Für einen Abzug aus AfghanistanVon Tariq Ali - Counterpunch / ZNet 27.02.2007 Es ist das Jahr 6 der UN-gestützten NATO-Besatzung von Afghanistan, einer gemeinsamen US/EU-Mission. Am 26. Februar gab es einen Mordanschlag auf Dick Cheney durch Selbstmordattentäter der Taliban, während er einen “sicheren” US-Luftwaffenstützpunkt bei Bagram besuchte (wo einst ein in gleichem Maße sicherer Luftwaffenstützpunkt der Sowjets bei einem früheren Konflikt gewesen ist). Zwei US-Soldaten und ein Söldner (in offizieller US-Sprache “Vertragsnehmer” [contractor]) starben bei dem Angriff, wie auch zwanzig andere Leute, die auf dem Stützpunkt beschäftigt waren. Diese Episode allein schon hätte dem US-Vizepräsidenten das Maß des afghanischen Debakels vor Augen führen sollen. 2006 waren die Verluste merklich angestiegen und NATO-Truppen verloren 46 Soldaten in Zusammenstößen mit dem islamischen Widerstand oder bei Hubschrauberabschüssen. Die Aufständischen kontrollieren nun wenigstens zwanzig Distrikte in den Provinzen Kandahar, Helmand und Uruzgan, wo NATO-Truppen die US-Soldaten abgelöst haben. Und es ist kaum ein Geheimnis, dass viele Beamte in diesen Zonen heimliche Unterstützer der Guerillakämpfer sind. Die Situation ist außer Kontrolle. Bei Kriegsbeginn waren Frau Bush und Frau Blair in vielen Fernseh- und Radioshows erschienen und hatten erklärt, dass das Ziel des Krieges darin läge, die afghanischen Frauen zu befreien. Versuche das heute nochmal zu sagen, und die Frauen werden dir ins Gesicht spucken. Wer ist verantwortlich für dieses Desaster? Warum ist das Land immer noch unterjocht? Wo liegen Washingtons strategische Ziele in der Region? Was ist die Funktion der NATO? Und wie lange kann ein Land besetzt bleiben gegen den Willen der Mehrheit seiner Bevölkerung? Wenige Tränen wurden in Afghanistan und anderswo vergossen, als die Taliban gestürzt wurden, und die Hoffnungen, die westliche Demagogie geweckt hatte, währten nicht allzu lange. Es wurde schnell klar, dass die neu eingepflanzte Elite sich den Löwenanteil der ausländischen Hilfsgelder unter den Nagel reißen und ihr eigenes Netzwerk aus Bestechung und Vetternwirtschaft schaffen würde. Das Volk litt. Eine Lehmhütte mit einem Strohdach, um eine Familie obdachloser Flüchtlinge einzuquartieren, kostet weniger als fünftausend US-Dollar. Wie viele sind errichtet worden? Kaum welche. Es gibt jährlich Berichte darüber, wie jeden Winter hunderte obdachlose Afghanen zu Tode frieren. Stattdessen wurde kurzfristig eine Wahl organisiert, unter hohen Kosten durch westliche PR-Firmen und im Grunde zur Gewinnung der öffentlichen Meinung im Westen. Die Ergebnisse vermochten nicht, die Unterstützung für die NATO im Lande zu stärken. Hamid Karzai, der Marionettenpräsident, setzte ein Zeichen seiner Isolation und seines Selbsterhaltungsinstinktes, indem er es ablehnte, sich von Sicherheitskräften aus seiner eigenen paschtunischen ethnischen Basis stützen zu lassen. Er wollte harte, terminator-mäßige US-Marines, und er bekam sie gewährt. Hätte Afghanistan sicherer gemacht werden können durch ein beschränktes Eingreifen im Stile des Marshallplans? Es wäre natürlich denkbar, dass der Bau frei zugänglicher Schulen und Krankenhäuser, finanziell gefördertes Wohnen für die Armen und der Wiederaufbau der sozialen Infrastruktur, die nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 zerstört worden war, das Land hätte stabilisieren können. Es hätte auch staatliche Hilfe für die Agrar- und Wollindustrie erfordert, um die Abhängigkeit vom Mohnanbau zu verringern. 90% der Weltopiumproduktion ist in Afghanistan angesiedelt. UN-Schätzungen legen nahe, dass das Heroin für 52% des Bruttoinlandsprodukts des Landes aufkommt, und der Opiumanteil innerhalb der Landwirtschaft wächst zügig weiter. All dies hätte einen starken Staat und eine andere Weltordnung erfordert. Nur ein leicht verrückter Utopist hätte von den NATO-Ländern erwarten können, die doch munter ihre eigenen Länder privatisieren und deregulieren, sich für aufgeklärte soziale Experimente im Ausland einzusetzen. Und so wuchs die Korruption unter den Eliten wie ein unbehandelter Tumor. Westliche Gelder, die einige Wiederaufbauprojekte unterstützen sollten, wurden umgeleitet, um extravagante Wohnungen für deren Umsetzer zu bauen. Im Jahr 2 der Besatzung gab es einen riesigen Bauskandal. Kabinettminister hatten sich und ihren Günstlingen Grundstücke in Kabul vermacht, wo die Grundstückspreise nach der Besatzung ein Hoch erreicht hatten, da die Besatzer und ihr Anhang in der Weise wohnen mussten, an die sie sich gewöhnt hatten. Karzais Kollegen errichteten ihre großen Villen, geschützt von NATO-Truppen und in Sichtweite der Armen. Zusätzlich muss man noch anführen, dass Karzais jüngerer Bruder, Ahmad Wali Karzai, zu einem der größten Drogenbarone des Landes geworden ist. Bei einem jüngst erfolgten Treffen mit Pakistans Präsident, als Karzai über Pakistans Unfähigkeit jammerte, den grenzübergreifenden Schmuggel zu unterbinden, schlug General Musharraf vor, dass Karzai vielleicht ein Beispiel setzen sollte, indem er sein Geschwisterteil unter Kontrolle bringt. Während sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht verbesserten, zielten Luftangriffe der NATO häufig auf unschuldige Zivilisten, was letztes Jahr zu gewalttätigen anti-amerikanischen Protesten in der Hauptstadt führte. Was anfänglich von einigen Einheimischen als eine notwendige Polizeiaktion gegen al-Qaida im Anschluss an die Anschläge von 11. September gesehen worden war, wird nun von einer wachsenden Mehrheit in der ganzen Region als eine ausgewachsene imperialistische Besatzung betrachtet. Die Taliban gedeihen und schaffen sich neue Allianzen nicht deshalb, weil ihre sektenhaften religiösen Praktiken jetzt Anklang finden würden, sondern weil sie die einzige mögliche Plattform für die nationale Befreiung sind. Wie die Briten und Russen auf eigene Kosten im Laufe der vorhergehenden zwei Jahrhunderte lernen mussten, konnten es die Afghanen nie leiden, besetzt zu sein. Es gibt keinen Weg, wie die NATO diesen Krieg jetzt noch gewinnen kann. Mehr Truppen schicken wird zu mehr Toten führen. Und intensive Kämpfe würden das benachbarte Pakistan destabilisieren. Musharraf hat schon die Schuld für einen Luftangriff auf eine muslimische Schule in Pakistan auf sich genommen. Dutzende Kinder sind getötet worden, und die Islamisten in Pakistan haben Straßenproteste organisiert. Insider legen nahe, dass der “präemptive” Luftangriff in Wirklichkeit von US-Kampfflugzeugen ausgeführt worden sei, die vorgeblich auf eine Terroristenbasis abzielten, aber die pakistanische Regierung hielt es für besser, die Verantwortung auf sich zu nehmen, um eine Explosion des anti-amerikanischen Zorns zu vermeiden. Das Scheitern der NATO kann nicht der pakistanischen Regierung zur Last gelegt werden. Wenn überhaupt, war es Afghanistan, das eine kritische Situation in zwei pakistanischen Provinzen herbeigeführt hat. Die paschtunische Mehrheit in Afghanistan hat immer enge Beziehungen zu ihren Mitpaschtunen in Pakistan gepflegt. Die Grenze war ein Konstrukt der Briten, und sie ist immer durchlässig gewesen. Gekleidet in paschtunische Kleidung habe ich sie selbst 1973 ohne irgendwelche Hinderungen überquert. Es ist praktisch unmöglich, einen texanischen Zaun oder eine israelische Mauer über die bergige und weitgehend unmarkierte Grenze zu bauen, die die beiden Länder trennt. Die Lösung liegt im politischen Bereich, nicht im militärischen. Washingtons strategische Ziele in Afghanistan scheint es nicht zu geben, wenn sie den Konflikt nicht brauchen, um ihre europäischen Alliierten zu disziplinieren, die sie im Irak verraten hatten. Richtig, die al-Qaida-Führer sind immer noch frei, aber ihre Festnahme wird das Ergebnis von effektiver Polizeiarbeit sein, nicht von Krieg und Besatzung. Was werden die Folgen eines NATO-Abzugs sein? Hier werden Iran, Pakistan und die zentralasiatischen Staaten von grundlegender Wichtigkeit dafür sein, eine konföderative Verfassung zu garantieren, die die ethnische und religiöse Vielfalt berücksichtigt. Die NATO-Besatzung hat diese Aufgabe nicht einfacher gemacht. Ihr Scheitern hat die Taliban wieder belebt und die Paschtunen scharen sich zunehmend um sie. Die Lehre hierbei, wie im Irak, ist eine grundsätzliche. Es ist viel besser, wenn die Veränderung eines Regimes von unten bewirkt wird, sogar wenn das ein langes Warten wie in Südafrika, Indonesien oder Chile bedeutet. Besatzungen unterbinden die Möglichkeit eines organischen Wandels und schaffen ein viel größeres Problem, als vorher da war. Afghanistan ist dafür nur ein Beispiel. Tariq Alis neues Buch, Pirates of the Caribbean, ist bei Verso erschienen. Er kann kontaktiert werden unter tariq.ali3@btinternet.com.
Quelle: ZNet Deutschland vom 05.03.2007. Übersetzt von: Benjamin Brosig. Orginalartikel: “The Case for Withdrawal from Afghanistan” . Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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