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Atomare Abrüstung auf der Intensivstation

Nuklearwaffen gefährden Frieden und Lösung globaler Probleme


Von Wolfgang Kötter

Nachdem die Mauern, die die globale Architektur während des Kalten Krieges zusammenhielten, in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zerfallen sind, zeichnen sich allmählich die Konturen einer neuen Weltordnung ab. Es scheint allerdings eher eine Weltunordnung zu werden - voller Gefahren, Risiken und Unwägbarkeiten.

Sicher, auch der Ost-West-Gegensatz barg Konflikte und nicht nur einmal stand die Menschheit am Abgrund der Selbstvernichtung. Dennoch besaß das bipolare Gebäude eine gewisse Stabilität und das Handeln der von den Hegemonialmächten Sowjetunion und USA dominierten Lager war einigermaßen berechenbar. Selbsterhaltungstrieb und Eigeninteresse brachten die Gegner überdies dazu, partiell zusammenzuarbeiten und sich zunehmend an vereinbarte Regeln und Rechtsgrundsätze zu halten. Nachdem das sozialistische System an seiner Reformunfähigkeit implodiert war, öffneten sich sogar Wege, um in eine neue friedensverträgliche Weltordnung zu gelangen. Plötzlich schien es möglich, die Waffenberge abzurüsten, unterschiedliche Interessen durch Kompromisse auszugleichen und gemeinsamen Herausforderungen kooperativ zu begegnen. Doch die Zeit wurde nicht genutzt. Machtarroganz, Überlegenheitswahn und Selbstüberschätzung verhinderten den erforderlichen Wandel zu Selbstbeschränkung und gleichberechtigter Problemlösung.

Warum sich mit Zweitklassigkeit bescheiden, fragen die Führungseliten so mancher Länder, wenn andere auf ihrem Supermachtstatus beharren? Weil die Großmächte entgegen ihren oftmaligen Versprechungen die Nuklearwaffen als harte Währung behalten wollen, darf sich niemand wundern, dass auch weitere Staaten nach den Devisen der internationalen Politik greifen. Zumal sich erwiesen hat, dass der atomare Verzicht keinesfalls eine Sicherheitsgarantie darstellt. Im Gegenteil, es gab in jüngster Zeit Kriege gegen nukleare Habenichtse, aber noch nie wurde ein Atomwaffenstaat Opfer eines militärischen Angriffs. Somit könnten der erste Kernwaffentest Nordkoreas, das Bekenntnis Israels, Nuklearwaffen zu besitzen, und Irans Atomprogramm der Beginn dafür sein, dass ein Albtraum der 1960er Jahre doch noch wahr wird und es bald 20 bis 30 Nuklearwaffenstaaten gibt.

Eine multipolare Kernwaffenwelt führt aber nicht zum globalen Frieden durch gegenseitige Abschreckung, wie die Aufrüstungsapologeten behaupten, sondern die Gefahr eines versehentlichen oder absichtlichen Kernwaffenkrieges wächst ins Unermessliche. In den Beziehungen zwischen den Staaten breiten sich Misstrauen und Argwohn wie Metastasen aus. Die Rüstungsschraube dreht sich zunehmend schneller und lässt die Militärbudgets von bereits jetzt über einer Billion Dollar immer fetter und die Hungernden immer zahlreicher werden. Das über Jahrzehnte mühsam geschaffene Vertragswerk völkerrechtlicher Begrenzungen wird bedenkenlos auf dem Altar der Aufrüstung geopfert: Der Atomwaffensperrvertrag befindet sich auf der Intensivstation fruchtloser Diplomatie, den ABM-Vertrag über das Verbot von Anti-Raketensystemen hat die Bush-Regierung längst begraben, und der nukleare Teststoppvertrag liegt bereits seit zehn Jahren im politischen Koma. Mit ihrem jüngst verkündeten Alleinvertretungsanspruch im Weltraum lehnen die USA alle internationalen Vereinbarungen ab, die ihnen eine Waffenstationierung im Kosmos verwehren würden. Damit degradieren sie die bestehenden Weltraumverträge zu Makulatur und tragen das Wettrüsten endgültig ins All.

Im Schatten ungebändigter Globalisierung wuchern internationaler Terrorismus, Missachtung der Menschenrechte und grenzüberschreitende Kriminalität. Schon erarbeiten Denkfabriken in den USA neue Strategiekonzepte für die Welt von morgen. So geht das “Princeton Project” hochrangiger Sicherheitsexperten davon aus, dass das nach 1945 geschaffene Netzwerk von Institutionen, einschließlich der UNO und ihrer Sonderorganisationen, im 21. Jahrhundert zusammenbrechen werde. Es sollte durch ein “Konzert von Demokratien als Quelle der Legitimität für internationales Handeln” ersetzt werden.

Wenn aber das Faustrecht das Völkerrecht verdrängt, bleiben Vertrauen, Friedfertigkeit und Solidarität auf der Strecke. Kriege bilden dann nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel, um Streitigkeiten auszutragen. “Die apokalyptischen Kriegsszenarien, die uns bis in die 1980er Jahre in Furcht versetzten, drohen zurückzukehren”, warnen die führenden deutschen Konfliktforscher in ihrem Friedensgutachten 2006. Henry Kissinger prophezeit sogar einen Kollaps der internationalen Ordnung: “Ein Scheitern der Diplomatie wird uns vor zwei Alternativen stellen: entweder Gewalt einzusetzen oder eine Welt zu akzeptieren, wo die institutionalisierten Beschränkungen des Gebrauchs von Gewalt zerfallen.”

Doch der Grundsatz “Auge um Auge” ist brandgefährlich und macht die Welt blind für ihre wirklichen Probleme. Verschwenderisches Konsumverhalten und Umweltzerstörung vernichten unwiederbringlich die Existenzgrundlagen kommender Generationen. Auf der Welt von heute ist die Hälfte der 2,2 Milliarden Kinder zu einem Leben in Armut verdammt, auch in Deutschland sind es über zwei Millionen. “Wir müssen uns um alle Bedrohungen gleichermaßen kümmern”, lautet das Vermächtnis des scheidenden UN-Generalsekretärs Kofi Annan. “Andernfalls werden wir wahrscheinlich nicht einmal eine davon erfolgreich bewältigen können.” Wenn der vorhandene Reichtum nicht für die Beseitigung globaler Probleme wie Umweltzerstörung, Armut, Hunger, Krankheit oder Hochrüstung genutzt wird, treibt die menschliche Zivilisation ihrem eigenen Untergang entgegen.

Quelle: ND vom 27.12.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Kötter und des Verlags.

Veröffentlicht am

27. Dezember 2006

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