Der feine KadaverAugusto Pinochet ist tot - und bei den überlebenden Opfern reißen alte Wunden wieder auf
Allein und unfreiwillig in einem fernen Land, ohne mit meinen Freunden in Chile feiern zu können, habe ich einen Wunsch: Pinochet (wo auch immer er sein mag) soll von nun an bis in alle Ewigkeit umgeben von seinen Opfern sein. Weit weg und allein fühle ich mich aber mit meinen Freunden durch dieses unsichtbare Geflecht aus Schmerz, was uns seit damals verbindet, vereint. Wir feiern, weil der Körper von ihm tot ist. Es ist keine Freude, die wir fühlen. Wir können uns nicht über den Tod freuen, den wir nur all zu gut kennen und der uns durch ihn und durch seine Schergen so viele Male auferlegt wurde. Es ist keine Freude. Es ist verzweifelte Euphorie. Eine Befreiung von dieser gewaltigen Last, die seit 33 Jahren Tag und Nacht schwer wog. Es ist keine Freude. Oder vielleicht doch? Es ist das zähneknirschende Anstoßen auf den feinen Kadaver, der nun verschwindet, der Wunsch, Flaschen zu öffnen, auf die Straßen zu gehen und sich dort zu umarmen, zusammen in Chile zu sein. Aber ich bin allein und weit weg, so wie andere, wegen seiner Schuld schon seit vielen Jahren weit verstreut… Es ist keine Freude. Weil er triumphierte und sich ein weiteres Mal über uns lustig machte. Der feine Kadaver ging ohne Verurteilung und mit Verehrung fort und ließ uns in einem Meer von Straflosigkeit planschen. Seine Anhänger lassen es nicht bleiben, uns zu ohrfeigen, indem sie ihn feiern und ehren und dabei außer Betracht lassen, dass selbst durch Chiles Präsidentin die Opfer der Diktatur verkörpert werden. Sie wissen es und mit ihrer Verachtung und mit ihrem fehlenden Respekt machen sie uns klar, dass sie dieselbe brutale Geschichte gerne wiederholen würden. Spätestens jetzt hätten sie verstanden haben müssen, dass Massenmörder und Betrüger schlicht und im Stillen beerdigt werden sollten. Der feine Kadaver stellt die tragische Kluft dar, welche die zwei Chiles spaltet: Die Gesellschaft, die ihre Mörder verteidigt, und die verwundete Gesellschaft, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit schreit. Der Spalt, der uns teilt, reißt wieder auf. Er erinnert uns an die Schmach, dass Pinochet, das komplexe Netz aus den USA, dem CIA, Kissinger und Nixon, den Geheimdiensten des Cono Sur und seine “Operation Condor”, seine Diktaturen und schmutzigen Kriege uns immer noch in unseren beginnenden lateinamerikanischen Demokratien gefangen halten. Der feine Kadaver erinnert uns an den Geruch der Angst und des Entsetzens, der uns damals lähmte. Zwei Chiles: Unsere Tragödie, unser Phönix, unsere Kluft. Abgesehen von gerechten Richtern und unermüdlichen Verteidigern der Menschenrechte bleibt die Justiz weiterhin blind. Abgesehen von vielen, denen die offene Wunde ins Gesicht geschrieben steht, in Mitten von Spöttern und Verspotteten. In Deutschland mussten 50 Jahre vergehen, bevor damit begonnen wurde, kollektiv die Wunde, die Hitler verursacht hatte, zu schließen. In den USA schleppen sich noch immer die Veteranen des Vietnam-Krieges und die neuen des Irak-Krieges dahin und die Gesellschaft glorifiziert sie als “Helden”. In Spanien wurde erst kürzlich, nach 60 Jahren, damit begonnen, die Toten des Franco-Regimes auszugraben. Wie viele Jahre mehr werden die zwei Chiles brauchen, an die uns heute der feine Kadaver erinnert? Wie viele Jahre bis dass Gerechtigkeit, Wahrheit und Zärtlichkeit es schaffen werden, ein Band zwischen dieser Kluft und unserer gemeinsamen Heilung zu knüpfen?
Quelle: Frankfurter Rundschau vom 16.12.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Isabel Lipthay. Aus dem Spanischen von Daniel Berghoff.
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