Kanadas Rolle in AfghanistanVon Nikolai Lanine - Globe & Mail / ZNet 13.01.2007 Victoria/BC. Ich dachte, ich hätte die Vergangenheit hinter mir gelassen, jetzt holt mich Afghanistan in Kanada wieder ein. Ich sehe auf den Sarg nieder, geschmückt mit der kanadischen Nationalflagge. In dem Sarg liegt ein direkter Cousin meiner Frau. Sein Name ist Andrew Eykelenboom, er war kanadischer Arzt. Getötet wurde er am 11. August in Afghanistan. Beim Blick auf den Sarg überkommt mich ein Gefühl tiefer Trauer. Auf surreale Art fühle ich mich zurückversetzt in eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Ich wurde in Russland geboren. Mit 18 zog mich die sowjetische Armee ein und schickte mich nach Afghanistan. Das war in den 80er Jahren. Mit einem Bein in der Gegenwart und dem andern in der Vergangenheit wohne ich Andrews Beerdigungsfeier bei. Ich denke zurück an meine russischen Freunde - an die lebenden und die toten. Da ist zum Beispiel Andrej, der in Kandahar beide Beine verlor. Zwei Jahrzehnte später starb Andrew Eykelenboom nahe derselben Straße, an der das mit Andrej passierte. Ich denke auch an das Leid, das wir dem afghanischen Volk zugefügt haben. Während der Beerdigungsfeier identifiziere ich mich mit den kanadischen Soldaten, die den Tod ihres Kameraden betrauern. Auch ich war damals nach Afghanistan gezogen, weil ich geglaubt hatte, “den Terror zu bekämpfen” und die “Afghanen zu befreien”. Bei meinem ersten Einsatz beschützten wir Flüchtlinge, die aus einer Region flohen, in der die Mudschaheddin angriffen. Das Leid der Menschen berührte mich damals tief - so wie die Armut und Qualen der Afghanen allgemein. Damals dachte ich, unsere Anwesenheit “hilft den Afghanen” - insbesondere im Bereich der schulischen Bildung von Frauen und Kindern. Unsere Kampfeinheit leistete damals “humanitäre Hilfe”. Wir begleiteten Ärzte, verteilten Lebensmittel, Benzin, Kleidung, brachten afghanischen Dörfern Schulen und andere Dienstleistungen. Erst später fragte ich mich: Hat diese Hilfe unsere Aggression gerechtfertigt? Es fällt schwer, Menschen zu töten, ohne sie zuvor zu dämonisieren. 1988 griff meine Einheit versehentlich eine Hochzeitsgesellschaft an. Es waren die Granaten meines Freundes, die unschuldige Menschen töteten. Er war geschockt, als er davon erfuhr. Es gab aber auch andere Soldaten, denen es egal war: “Das Dorf unterstützt ohnehin den Widerstand”, sagten sie. Wir zählten “deren” Opfer nicht - ebensowenig, wie die Nato heute die Toten der anderen Seite zählt. Später schrieb ein anderer Freund - er heißt Alexander: “Wir dachten, sie alle - ob jung oder alt - sind Aufständische”. Alexander hatte Artillerie angefordert - zur Rettung seiner Einheit. Die Artillerie zerstörte ein Dorf, aus dem heraus die Mudschaheddin Alexanders Einheit angegriffen hatten. Die Dorfbewohner - Opfer unserer Luftangriffe - wurden feindselig und wandten sich dem Widerstand zu. Noch mehr Angriffe durch die Aufständischen führten zu noch mehr sowjetischen Angriffen. Zehn Jahre dieses tragischen Teufelskreises töteten anderthalb Millionen Afghanen, Millionen weitere flüchteten aus ihrem zerstörten Land. Hinzu kam ein weiterer wichtiger Faktor, den viele ignorierten: Aufgrund der Aggression von außen begann sich eine mächtige religiöse Kraft zu bilden, bestehend aus militanten islamistischen Bewegungen. Diese Kraft wuchs unter dem Druck der ausländischen Aggression. 1989 - während mein Regiment mit den radikalsten Militanten in der Region (die am meisten unter den sowjetischen Bombardements zu leiden hatten) verhandelte -, sagte einer dieser Dschihad-Kämpfer zu einem Freund von mir folgende Worte: “Wir werden die Rache in euer Land tragen”. Sie haben es wahr gemacht. 1990 schwappte der Backlash über - nicht nur auf Afghanistan und das Gebiet der ehemaligen UdSSR, am 11. September 2001 traf der Backlash auch Amerika. Der Teufelskreis (Gewalt erzeugt Gegengewalt), dessen Zeuge ich in den 80ern geworden war, ist bis heute nicht durchbrochen. Der Schock und die Fassungslosigkeit in den Gesichtern seiner Kameraden auf Andrews Beerdigung - sie waren mir nur allzu vertraut. Ebenso vertraut waren mir die offiziellen Trauerreden. Die Berichterstattung in den kanadischen Medien klingt in meinen Ohren wie das Echo der sowjetischen Presse von damals: “Die positive Veränderung ist offensichtlich. Allerdings wäre es verfrüht, Kandahar nicht länger als “heißen Brennpunkt” zu bezeichnen”, hieß es in den 80ern bei uns in der Sowjetunion. “Die Dinge haben sich zum Besseren gewendet”, stand heute in einer kanadischen Zeitung, allerdings gäbe es noch einige “signifikante Probleme”. “Entwicklung ist jedoch erkennbar”, so die Zeitung weiter. 1988 bemerkte ein sowjetischer Journalist, “die Aufbauarbeit in Kandahar macht Fortschritte”. Hat sich also nichts geändert? Wenn heute kanadische Soldaten sterben, erinnert es mich daran, welch hohes Maß an Respekt Menschen einem getöteten Soldaten entgegenbringen. Wahrscheinlich ist es gut so. Gleichzeitig aber lässt es die Menschen zögern, den Krieg in Frage zu stellen. Im Jahre 1989 hub ich ein Grab aus für einen sowjetischen Arzt, der in Afghanistan getötet wurde. Er hatte Verwundete aus der Kampfzone geschleppt, sie ins Hospital bringen wollen. Dann war sein Fahrzeug auf eine Mine gefahren, und alle starben. “Beim Versuch, andere zu retten, gab er sein Leben”, sagte ein Offizieller in seiner Rede auf einem russischen Friedhof. Andrew “widmete sein Leben dem Schutz des Lebens anderer”, echot es siebzehn Jahre später auf einem Friedhof in Kanada. Und keiner stellt Fragen. Zwanzig Jahre habe ich vergeblich versucht herauszufinden, warum meine Freunde in Afghanistan damals sterben mussten. Heute frage ich mich, warum die Kanadier sterben. Im Mai 2006 wurde in Victoria, BC, eine Gedenkfeier für Bombardier Myles Mansell abgehalten. In der offiziellen Ansprache hieß es, er sei ein Mann gewesen, der sein Leben riskierte “für das Land, dem er diente”. Man gelobte, Kanada werde seine Soldaten “niemals vergessen”. Das alles kam mir bekannt vor. Mein Sandkastenfreund Sergej wurde in Afghanistan getötet und anschließend verstümmelt. In dem Militärbrief, den seine Eltern erhielten, stand: “Die Erinnerung an Ihren Sohn wird ewig weiterleben in unseren Herzen.” “Er starb nicht vergebens”, sagte unser Kommandeur 1989 auch über meinen Freund und Einheits-Kameraden Alexej. Doch die Parallelen gehen weiter. Der sowjetisch-afghanische Krieg wurde damals geführt im Namen der nationalen Sicherheit, im Namen der Frauenrechte und für ein friedliches Afghanistan - so wie der Krieg heute. Heute kämpfen Kanadier gegen dieselben Leute, gegen die die Sowjets zwischen 1979 und 1989 gekämpft haben: “Terroristen, Extremisten, Aufständische, Banditen”. An sich logisch - wäre da nicht die Tatsache, dass die heutigen Taliban in den 80ern vom Westen als “Freiheitskämpfer” unterstützt wurden. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden, frage ich mich nach Andrews Beerdigung beständig. Die sowjetische Bevölkerung hatte nicht dafür gestimmt, Truppen nach Afghanistan zu entsenden. Auch wir Kanadier wurden nicht gefragt. Die Rolle der Sowjetunion in Afghanistan zu kritisieren, galt damals als “unpatriotisch”. Wer heutzutage die kanadische Mission in Afghanistan in Frage stellt, unterstütze die kanadischen Truppen nicht, heißt es. In den 80ern hörte ich den Slogan: “Unterstützt unsere Truppen!” Heute höre ich denselben Slogan in Kanada. Viele Kanadier informieren sich lieber erst gar nicht über das Thema, und einige sind immer noch der Meinung, unsere Soldaten seien als Friedensstifter in Afghanistan - in einem Land, in dem wir in den Augen vieler Afghanen Teil der amerikanischen Okkupation sind, in dem unsere Soldaten bei aktiven Kampfeinsätzen sterben. Falls wir uns also nicht von unserer - bewussten oder blinden - Ignoranz verabschieden und die kanadische Regierung zwingen, die Rolle unserer Truppen in Afghanistan neu zu definieren (von einer aggressiven in eine echte Peacekeeping- und Wiederaufbau-Mission), kommt uns allen eine Mitschuld zu am Tode weiterer Afghanen und Kanadier. Quelle:
ZNet Deutschland
vom 13.01.2007. Übersetzt von: Andrea Noll. Originalartikel:
Canada in Afghanistan
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