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Todesurteil

Von Gideon Levy, Haaretz, 16.12.2006

Was mag jetzt durch den Kopf des Soldaten gehen, der eine durchgeladene Waffe auf einen Jungen gerichtet und ihn erschossen hat? Was mag er gedacht haben, als er auf seinen Kopf zielte? Wird er überhaupt noch an sein Opfer denken? Warum wird überhaupt scharfe Munition gegen Kinder angewandt, selbst wenn sie Steine gegen schwer gepanzerte Militärfahrzeuge werfen? Haben Soldaten keine anderen Mittel zur Strafe? Und wie ist es mit der Entscheidung des Sicherheitskabinetts, in der Westbank für mehr Ruhe zu sorgen?

Am 3. Dezember entschied das Sicherheitskabinett, dass Verhaftungen nur noch mit Genehmigung des GOC-Zentralkommandos ausgeführt werden dürfen. Aber anscheinend gibt es keine besonderen Genehmigungen für das gezielte Töten eines Jungen. Es genügt, aus dem Jeep zu klettern, zu zielen und zu schießen. Wie wir wissen, sind die IDF auch gegen eine Feuerpause auf der Westbank.

Jamil Jabaji, 14 Jahre alt, der “Pferdejunge” aus dem Askar-Flüchtlingslager bei Nablus hatte Steine gegen ein gepanzertes IDF Fahrzeug geworfen, das auf dem Weg ins Flüchtlingslager war. Das Fahrzeug bewegte sich - nach den Zeugenaussagen der Kinder - langsam und hielt immer wieder einmal an, was für die Kinder wie eine Provokation aussah, um sie näher herankommen zu lassen. Dann hielt es an, zwei Soldaten stiegen aus und zielten mit ihrer Waffe auf sie. Kein Tränengas, nicht einmal Gummi-ummantelte Kugeln. Es wurde kaltblütig scharf geschossen. Das ist eine Todesstrafe fürs Steine werfen.

Jamil liebte Pferde, spielte in einer Theatergruppe im örtlichen Gemeindezentrum mit, nahm am Karateunterricht teil, war der Tormann in der Kinderfußballgruppe im Lager und ein Mitglied bei den Pfadfindern. Er war der größte unter den Jungen, die auf einem Felsen standen und Steine gegen das Jeep unten auf der Straße warfen. Vielleicht war es seine Größe, der er seinen Tod “verdankt”. Vielleicht lag es daran, dass der Soldat speziell auf seinen Kopf zielte. Die eine Kugel, die seine Stirne traf, verursachte den sofortigen Tod.

Am nächsten Tag errichteten die Kinder am Rande des Olivenhains für Jamil ein Denkmal: einen kleinen Hügel aus Steinen, Blumenkränzen mit einem Foto in der Mitte. Das war nicht weit von der Pferdefarm, wo seine geliebte Stute Musahar im Stall steht. Jamal ist der dritte Junge, der hier in den letzten Jahren zwischen Askar und der Siedlung Elon Moreh getötet wurde. Diese jüdische Siedlung beherrscht die ganze Gegend.

Die schmalen Gassen im neuen Askar-Lager sind nun mit Fotos des getöteten Jungen versehen. Es ist kalt im Haus der Jabajis. Die Großmutter Askiya liegt in Decken eingehüllt auf ihrem eisernen Bett und starrt auf das Photo ihres jüngsten Enkels, das gegenüber an der Wand befestigt ist, umgeben von einem Blumenkranz. Sie ist 78 und wurde in Lod geboren. Jamil war das verwöhnte jüngste Kind der Familie.


Der Vater hatte den größten Teil seines Lebens in der Wurstfabrik von Bnei Brak gearbeitet: jetzt ist er mit seinem Sohn Hamis, 19, der eine seltene unheilbare Krankheit hat, nach Jordanien gefahren. Er kann es sich nicht leisten, zur Trauerzeit nach Hause zu kommen. Wafiya, die trauernde Mutter, klagt und wirft wütend Jamils Schulranzen auf den Boden. “Sie haben nichts gesagt, dass er ‘gesucht” wird’, sagte sie.

Ein Junge, Mohammed, 14, betritt die Wohnung. Er steht wie unter Schock: “Ich kann es noch nicht glauben, dass er nicht mehr lebt”, murmelt er vor sich hin. Er war Jamils bester Freund.

Wir verlassen das Haus und folgen Jamils letztem Gang und gehen zur Ranch, wo Jamil jeden Tag seine Stute gefüttert und gestriegelt hatte. An diesem Sonntag war er auch dort gewesen, bis er und etwa zehn andere Kinder bemerkten, dass ein Jeep von Elon Moreh sich näherte. Sie eilten in den nahen Olivenhain, unterhalb dessen die Straße nach Nablus führt.

Von der Ranch laufen auch wir durch den Olivenhain mit zwei der Jungen, die auch dabei waren und Steine auf die Straße hinunterwarfen, die etwa zehn Meter tiefer liegt.

Die Kinder erzählten, wie sie zum Felsenvorsprung liefen, und auf den Jeep Steine warfen. Sie sagten, dass er sehr langsam fuhr und alle paar Meter angehalten hatte. Sie sind davon überzeugt, dass er sie herausfordern wollte, um noch mehr Steine zu werfen und noch näher zu kommen. Die Kinder fielen in diese Falle. Sie verteilten sich auf dem Felsen und Jamil stand in der Mitte. Zwei Soldaten stiegen aus, zielten mit ihrer Waffe und schossen vier Kugeln ab. Jamil wurde in den Kopf getroffen und stürzte. Die anderen rannten panisch um ihr Leben. Nur zwei blieben zurück und versuchten Jamil wegzuziehen. Aber er war zu schwer für sie. Sie konnten ihn nicht wegtragen. Dann kam ein Mann, der am nächsten wohnte, zu dieser Szene und half ihnen, Jamil wegzutragen. Mit einem Taxi wurde er ins Rafidia-Krankenhaus nach Nablus gebracht, wo man ihn für tot erklärte.

“Warum habt ihr Steine geworfen?”, fragte ich die beiden Kinder vom Askarflüchtlingslager.  “Ach, es ist ein Spiel”. Seitdem trauen sie sich nicht mehr hierher. Nicht weit von hier war ein anderer Junge Oday, 14, getötet worden und da drüben Bashar, 13. Beide waren im Olivenhain getötet worden ….

Im Gemeindezentrum des Lagers erklärte gerade eine junge Schwedin, wo Afrika auf der Landkarte liegt. Auch hier hing ein Foto von Jamil. Der Leiter des Zentrums sagte, Jamil habe an fast allen Aktivitäten des Zentrums teilgenommen, aber ganz besonders an der Theatergruppe….

“Wir hoffen, die Armee kommt nicht noch einmal nach Askar. Man kann die Kinder so schwer am Steine werfen hindern. Wir sind doch keine Armeebasis. Und der Olivenhain ist der einzige Ort, wo die Kinder frische Luft schnappen können”.

“Die Israelis sagen nicht, sie hätten einen Jungen getötet, sie sagen, sie haben jemanden getötet, der das Leben der Soldaten in Gefahr gebracht habe. Aber welches Kind bringt einen Soldaten in Gefahr? Manchmal sagen sie, der Junge sei bewaffnet gewesen - aber welches Kind kann ein Gewehr tragen? Mit welchem Vorwand kommen sie überhaupt hierher? Wenn sie ihr Land verteidigen wollen, sollen sie nicht nach Askar kommen. Hier kann man Tel Aviv nicht verteidigen. Askar gefährdet Tel Aviv nicht”, sagte der Leiter des Zentrums.

Die Antwort des Militärsprechers: “Auf Befehl des Militäranwalts, wird eine Untersuchung des Falles und der Umstände vorgenommen ….”

Übersetzung und Kürzung: Ellen Rohlfs

Veröffentlicht am

12. Januar 2007

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