Ein Gebet im ParadiesVon Gideon Levy, Haaretz, 22.11.2006 Die Kindergärtnerin liegt blutend auf einer Tragbahre. Der Minibus parkt am Straßenrand. Irgendwo von links schießen Kanonen Granaten ab. Die Kinder liegen alle neben einander auf dem Boden. So beschreibt eines der Kinder den Morgen, als sie zu ihrem Kindergarten nach Beit Lahia fuhren und eine Granate oder Rakete des israelischen Militärs - dieses weigert sich, Genaueres zu sagen - einige Meter davon entfernt explodierte und die Kindergärtnerin vor ihren Augen tödlich traf. Zwei Gymnasiasten, 15 und 16, wurden dabei auf dem Weg zur Schule auch getötet. Und in dieser Woche begruben die Kinder des Indira Gandhi-Kindergartens ihre Kindergärtnerin Najwa - was im Arabischen “Gebet” bedeutet. Sie war die Mutter von zwei Kleinkindern. Sie lag zwei Wochen lang im Gaza-Shifa-Krankenhaus im Koma. Fast nichts davon war in Israel über den Beschuss des Minibusses mit 20 Kindern geschrieben worden. Dies ereignete sich zwei Tage vor dem Beschuss, der 22 Bewohner im benachbarten Beit Hanun tötete. Es war auf dem Höhepunkt der Operation “Herbstwolken”. Wie durch ein Wunder traf die Granate/Rakete den Minibus nicht direkt, sondern landete in einem Abstand von etwa 15 Metern. Die traumatisierten Kinder des Kindergartens haben sich noch nicht erholt. In dieser Woche gingen sie mit Kränzen und Zeichnungen, die sie in Erinnerung an ihre geliebte Kindergärtnerin malten, im Trauerzug zu Najwa Khalifs Wohnung - die Erwachsenen begruben sie auf dem Friedhof von Beit Lahia. Indira Gandhi Hamuda, eine eindrucksvolle 35-jährige Frau und die Eigentümerin des neuen Kindergartens, sagt, dass sie während der letzten Monate den Kindern gesagt hatte, dass die Israelis keine Kinder töten, sondern nur die, die Qassams abfeuern, und dass sie nichts fürchten müssten, so lange sie nicht auf die Dächer gehen. Letzte Woche fragte eins der Kinder: “Du hast uns erzählt, dass die Israelis keine Kinder töten, sondern nur Qassamwerfer - warum haben sie dann unseren Minibus beschossen?” Was soll man da einem Vierjährigen sagen, der seine Kindergärtnerin neben dem Bus in ihrem Blut liegen sah? Dass das Schießen auf den Bus für die Qassams gedacht war, deren Abschuss sich seitdem nur intensiviert hat? Die Antwort des IDF-Sprechers: “Am 6.11. griff die IDF eine Zelle der Qassamwerfer in Beit Lahia-Stadtteil von Sheikh Zayed an. Sie war gekommen, um die Qassamwerfer abzuholen, die in der Nacht Qassams in Richtung des westlichen Negev abgeschossen hatten. Zum Zeitpunkt des Angriffs wurden keine Zivilisten in der Nachbarschaft der Terrorzelle identifiziert. Die IDF bedauern Verletzungen von nicht beteiligten Leuten. Leider schießen die Terrororganisationen gewöhnlich aus Wohngebieten heraus und so komme es zu unabsichtlichen Verletzungen von Zivilisten …” In dem armseligen Kamal-Adwan-Krankenhaus in Beit Lahia liegen die letzten Opfer. Man hört sie in ihren nicht gemachten Betten vor Schmerzen stöhnen. Verwandte stehen um sie herum. Der eine arbeitete auf seinem Feld, der andere ging spazieren, als er getroffen wurde. Diese hier sind noch mal davon gekommen. Die Schwerverletzten sind schon woanders hingebracht worden. … Die IDF-Panzer und Bulldozer sind nur ein paar hundert Meter von uns. Die Straße ist aufgerissen und nicht länger passierbar. “Die IDF sind bei ihrer Arbeit”, heißt es lapidar in den Medien. Ein Kind kommt in die Klinik und bringt zwei Munitionshülsen mit, die ein Helikopter abgeschossen hat. Nicht weit entfernt steht ein Trauerzelt für Taher al-Masri, einen 16-Jährigen, der am Tag zuvor getötet wurde. Zeitweilig sieht Beit Lahia wie ein pastorales Dorf aus. Plötzlich wurde es zu einem Zentrum von Angst und Zerstörung. Davon können nun auch die Kinder des Indira-Gandhi-Kindergartens erzählen, der mit seinen Mickymausbildern und dekorativen Pflanzen im Garten einer der am besten gepflegten Kindergärten im Gazastreifen ist. Warum Indira Gandhi? Der Vater der Kindergartenleiterin bewunderte die indische Führerin und nannte deshalb seine Tochter nach ihr…. Einige nennen sie Indira, einige Gandhi und einige Indira Gandhi…. 260 Kinder sind in diesem Kindergarten - aus Beit Lahia, Beit Hanun, aus dem Jabalya-Lager und der nächsten Umgebung. Sie sind in Gruppen in farbenfrohen Räumen, deren Wände mit Wandgemälden geschmückt sind. Die Kinder sind zwischen vier und fünf und lernen zwischen 7.30 Uhr und 12 Uhr Lesen, Schreiben, Zählen und Englisch. Nur ein Zehntel kann den Unkostenbeitrag zahlen, 30 NIS/Monat. Kinder von Gefallenen und Gefangenen müssen nichts zahlen. Einige Eingänge der Räume sind mit einem Gitter oder einem Plastikvorhang versehen und haben auch keine Fensterscheiben. Indira hat kein Geld, um den Bau ganz fertig stellen zu lassen und die meisten Eltern haben auch kein Geld. Von weiter her hört man Schießen. Der Kindergarten ist fast leer. Die meisten Kinder sind im Trauerzug für ihre Kindergärtnerin. Indiras Tochter Hadil, 14, passt auf die übrigen Kinder auf. Sie war morgens zur Schule gegangen, aber als sich Panzer laut näherten, schickten die Lehrer die Schüler nach Hause. Naim, ein freundlicher junger Mann, 23, der Fahrer des blauen Minibusses, hatte gerade vor 14 Tagen seine übliche Runde gemacht. Kurz vor 7 Uhr kam er im Stadtteil Sheik Zaid an und wartete auf ein Kind, das sich verspätet hatte. Der Bus war schon voll: 20 Kinder und drei Kindergärtnerinnen. Sie fuhren diesmal nicht nach Beit Hanun, weil es zu gefährlich war. Die Kindergärtnerin Najwa Khalif saß in der Mitte, ihren Dreijährigen auf dem Schoß und die fünfjährige Tochter neben sich. Während der Fahrer noch auf das Kind wartete, hörte er auf einmal einen ohrenbetäubenden Knall. Schockwellen erschütterten den Bus. Er startete den Motor, um schnell zu entkommen. Dem verspäteten Kind gelang es nicht mehr, in den Bus zu steigen. Er sah es schreiend hinter dem Bus her rennen. Als er in den Rückspiegel sah, sah er Najwa am Hals und Kopf bluten und dass der Kopf auf die Seite fiel. Es stellte sich heraus, dass zwei Granatsplitter durchs Fenster geflogen waren und sie getroffen hatten. Sie war schon bewusstlos. Das Blut floss auf Wasim, ihren Sohn, der auf ihrem Schoß saß. Das Blut verteilte sich in die Taschen und Hefte der Kinder”, erinnert er sich. Naim fuhr schnell zum nächsten Krankenhaus Al-Ouda, während die Kinder den Bus mit ihrem Geschrei füllten. “Noch immer höre ich dies Schreien der Kinder und kann nicht schlafen”, erinnert er sich. Auch die Kinder haben seitdem kaum geschlafen. Unmittelbar nach dem Vorfall kamen Dutzende der erschrockenen Eltern zum Kindergarten und schauten nach ihren Kindern. Das Haus war voller Weinen und Trauer - nicht nur von den Kindern, die Zeugen geworden waren. Sie glaubten alle, dass ihre Kindergärtnerin tot sei. Aber Indira versuchte, sie zu trösten und erzählte ihnen, ihre Wunden würden heilen und sie würde sich wieder erholen. Dann war sie gezwungen, den Kindergarten für fünf Tage zu schließen. Einige der Kinder waren nicht wiedergekommen, andere weigerten sich, mit dem Minibus zu fahren… Nun sind zwei Wochen vergangen und Indira erzählt von Kindern, die seitdem nicht mehr sprechen und von Kindergärtnerinnen, die ständig in Tränen ausbrechen. … Wenn man vorher einen Apache-Hubschrauber sah, nahm man ihn zur Kenntnis. Doch seit dem Vorfall machen nicht nur einige der Kinder aus Knet Waffen sondern alle, sogar die Mädchen. Najwa Khalif arbeitete seit drei Jahren im Kindergarten. Es gibt ein Photo mit ihr und den Kindern rund um sie herum. Nun hat man die Kinder ihrer Gruppe auf die anderen Gruppen verteilt, und alle haben eine neue Kindergärtnerin. Während der zwei Wochen, in denen Najweh noch ums Überleben kämpfte, beteten sie alle täglich im Kindergarten für sie, dass sie sich erholen möge. Am Sonntagmorgen als sie erfuhren, dass sie gestorben war, versammelte Indira alle Kindergartenkinder und sagte zu ihnen, sie sollten nun nicht traurig sein, weil ihre Kindergärtnerin Najwa nun im Paradies sei.
Deutsche Übersetzung und geringfügige Kürzung: Ellen Rohlfs Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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