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Jedes einzelne Gesicht

Kommentar: Verweigerte Erinnerung an die Todeszüge der Reichsbahn

Von Ekkehart Krippendorff

Es hat lange gedauert, bis in Deutschland eine genuine Gedächtniskultur entstand für das, was zwischen 1933 und 1945 in diesem Land geschehen ist. Spätestens der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) zerstörte alle klammheimlichen Erwartungen einer Entsorgung der jüngsten Vergangenheit durch Wiederaufbau. Immer wieder brach und bricht die Wunde der verschwiegenen Komplizenschaft zu vieler Deutscher und zu vieler Organisationen und Institutionen mit den Verbrechen des NS-Regimes öffentlich auf. Für sie hat sich der Name “Auschwitz” stellvertretend zunächst in das Bewusstsein der Deutschen, schließlich aber von Millionen Menschen in allen Kulturkreisen unauslöschlich eingebrannt. Geschichte kann man nicht ungeschehen machen, aber man kann über sie und ihre Protagonisten so gut wie über unsere Vorfahren urteilen und - wo es sein muss - sie auch verurteilen.

Zehntausende haben es seit den sechziger Jahren in unzähligen Initiativen fertiggebracht, das mahnende Gedenken an die Verbrechen des III. Reiches - aber auch an den mutigen Widerstand - lebendig zu machen: Eine große, kollektive Leistung. Sie ermöglichte schließlich das Holocaust-Memorial. Wie in einem Brennspiegel macht es, mitten im Berliner Regierungsviertel, zugleich die unzähligen Orte des Gedenkens überall in Deutschland sichtbar, die Erinnerungstafeln, die Stolpersteine, die Denkmäler, aber auch die Geschichtsschreibung des letztlich Unbeschreibbaren. Das reicht nicht, es wird nie hinreichen - aber diese Gedächtniskultur ist ein Fundament des Anstandes und der Nachdenklichkeit, der Warnung vor den Gefährdungen des Sittlichen - ein Fundament, auf das eine demokratische Gesellschaft bauen kann. Ein nationales und Welt-Kulturerbe, das gepflegt und ständig erneuert werden will und muss.

Die Weigerung der Deutschen Bahn AG, die Erinnerung an die von der Deutschen Reichsbahn in den Tod transportierten jüdischen Kinder aus fast allen europäischen Ländern öffentlich sichtbar in ihre eigene Geschichte aufzunehmen, kommt einer massiven Beschädigung dieses moralischen Fundaments gleich, das zugleich zum Fundament der EU gehört, die - aktuell sogar unter einer deutschen Präsidentschaft - ihre Identität als friedensfähige, kulturell und ethnisch offene Staatengemeinschaft mit einer Verfassung beglaubigen will.

Es geht hier und heute nicht darum, dass die Deutsche Bahn AG irgendwo auf einem buchstäblichen Abstellgleis ein Spezialmuseum einrichtet oder das Kapitel Nationalsozialismus in ihrem Nürnberger Museum überarbeitet und erweitert. Es geht darum, dass das historisch-moralische Bewusstsein von dem, was auf diesen Gleisen in den Jahren des staatlich organisierten deutschen Mordens geschah und wozu damals allzu willige Helfer die große Transportmaschine Bahn zur Verfügung stellten (gegen Bezahlung natürlich), dass die Menschen von heute sich in den Räumen dieser Bahn, auf den Bahnhöfen der Todeszüge selbst informieren und ein Urteil bilden können. Wo McDonald´s und jeder beliebigen Boutique reichlich Platz eingeräumt wird, sollte es auch Raum geben für die Bilder der Kinder aus den Todeszügen: Dort sehen sie Dich an und haben, jedes einzelne Gesicht, das Recht darauf, erinnert zu werden - nicht mit Statistiken, sondern als Menschen. Ein Management - und ein Verkehrsministerium, dem eine solche Initiative angetragen wird, sollte dafür dankbar und stolz auf die Möglichkeit sein, einen solchen Bildungsauftrag verwirklichen zu können: Stolz als Deutsche Bahn, und stolz als Partner einer deutsch-französischen Vergangenheitsbewältigung, trägt doch die französische Öffentlichkeit auch ihren Anteil an Schuld und Komplizenschaft mit den deutschen Mordorganisatoren: Nur ist Frankreichs Staatsbahn im Unterschied zur deutschen selbstbewusst genug, ihre Bahnhöfe für diese Aktion zur Verfügung zu stellen - das ehrt sie und beschämt uns.

Die damaligen Reichsbahner haben vermutlich nur in seltenen Fällen genau gewusst, dass sie Menschen und eben “11.000 Kinder” in den Tod beförderten - aber sie alle kannten sehr genau die unmenschlichen, die oft buchstäblich viehischen Bedingungen dieser Transporte. Keiner von ihnen scheint sich bei der Bahnleitung darüber beschwert zu haben. Die Verweigerung dieser bitteren Wahrheiten im Kernbereich des Reiseverkehrs - in den großen Bahnhöfen - wirft den Verdacht auf, das Verhalten der Kollegen damals werde nachträglich gebilligt. Um auch nur den Schatten eines solchen Verdachtes abzuwehren, muss die Leitung der Bahn einlenken: Das würde sie ehren - so wie das Gegenteil ihr öffentliche Schande bringt.

Ekkehart Krippendorff ist Politikwissenschaftler

Veröffentlicht am

11. Februar 2007

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