Zwei Paar SandalenZwei Biografien über Mahatma Gandhi erinnern an eine vergessene Tugend der PolitikVon Ekkehart Krippendorff In diesen Wochen wurde anlässlich ihres 100. Geburtstages Mitte Oktober überall Hannah Arendts gedacht. Wenn sie als politische Philosophin ein besonders zu würdigendes Verdienst hat, dann ist es ihre Erinnerung daran, dass “die Politik” erfunden wurde im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhundert als diskursives Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, als Selbstbestimmung des Menschen und als gemeinschaftliches Handeln im Horizont des Gemeinwohls; es war diese historisch unerhörte Polis-Idee, die der öffentlichen Sphäre ihren Namen und ihre Würde gab. Arendt musste an diesen vergessenen und verdrängten Ursprungsgedanken der Politik erinnern, weil der Begriff inzwischen inhaltlich ganz anders besetzt worden war, nämlich so, wie wir ihn heute fast durchweg verwenden: Politik als das große Spiel um Macht in Staat und Gesellschaft. Zwar hat die Politik auch noch in dieser pervertierten Bedeutung eine antike Wurzel (den griechischen Historiker Thukydides), mehr noch aber war es der Florentiner Machiavelli im 15./16. Jahrhundert, der den Begriff dauerhaft prägte als die Lehre von Machterwerb, Machterhalt und Machtverlust, als Sache der Politiker, der Regierenden, einer professionellen politischen Klasse. Aus dieser Perspektive, durch diese Brille verfolgen wir täglich als Zeitungsleser und Nachrichten-Fernseher das Politikschauspiel, gehen gelegentlich auch zu Wahlen: Mit gemeinschaftlicher Selbstbestimmung im öffentlichen Raum hat das alles so gut wie nichts mehr zu tun. Politik ist zur entfremdeten Betriebsamkeit von Parlamentariern, Ministern und Präsidenten auf den medialen Weltbühnen geworden, und wir sind ihr applaudierendes oder meist nörgelndes Publikum. In dieser entleerten, ausgezehrten und buchstäblich sinnlos gewordenen Welt der “Politik” ist nicht nur Arendts epochale Polis-Rückbesinnung als Kritik der Politik von gar nicht zu überschätzender Bedeutung, sondern auch die Erinnerung an eine der größten politischen Figuren des 20. Jahrhunderts überhaupt: Der Heidelberger Rechtswissenschaftler und Südostasienspezialist Dieter Conrad hat soeben eine geradezu spannende Studie über Gandhi vorgelegt mit dem Untertitel: und der Begriff des Politischen. Dem Namen nach ist Gandhi zweifellos kein Unbekannter und man assoziiert mit ihm unbestimmt dieses und jenes: Die dürre Gestalt im weißen Lendentuch, den Pazifisten, den spirituellen Vater der Selbstbefreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft, die Gewaltfreiheit, das Spinnrad als Realsymbol der ökonomischen Autonomie - aber das alles verstellt gewissermaßen folkloristisch den Blick auf das Wesentlichere, auf das Conrad unseren Blick lenken möchte: Gandhis Entdeckung und Entwicklung eines radikal neuen Verständnisses des Politischen, das er zugleich mit geradezu schwindelerregendem Erfolg auch praktizierte - regelwidrig entgegen allem Erfahrungswissen und allen Theorien des europäisch geprägten Politikbegriffes. Dass Indien entgegen allen politologischen Gesetzen und Theorien mit seiner fast einen Milliarde Menschen noch immer eine lebendig funktionierende Demokratie ist, verdankt es ganz wesentlich dem Wirken des Mahatma, der “großen Seele”. Auch wenn sich seine politische Klasse von Gandhis Vision eines friedlichen, basisdemokratischen Gemeinwesens denkbar weit entfernt hat: Das (man darf und muss es so nennen) “Wunder” der indischen Demokratie wäre ohne sein spirituelles Erbe nicht möglich. Von maßstabsetzender Relevanz für die notwendige Revitalisierung und Kritik der Politik ist jener radikal neuartige “Begriff des Politischen”, den Conrad in seiner eindrucksvollen Studie herausarbeitet. Während Arendt darunter die Selbstbestimmung aus dem Geiste diskursiver Vernunft, Max Weber die verantwortungsbewusste Ausübung von in letzter Instanz gewaltgestützter Macht, Carl Schmitt die Unterscheidung von Freund und Feind versteht, so Gandhi das selbstlose Handeln für andere. Der Bezugshorizont dieses Handelns ist das Soziale - der Kampf um Gerechtigkeit und Würde der Unterprivilegierten und Schwachen, damit auch sie ihren Beitrag zum Gemeinwohl erbringen können - nicht aber die Macht über Menschen, nicht das Regiment, nicht stellvertretendes Handeln. Voraussetzung solchen politischen Handelns ist absolute Uneigennützigkeit, Interesselosigkeit an jeglicher persönlicher Vorteilsnahme. Gandhis “Handeln für andere ” bewegt sich im weiteren Horizont einer nicht nur metaphorisch verstandenen Besitzaskese und unterscheidet sich noch in einem weiteren Punkt radikal vom herrschenden europäischen Politik-Paradigma: Die Überwindung der Zweck-Mittel-Unterscheidung oder auch der Unterscheidung von Strategie und Taktik. Gandhis Methode der Gewaltfreiheit ist ihr eigener Sinn und Zweck. Sie ist keine Taktik zur Erreichung strategischer Ziele sondern selbst Ziel, kein Mittel zur Realisierung von Zwecken, sondern selbst Zweck - “der Weg ist das Ziel”, wie er es auf eine bündige Formel gebracht hat. Gewaltfreiheit als Weg und Ziel führt schließlich zur wahren, zur inneren Freiheit, weil sie - was im Befreiungskampf der dreißiger und vierziger Jahre sehr konkret wurde - die Überwindung von Todesfurcht bedeutet. Gandhi selbst hat bekanntlich wiederholt seinen eigenen Körper im Hungerstreik als gewaltfreie Waffe mit Erfolg eingesetzt. Gewaltbereitschaft, die physische, auf Zufügung von Schmerz bis hin zum Töten angelegte Gewalt gegen Menschen entspringt nach Gandhis Anthropologie in letzter Instanz dem Besitz- und dem ihm korrespondierenden Verteidigungsinstinkt: Wer etwas zu verlieren hat, ist nicht nur nicht mehr frei, sondern wird sich und seinen Besitz als Teil von sich selbst auch verteidigen, also zur Waffe greifen. Gewaltfreiheit gründet nicht unbedingt in totaler dinglicher Besitzlosigkeit, sondern vor allem im Bewusstsein von der Vergänglichkeit und Äußerlichkeit des Besitzes als unwesentlich angesichts der wesentlichen Welt des Geistes. Der gewaltfrei gegen einen gewalttätigen Gegner durchgekämpfte politische Konflikt ist darum auch ein Kampf zwischen der spirituellen Macht des Geistes und den materiellen Machtverhältnissen der empirischen Welt. Für ein an Thukydides/Machiavelli/Weber geschultes historisches Politikverständnis ist das natürlich nicht viel mehr als wirklichkeitsfremde Esoterik - wenn es eben nicht den lebendigen Mahatma Gandhi gegeben hätte, der mit dieser radikal anderen Politik einen ganzen Subkontinent gegen die mächtigste Weltmacht ihrer Zeit tatsächlich zum Sieg geführt hat. Die Spiritualität von Gandhis Politikverständnis ist mit dem Begriff der Religiosität etwas genauer zu fassen. Gandhi war ohne Zweifel ein zutiefst religiöser Mensch und darum war es auch seine Politik: Wer meine, Religion habe nichts mit der Politik zu tun, der wisse nicht, was Religion sei - und das gilt dann auch in der Umkehrung: Wer meint, Politik hat nichts mit Religion zu tun, der weiß nicht, was Politik ist. Wenn Gandhi allerdings über Religion spricht, dann trennt er deutlich die real existierenden Religionen (er selbst war Hindu) von einer höheren, universalen, kosmologisch erfahrenen Religiosität. Für den neuen indischen Staat musste die strikte Neutralität zu den Religionen gelten - aber Politik wäre ohne ihre religiöse Fundierung bloße Herrschaftstechnologie. In seiner konzisen Einführung zu Conrads unvollendetem Buch (der Verfasser starb kurz vor dessen Fertigstellung) weist der ihm kollegial befreundete Jan Assmann auf die Geistesverwandtschaft Gandhis mit Lessing, Moses Mendelssohn und der freimaurerischen Aufklärung hin: “In dem Bezug auf die Wahrheit im Sinne einer ›allgemeinen Menschheitsreligion‹ jenseits aller konkreten Religionen gründet Gandhis politische und religiöse Autorität, aus diesem Bezug schöpft er ihre performative, weltverändernde Kraft.” Es trifft sich gut, dass soeben auch eine zuverlässig einführende Biographie in Leben, Werk und nicht zuletzt die vielfältige weltweite Nachwirkung des Mannes erschienen ist, der mit seiner Autobiographie von sich sagte: “Mein Leben ist meine Botschaft”. In übersichtlicher Form informiert das bescheidene Taschenbuch über das politische Leben dieses Menschen, von dem Albert Einstein meinte, künftige Generationen würden es kaum glauben, dass ein solcher jemals leibhaftig auf unserer Erde weilte. Dort findet sich auch ein kleines Bild mit kaum mehr als einem halben Dutzend Gebrauchsgegenständen - zwei Paar Sandalen, Brille, Brieföffner, Essschalen - seinem gesamten weltlichen Besitz. Dieses Bild enthält ohne Worte Gandhis normativen Begriff ethischer Politik.
Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 48 vom 01.12.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und der Redaktion. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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