1933 den noch heute viel zitierten Satz “the only thing we have to fear is fear itself”. Das einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst. Der Präsident bezog sich damals hauptsächlich auf die wirtschaftliche Depression, die Arbeitslosigkeit und das Elend in den USA. Später wurde der Ausspruch auch im Kontext des Krieges gegen Deutschland und Japan verwendet. Roosevelts Satz war patriotisch; wir Amerikaner lassen uns keine Angst einjagen, machte er deutlich. Wir sind aus der alten Welt in die Neue gekommen. Nur wir selber können uns Schaden zufügen. Nach 9/11 ist das anders. Präsident George W. Bush und seine Leute pflegen die Furcht vor al Qaida. “Die heutigen Terroristen können beliebig angreifen, wo auch immer sie wollen und mit praktisch allen erdenklichen Waffen”, warnte das nach 9/11 gegründete Ministerium für Heimatschutz (Homeland Security). Den “Terroristen” wird von Washington eine Allmacht zugeschrieben, um zu Hause und in der Militär- und Außenpolitik die eigene zunehmend grenzenlose Machtausübung zu rechtfertigen: die Überwachungsgesetze in den USA, Folter und Entführung mutmaßlicher Terroristen, die Einrichtung von Geheimgefängnissen und vieles mehr. In den Vereinigten Staaten untergraben Bushs Versuche, mehr und mehr Macht im Weißen Haus zu konzentrieren, das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung und die konstitutionell garantierten bürgerlichen Rechte. Dennoch muss den Regierenden bitter deutlich werden, dass sie zunehmend reale Macht verlieren. So schrumpft die wirtschaftliche Stärke der USA, ehemals ein Druckmittel, um Verbündete im Kalten Krieg auf Linie zu halten. Auch die militärischen Kapazitäten stoßen an ihre Grenzen. In den USA selber ist langfristig fraglich, wie lange die Angstmache ausreichen wird, um die politische Opposition zu ersticken. Was aber passieren würde, käme es in den Vereinigten Staaten zu einem weiteren Anschlag, mag man sich gar nicht ausmalen. US-amerikanische und europäische Reaktionen auf den 11. September11. September 2001: Washingtoner Regierungskreise machen al Qaida-Mitglieder für die Anschläge verantwortlich. Präsident Bush kündigt an, die Täter jagen zu wollen. Kanzler Schröder sichert den USA die “uneingeschränkte Solidarität” Deutschlands zu. 12. September: Bush erklärt, man werde nicht unterscheiden zwischen den Verantwortlichen und jenen, die ihnen Unterschlupf gewähren. Die UNO zieht ihre Mitarbeiter aus Afghanistan ab. 13. September: Bin Laden gehört zu den Verdächtigen, bekräftigt US-Außenminister Colin Powell. Der deutsche Generalbundesanwalt Kay Nehm erklärt, drei Mitglieder einer islamistischen Vereinigung aus Hamburg stünden auf Passagierlisten der entführten Flugzeuge. 14. September: Der US-Senat beschließt 40 Milliarden Dollar Notmittel und bevollmächtigt Bush, alle nötigen Gewaltmittel anzuwenden. 15. September: Bush erklärt, die USA befänden sich im Krieg und bin Laden sei Hauptverdächtiger. 19. September: Die USA verlegen mehr als 100 Kampfflugzeuge in die Golfregion. 22. September: Die US-Sanktionen gegen Pakistan und Indien werden aufgehoben. 24. September: Bush kündigt an, das Vermögen bin Ladens und von al Qaida einzufrieren. 2. Oktober: Die NATO ruft den Bündnisfall aus, nun können die USA militärische Unterstützung durch die Allianz beanspruchen. 4. Oktober: Großbritanniens Premier Blair erklärt, er verfüge über sichere Beweise für eine Verbindung zwischen bin Laden und mindestens drei der Attentäter. 6. Oktober: Die Finanzminister und Zentralbankchefs der G7-Staaten kündigen Maßnahmen gegen Gruppen an, die den Terrorismus unterstützen. 7. Oktober: Beginn der US-Angriffe auf Afghanistan. 11. Oktober: Schröder proklamiert den Beginn eines neuen Abschnitts deutscher Außenpolitik, eine “neue Verantwortung” mache die Beteiligung an Militäreinsätzen nötig. 16. November: Gekoppelt an die Vertrauensfrage für Kanzler Schröder beschließt der Bundestag die deutsche Beteiligung am “Krieg gegen den Terrorismus”, namentlich an der Operation “Enduring Freedom” mit 3.900 Soldaten.
Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 36 vom 08.09.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Konrad Ege und Verlag. Weblink:
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