Das neue Weißbuch - Der nächste VersuchVon Otfried Nassauer “Keiler” - so heißen die Minenräumpanzer der Bundeswehr. Vor den Panzer hat man eine rotierende Welle montiert. An dieser sind Ketten befestigt, an deren Ende jeweils ein schwerer Metallflegel hängt. Dreht sich die Welle, so prügeln die Flegel mit Wucht auf den Boden vor dem Panzer ein und graben diesen zugleich dezimetertief um. Selbst versteckte Minen werden damit zur Explosion gebracht oder zertrümmert. Mit einem “Keiler” haben die Diplomaten des Auswärtigen Amtes offensichtlich den Entwurf des Verteidigungsministeriums für ein neues Weißbuch bearbeitet. Auf der Suche nach versteckten politischen Sprengsätzen und Minen blieb kaum ein sicherheitspolitisch wichtiger Absatz des Entwurfes unberührt. Das zeigt die Lektüre des zwischen den Ressorts abgestimmten neuen Entwurfs. Am 25. Oktober soll er bei einer Kabinettsitzung im Berliner Bendlerblock verabschiedet werden. Entschärft wurden alle Passagen, die zu Sprengsätzen für die Große Koalition hätten werden können. Im neuen Weißbuch wird nicht mehr gefordert, dass die Nukleare Teilhabe in der NATO auf Dauer beibehalten wird - wie die CDU es wollte. Die SPD-Forderung, festzuhalten, dass die Nukleare Teilhabe ausläuft, fehlt natürlich ebenfalls. Geschildert wird der Ist-Zustand: Es gibt sie. Die Forderung nach einer neuen NATO-Strategie wurde abgeschwächt und in die unbestimmte Zukunft verlegt. Auf konkrete inhaltliche Ideen wird verzichtet. Der von Verteidigungsminister Jung gewünschte Begriff der erweiterten Verteidigung verschwand in der Versenkung. Die Sicherung der Energieversorgung Deutschlands als Bundeswehraufgabe findet keine Erwähnung mehr. Der Streit, ob die Bundeswehr Aufgaben der inneren Sicherheit übernehmen soll, wurde bürokratisch bearbeitet: Es geht jetzt nur noch um Aufgaben, die im Rahmen eines Luft- beziehungsweise Seesicherheitsgesetzes von polizeilichen Kräften mangels Bewaffnung nicht wahrgenommen werden können. Eine interministerielle Arbeitsgruppe soll Vorschläge erarbeiten wie dies im Grundgesetz am besten klargestellt werden kann. Mit anderen Worten: Der neue Weißbuch-Entwurf hat jene Ecken und Kanten verloren, an denen sich die parteipolitische Diskussion gestoßen hatte. Ist das schlimm? In gewisser Weise ja. Denn die notwendige breite Diskussion über die Zukunft deutscher Sicherheitspolitik wird das Weißbuch nicht anstoßen. Ganz gleich ob der Verteidigungsminister dies fordert oder wünscht. Weder der Inhalt noch das bisherige Verfahren sind dazu angetan. Betrachten wir zunächst den Inhalt: 17 Jahre nach Ende des Kalten Krieges und fünf Jahre nach den Anschlägen von New York und Washington ist ein Weißbuch entstanden, das in seiner Analyse des sicherheitspolitischen Umfeldes, der Risiken und der Beschreibung sicherheitspolitischer Strategien für Deutschland nur teilweise und dann meist vor allem rhetorisch zeigt, dass es auf dem Stand der Debatte ist. Angesichts neuer Risiken und alter Gefährdungen reklamiert das Weißbuch einen erweiterten bzw. umfassenden Sicherheitsbegriff. Es erkennt an, dass militärische Mittel nicht geeignet sind, alleine den Risiken der Zukunft zu begegnen. Es erwähnt die Notwendigkeit der Konfliktfrühwarnung und der Konfliktprävention. Auf Drängen des Auswärtigen Amtes stellt es Querverbindungen zu außenpolitischen Zielsetzungen und Konzepten und zum Gesamtkonzept “Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung” sowie zum Aktionsplan Ziviles Konfliktmanagement der Bundesregierung her. Es verweist auf die Notwendigkeit ressortübergreifender Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik. Doch eine nähere Betrachtung zeigt, dass es meist bei der Aufnahme der Stichworte bleibt. Wie umfassende Sicherheit in ressortübergreifender Zusammenarbeit und unter Nutzung aller außen- und sicherheitspolitischen Wirkungsinstrumente erarbeitet und erreicht werden soll, sagt das Weißbuch nicht. Es beschränkt sich darauf zu zeigen, welche Beiträge die Bundeswehr auch jenseits der engeren, militärischen Sicherheitspolitik leisten kann. Gerade in den vom Auswärtigen Amt mit erarbeiteten sicherheitspolitischen Kapiteln verwundert diese Verkürzung. Denn mit dem Gesamtkonzept und dem Aktionsplan wurden unter Federführung des Außenministeriums bereits vor Jahren erste ressortübergreifende Dokumente erarbeitet, die von der Analyse der Risiken bis zur ressortübergreifenden Einbindung sicherheitspolitischer Instrumente besser überzeugen konnten. Ein primär rhetorisches Aufnehmen neuer Ansätze zeigt sich auch in den militärischen Abschnitten. Transformation und streitkräfteübergreifendes Denken und Handeln dominieren die Wortwahl. Dass die Wirklichkeit der Bundeswehr aber oft weiter von den Egoismen der Teilstreitkräfte bestimmt wird - zum Beispiel bei der Rüstungsplanung - kommt im Weißbuch nicht vor. Auch das Verfahren rund um das neue Weißbuch ist nicht geeignet, die notwendige Debatte um die Zukunft deutscher Sicherheitspolitik anzustoßen. Diese müsste öffentlich stattfinden. Doch so wie der erste Entwurf des Weißbuches als geheime Kommandosache im Planungsstab erstellt wurde, entstand auch der neue durch geheimes Fingerhakeln zwischen den Ministerien. Wäre eine öffentliche Debatte wirklich gewünscht, so wäre es klug gewesen, der Abstimmung im Kabinett öffentliche Debatten mit Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und anderen Interessierten vorzuschalten. Als formaler Kompromiss zwischen Machtministerien wird das Weißbuch kaum dazu beitragen, den sicherheitspolitischen Diskurs weiter zu entwickeln. Doch kommen wir noch einmal auf den Minenräumpanzer Keiler zurück: Jeder Minenräumer weiß, dass beim maschinellen Minenräumen nur mit viel Glück völlige Minenfreiheit erreicht werden kann. Meist bleiben einzelne Minen intakt zurück. Oft werden sie durch den Räumversuch sogar noch besser versteckt. Beschädigte Zünder können sogar dazu führen, dass sie auch dann explodieren, wenn sie es nicht sollen. So ist es auch beim neuen Weißbuch. Offen plädierte der Entwurf im April dafür, militärische Interventionen durch eine Veränderung der Rechtsgrundlagen der Vereinten Nationen zu erleichtern. Das in der Charta der Vereinten Nationen enthaltene Recht auf Selbstverteidigung müsse präzisiert und - Zitat - “präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen ermöglicht werden.” Ein gewaltiger Sprengsatz für das Völkerrecht. Im Gegensatz zu vielen anderen findet er sich auch im neuen Weißbuch - nur bestens versteckt hinter diplomatischen Formeln und humanitären Absichten. Zitat: “Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo 1999 ist die völkerrechtliche Lehre von der “Responsibility to Protect” (also von der Verantwortung zu schützen) entstanden. Auch wenn die Staaten, die sich diese Lehre zueigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um diesen Begriff doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben.” Zitat-Ende. Im Klartext: Wenn es um den Schutz der Menschenrechte und die Verhinderung von massenhafter Vertreibung oder Völkermord geht, soll es künftig ein Recht zu präventiver militärischer Intervention durch Dritte geben. Was aber, wenn der Zünder dieses Sprengsatzes verbogen ist? Soll es ein solches Recht zu präventiver militärischer Intervention dann auch gegen Terroristen und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen geben? George W. Bush würde sich sicher freuen. Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
Quelle: BITS vom 21.10.2006. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Otfried Nassauer.
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