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Zerfallsprozesse im Irak

Von Karl Grobe - Kommentar

Der irakische Staat ähnelt einer Figur aus “Alice im Wunderland”, der Cheshire-Katze auf dem Baum. Die verschwindet allmählich, bis nur ihr Grinsen übrig bleibt. Der gut achtzig Jahre alte Einheitsstaat war ein Produkt spätkolonialer Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, fast immer in seiner Geschichte von den - westlichen - Idealen moderner Staatlichkeit recht weit entfernt, aber lebensfähig und bis in die Diktatur-Zeit Saddam Husseins hinein wirtschaftlich dynamisch und kulturell entwickelt. Die Form gibt es noch. Der Inhalt verfliegt.

Der Führer der größten schiitischen Partei, Abdel Asis al-Hakim, verlangte jetzt den Zusammenschluss der schiitischen Provinzen im Süden zu einer Region mit einem Autonomie-Status, welches der Zentralregierung nur noch wenig Macht und Einfluss übrig ließe. Der kurdische Nordosten hat sich längst vom Konzept des zentralisierten Staates verabschiedet. Keiner seiner Führer gedenkt, die seit 1991 faktisch bestehende Autonomie verwässern zu lassen. In diesen beiden Regionen liegen die Ölquellen, deren Erschließung und Nationalisierung Irak bis vor zwanzig Jahren eine rasche Industrialisierung ermöglicht haben. Diese war die Voraussetzung für den - damals - beispielhaften Ausbau von Bildungseinrichtungen und Gesundheitswesen, kurzum: für einen Modernisierungsprozess.

Saddam Husseins Diktatur, seine Kriege gegen den Iran und Kuwait, die Sanktionen der UN und schließlich der Krieg der US-Allianz gegen sein Regime und die nachfolgende Besatzung haben die zivilisatorischen Grundlagen zerstört. Die daraus entstandene, von der Besatzung zunächst so gewollte Zerlegung der Bevölkerung in ethno-religiöse Gruppen löschte den gesellschaftlichen Zusammenhang und die staatliche Struktur aus. Der Zerfall zum Cheshire-Katzen-Staat ist damit in gebotener Kürze beschrieben.

An der Aufgabe, aus den Restbeständen eine demokratische Ordnung zu basteln, ist die Regierung unter Nuri al-Maliki nahezu lautlos gescheitert. Folglich gehen Putschgerüchte um. Doch Bewerbern um die Macht in diesem kaum mehr bestehenden Staat wären ohne Rückendeckung aus der weltweit größten befestigten US-Botschaft chancenlos. Und selbst wenn die Bush-Regierung ihr bisher letztes Ziel, den Export der Demokratie nach Bagdad, allmählich aufgibt - vor den Halbzeitwahlen in den USA in zwei Wochen wird da wohl nichts passieren.

Dennoch legen die Todesmeldungen aus dem Zweistromland Washington einen Kurswechsel dringend nahe. Mehr US-Soldaten als jetzt im Oktober sind in Irak seit langem nicht ums Leben gekommen; noch bedrückender aber ist: Täglich sterben derzeit rund hundert Iraker am Terror. Den könnte man als “zügellos” bezeichnen, wäre nicht allzu deutlich sichtbar, wer die Zügel führt. Es sind die in die Armee eingegliederten schiitischen Todesschwadrone; es sind so genannte Milizen wie die Mahdi-Armee, die sich von ihrem Inspirator Muktada al-Sadr allmählich löst, weil der sozusagen zivile politische Ambitionen hegt, übrigens zentralistische; es sind versprengte sunnitische Kommandos, denen unter der Hand Amnestie-Angebote auch von der Besatzung gemacht werden; es ist auch der El- Kaida-Komplex terroristischer Banden.

Verdeckt findet ein Kampf zwischen der (von einem schiitischen Minister geführten) Armee und der (sunnitisch gelenkten) Polizei statt. Tatsächlich ist der Frontverlauf komplizierter; aber auch in der Verallgemeinerung entspricht er dem, was manche Politiker als ethno-religiösen Föderalismus verstehen.

Ein noch autonomeres Kurdistan? Unweigerlich würden die Türkei, Iran und wohl Syrien in einer sonderbaren Interessengemeinschaft eingreifen. Ein schiitischer Teil-Staat? Den kann Saudi-Arabien wegen seiner unterdrückten schiitischen Minderheit in der Ölregion des Nordostens kaum ertragen. Den Einheitsstaat aber haben alle gemeinsam erledigt.

Wenn es einen Ausweg gäbe, so könnte ihn eine laizistische, sozialreformerische, über ethnische Grenzen reichende Kraft weisen. Früher einmal, Jahrzehnte ist es her, waren das die zivile Linke und die Baath-Partei und gewisse Offiziere. Freilich gab es da den Staat Irak noch.

Quelle: Frankfurter Rundschau   vom 27.10.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

28. Oktober 2006

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