Über allen Gipfeln ist Unruh´Zwiesprache in Cochabamba: Lateinamerikanische Linksregierungen und soziale Bewegungen im Dialog, der nicht so harmonisch bleiben muss, wie er jetzt noch ist
Von Elmar Altvater Ein Geschenk der Regierung an das Volk sollte es sein, als Venezuelas Präsident Anfang des Jahres das Buch Don Quijote in Millionenauflage drucken und verteilen ließ. Der Bürger solle sich an guter Literatur erfreuen. Böse Zungen meinten, Chávez spiele auf eine Art Seelenverwandtschaft zwischen dem Romanhelden und sich an. Das Jahr 2006 zeigt jedoch, in Venezuelas Staatschef so etwas wie den Streiter gegen Windmühlenflügel zu sehen, hieße, ihn gewaltig zu unterschätzen. Er hat die Wende zum Wandel vertieft und an Statur gewonnen. Und er findet in Lateinamerika mehr Zuspruch als je zuvor. Ist es ein Ritual oder unbändiger Volkswillen, wenn sich Anfang Dezember parallel zum Gipfel der Staaten und Staatschefs der Gemeinschaft Südamerikanischer Nationen (CSN) im bolivianischen Cochabamba die sozialen Bewegungen des Subkontinents treffen? Wenn sie einen Cumbre social, einen Sozialgipfel mit Tausenden Gesandten der Zivilgesellschaft aus zwölf südamerikanischen Länder veranstalten, die ausdrücklich keinen Gegengipfel wollen? Wer kommt, der hofft, die eigenen Vorstellungen von sozialer Entwicklung und ökonomischer Integration werden bei den Teilnehmern des offiziellen Gipfels Gehör finden. Denn die nach Cochabamba gereisten Politiker aus den Mitgliedsländern der Südamerikanischen Gemeinschaft gehören fast alle zur politischen Linken. In Venezuela ist Hugo Chávez gerade erst überzeugend in seinem Amt bestätigt worden. Auch “Lula” da Silva hat im Oktober mit dem zweiten Wahlgang die Präsidentschaft Brasiliens erneut für sich gewonnen. In Ecuador wies Rafael Correa Ende November mit überraschenden 56 Prozent (s. unten) den Kandidaten der Oligarchie, den “pathetischen Populisten und Scharlatan” - so der ecuadorianische Publizist Javier Ponce über Álvaro Noboa - in die Schranken. Correas designierter Energieminister Alberto Acosta teilte bereits mit, die exzessiven Gewinne der Ölgesellschaften besser verteilen zu wollen. Vor Monaten schon setzte sich Michelle Bachelet als sozialistische Bewerberin um das höchste Staatsamt Chiles durch. In Bolivien regiert mit Evo Morales erstmals ein Staatschef mit indigener Herkunft. Nicht zu vergessen die Rückkehr Daniel Ortegas an die Spitze Nicaraguas. Schließlich Mexiko, das der Südamerikanischen Gemeinschaft als Beobachter angehört - dort hat sich López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) zum Präsidenten einer “Neuen Republik” ausrufen lassen, nachdem er bei den Wahlen vom 2. Juli 2006 nur hauchdünn und vermutlich dank eines Wahlbetrugs dem Neoliberalen Felipe Calderón unterlegen war. In Uruguay und Argentinien regieren mit Tabaré Vásquez und Néstor Kirchner ebenfalls zur südamerikanischen Linken tendierende Politiker. Zum Sozialgipfel von Chochabamba treffen sich folglich - wie es in einer Erklärung heißt - die Marginalisierten aus Stadt und Land, die Bauern, indigenen Völker, Frauen, Studenten und Arbeiter, um Regierungen, die für “soziale Belange sensibilisiert” seien, beim Wort zu nehmen. Gerufen hat sie alle die Kontinentale Kampagne gegen die Freihandelszone der beiden Amerikas. Das vorrangig von den USA und einigen konservativen Regierungen Südamerikas favorisierte Projekt einer totalen Handelsliberalisierung war im November 2005 auf dem Amerika-Gipfel von Mar del Plata (Argentinien) zu Grabe getragen worden. Seither sieht sich die ALCA (die spanische Abkürzung für das Vorhaben) diversen Reanimationsversuchen ausgesetzt, die bisher allenfalls eine Untote hervorgezaubert haben. Die US-Spindoctors geben nicht auf und warten darauf, dass die politische Konjunktur der Linken irgendwann bröckelt, um der Free Trade Area of the Americas doch noch Leben einzuhauchen. Damit dies nicht gelingt, ist der Sozialgipfel von Cochabamba energisch bemüht, die Linksregierungen in ihrer Skepsis gegenüber den Heilsbotschaften des Freihandels zu bestärken. Kooperation statt KonkurrenzDer offizielle Gipfel von Cochabamba nun ist der dritte, seit die Gemeinschaft Südamerikanischer Nationen 2004 im peruanischen Cuzco entstand. Eine Union, um die Integration bestehender Wirtschaftsblöcke des Subkontinents zu fördern, Technologietransfer zu erleichtern und das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft auszubalancieren. Das Credo des “Sozialgipfels” hingegen heißt: mehr Kooperation statt Konkurrenz, soziale Rechte gegen die kommerziellen Interessen wahren, Ernährungssouveränität einem exportorientierten Agrobusiness vorziehen, die Umwelt schützen, anstatt die natürlichen Ressourcen über Gebühr auszubeuten, Rechte für die indigene Bevölkerung, Geschlechtergerechtigkeit. Brasiliens Präsident Lula regt in Cochabamba an, man solle ein Parlament der südamerikanischen Nationen schaffen. Was sofort die Frage provoziert: Soll hier den sozialen Bewegungen der Wind aus den Segeln genommen werden nach dem Prinzip “Über allen Gipfeln ist Ruh´” oder wird damit mehr Partizipation der Völker denkbar? Dass eine eindeutige Antwort kaum möglich ist, lässt sich der Agenda des offiziellen Gipfels entnehmen, bei dem die Integración de la Infraestructura de la Región de América del Sur (IIRSA) - also die Integration von Kommunikation, Energienetzen und Transportsystemen - Priorität genießt. Verständlich, denn wer die panamerikanische Freihandelszone vermeiden will, braucht Gegenpläne. Hugo Chávez hat schon vor dem Gipfel bei Kurzbesuchen in Brasilia und Buenos Aires dafür geworben, dem vor gut einem Jahr entwickelten Projekt einer rund 7.000 Kilometer langen, transkontinentalen Pipeline von Venezuela bis Argentinien näher zu treten. Das Öl und Gas Lateinamerikas solle den Lateinamerikanern zugute kommen und nicht mehr, wie es derzeit der Fall ist, zu zwei Dritteln in die westlichen Industrieländer, vor allem die USA, verschifft werden. Dann ließe sich der Tausch von Öl gegen soziale Dienstleistungen, wie von Hugo Chávez und Fidel Castro innerhalb der Alternativa Bolivariana para las Americas (ALBA) für ihre Länder vereinbart, auf Lateinamerika ausdehnen: Tauschhandel - “Countertrade” an Stelle von Freihandel. Das könnte allerdings auch als lateinamerikanisches “Pipelineistan” enden (siehe
Lateinamerikanisches Pipelineistan
) . Denn Befürchtungen des uruguayischen Autors Raúl Zibechi sind nicht von der Hand zu weisen, derartige Infrastrukturprojekte dienten vornehmlich den transnationalen Unternehmen, denen es dank einer neuen Infrastruktur erleichtert werde, die Ressourcen Südamerikas auf dem Weltmarkt zu präsentieren. Und es sind nicht allein Global Players aus den USA oder Europa, die einer optimierten panamerikanischen Infrastruktur viel abgewinnen - auch Unternehmen wie Petróleos de Venezuela, Petrobrás und CVRD aus Brasilien sowie argentinische Ölfirmen, die jetzt größtenteils in spanischer Hand sind, mischen kräftig mit. In der vergangenen Dekade als Staatsbetriebe teilprivatisiert, könnten sie erheblich von einer effizienteren Infrastruktur profitieren. Wäre dies in ähnlicher Weise auch für die sozialen Bewegungen möglich? Nicht länger Hemmschuh sein Präsident Lula hat kürzlich bei einem Besuch im brasilianischen Amazonien die indigenen Völker aufgefordert, doch aufzuhören, wie “ein Hemmschuh der Entwicklung zu wirken”. Nur was ist Entwicklung? Der Bau weiterer Staudämme für Großkraftwerke, etwa am Rio Madeira und am Rio Xingú in Amazonien? Noch mehr Soja-Plantagen auf Kosten des Regenwaldes? Die Förderung von Öl in ökologisch fragilen Regionen? Konflikte um Gewinne aus der Ausbeutung ihrer Ressourcen zeichnen sich auch für die beteiligten Regierungen ab. Der Wille Boliviens, mehr als in der Vergangenheit an den Rohstoffeinnahmen zu partizipieren, hat bereits zu Konflikten mit der mächtigen brasilianischen Petrobrás geführt. Ein ähnlicher Dissens dämmert in Ecuador zwischen dem künftigen Kabinett und privaten Unternehmen herauf. Uruguays Präsident Tabaré Vásquez streitet sich mit seinem argentinischen Pendant Néstor Kirchner um den Bau von Papierfabriken wegen der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung. Die “Hemmschuhe” jedenfalls versuchen nicht nur in Amazonien, einen Fortschritt aufzuhalten, der ihnen die natürlichen Lebensbedingungen raubt. Manchmal kann eben sozialer Fortschritt auch darin bestehen, die Notbremse zu ziehen. Insofern ist absehbar: Das Verhältnis zwischen linken Regierungen und sozialen Bewegungen wird nicht so kooperativ bleiben wie in Cochabamba. Auch linke Regierungen können, selbst wenn sie wollten, die Klassen- und Interessengegensätze in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht vom Tisch fegen. Vor allem können sie daran auch scheitern. Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 51/52 vom 22.12.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Elmar Altvater und Verlag. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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