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Hartz in Weimar

Verblüffende Parallelen: Schon vor 80 Jahren trat ein Sozialreformer für den Abbau des Wohlfahrtsstaates ein - sein Name ist heute jedem ein Begriff


Von Christoph Butterwegge

Peter Hartz, früher Personalvorstand des größten Automobilkonzerns in Europa und Miturheber der nach ihm benannten vier Gesetze, steht wegen seiner Verwicklung in den so genannten VW-Skandal um “Lustreisen” für Manager wie Betriebsräte vor Gericht.Inzwischen ist der Ex-Personalvorstand Peter Hartz am 25. Januar 2007 nach einer umstrittenen Urteilsabsprache wegen Untreue, zum Teil in besonders schweren Fällen, und Begünstigung eines Betriebsrates zu zwei Jahren Haft auf Bewährung sowie einer Geldstrafe von 576.000 Euro verurteilt worden. Er hatte dem einflussreichen früheren VW-Betriebsratschef Klaus Volkert sowie dessen Freundin Sonderzahlungen und andere Vergünstigungen in Millionenhöhe zugeschanzt, um ihn auf Unternehmenslinie zu halten. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Hier geht es allerdings weder um ihn als Person noch um sein Konzept, sondern um einen Namensvetter, der bisher weitgehend unbekannt, aufgrund seiner Rolle als geistiger Vorläufer aktueller und Pionier während der Weimarer Republik entwickelter “Reformpläne” jedoch sehr interessant ist.

Schon bevor die Weltwirtschaftskrise 1929/32 das Sozialsystem der Weimarer Republik bis ins Mark erschütterte, traten Kritiker des Wohlfahrtsstaates auf den Plan, die seine Leistungsfähigkeit in Zweifel zogen und - ähnlich wie heute - mehr Privatinitiative forderten. Einer davon hieß Gustav Hartz und war 1924 für ein paar Monate DNVP-Reichstagsabgeordneter. 1928 erschien sein Buch Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit, in dem Hartz viele gegenwärtig aktuelle Fragen stellte, auch wenn er noch nicht dieselben Antworten (zum Beispiel Einführung der Praxisgebühr) gab: “Geht man nicht bedenkenlos ein dutzendmal zum Arzt, wenn einmal genügte - nur weil es die Kasse bezahlt?”

Hartz sah überall “Faulenzer und Drückeberger” den Sozialstaat plündern, für die “kein denkender Arbeiter einen Pfennig Arbeitslosenbeiträge bezahlen” wolle. Um “den Mißbrauch der ungerechten und unnötigen Inanspruchnahme” unterbinden zu können bzw. “asoziale Elemente” nicht mehr “auf allgemeine Unkosten reisen” zu lassen, wollte Hartz die Hilfe auf Bedürftige konzentrieren, was er sozialdarwinistisch begründete: “Eine soziale Politik darf nicht mit der Sorge um die Kranken, Invaliden, Witwen, Waisen und Arbeitslosen die Förderung der Lebenstüchtigen, Leistungsfähigen und Arbeitenden vergessen.” Wer würde da nicht an die Parole “Leistung muss sich wieder lohnen” denken, die Kurt Beck kürzlich erneut in die Debatte gebracht hat?

Kostensteigerungen und Krisenerscheinungen des Sozialversicherungssystems führte Hartz auf die demografische Alterung zurück: “Diese ›Vergreisung‹ unseres Volkes hat eine dauernd steigende Zahl der Rentner und eine fortgesetzt steigende Rentenzahlungsdauer und absinkenden Beitragseingang im Gefolge.” Man erlebe gerade das Vorspiel einer Tragödie, meinte Hartz weiter: “In einer Reihe von Jahren sind nicht mehr genug junge beitragszahlende Menschen da, die in der Lage sind, die Summen aufzubringen, die zur Ernährung einer immer größer werdenden Zahl von Alten und Invaliden nötig werden.” Entweder müssten die Beiträge um nahezu das Doppelte steigen oder die Renten um etwa die Hälfte sinken. Betrachtet man den gegenwärtigen Demografie-Diskurs und die damit verbundenen Horrorszenarien, wirkt Gustav Hartz einmal mehr ausgesprochen modern.

Gustav Hartz klagte über “die Bleigewichte des Bürokratismus” und forderte eine Abkehr von dem Glauben, “daß der Staat alles selber machen muß”. Einer seiner Lieblingsbegriffe hieß “Reform”. Als möglicher Ausweg erschien Hartz der Aufbau individuell-familiärer Vorsorge, gekoppelt an die Pflicht zur “eigenverantwortlichen Selbsthilfe”. Von den Erwerbslosen sprach Gustav Hartz - in gewisser Weise entsprechende Gedanken seines berühmten Namensvetters vorwegnehmend - als “Kunden” (noch in Anführungszeichen), die sich nach ihrer Entlassung “sofort bei der Arbeitsvermittlung zu melden” hätten, damit diese sie kennen lerne und “die beste Kontrolle” habe.

Die “staatliche Zwangsversicherung” wollte Hartz abschaffen und ein System der privaten Vorsorge errichten, das auf Zwangssparen hinauslief. Hiervon versprach er sich einen Mentalitätswandel, der die Beschäftigten mit dem bestehenden Wirtschaftssystem aussöhnen sollte: “Es erscheint mir fraglos, daß eine ganz andere Auffassung bei den Arbeitnehmern über den Wert des Kapitals und bezüglich der Verantwortung für seinen Verbrauch und seine Mehrung entstehen muß, wenn jeder das Wachsen seines Kapitals täglich bzw. wöchentlich vor Augen hat.” Hier kann die jüngste Debatte über den Investivlohn und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg bruchlos anknüpfen.

An die Stelle der Sozialversicherung wollte Gustav Hartz “soziale Gemeinschaften” (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Genossenschaften, Religionsgemeinschaften usw.) mit von ihnen betriebenen “Sozialsparkassen” treten lassen. Die einen Zankapfel der Politik bildenden Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sollten dem Bruttolohn zugeschlagen, davon 15 Prozent als Sparbetrag abgeführt werden. Um ihrer Sparpflicht nachkommen und genügend Kapital im Rahmen der Sozialkassen ansparen zu können, sollten die Arbeitnehmer/innen täglich mindestens neun Stunden im Büro oder Betrieb verbringen: “Eine Stunde Mehrarbeit am Tage, als Sparstunde genützt, würde weit sozialer wirken, als der Achtstundentag je an sozialer Wirkung zeitigen kann.”

Zudem hielt Hartz eine “Höherbesteuerung der Ledigen und Kinderlosen” für sinnvoll, die zu fordern man nicht wage, weil “der Mut zu einer positiven Bevölkerungspolitik” fehle. Heute setzt zum Beispiel Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, gleichfalls auf aktive Bevölkerungspolitik: “Wenn es gelänge, die Geburtenraten auf ein Niveau anzuheben, wie es eine stationäre Bevölkerung kennzeichnet, dann ließe sich die Bevölkerung allmählich wieder verjüngen. Das Rentenproblem würde sich lösen, der Arbeitsmarkt würde stabilisiert, und unser Land würde wieder zu der Dynamik bei der Wirtschaft und Wissenschaft zurückkehren, die es einmal besaß.” Um dieses Ziel zu erreichen, will Sinn die Fertilitätsrate mittels finanzieller Anreize für Familien, aber auch mittels gezielter Sanktionen für Kinderlose steigern. Sinn empfiehlt die Staffelung von Altersrenten nach der Kinderzahl und eine Rentenkürzung für Kinderlose auf die Hälfte der “normalen” Höhe: “Wer keine Kinder hat und insofern zu wenig tut, um seine eigene Rente im Umlagesystem zu sichern, muß die Konsequenzen tragen und selbst auf dem Wege der Ersparnis für Ersatz sorgen.” Damals schrieb Gustav Hartz ähnlich klingende Sätze, die jedoch noch mehr Pathos enthielten: “Mit aller Deutlichkeit muß jedem zum Bewußtsein gebracht werden, daß die Zukunft unseres Volkes und Reiches eine ausreichende und gesunde Kinderschar und daß der Mensch immer noch das wertvollste ›Produkt‹ ist. Wer an der Zukunft unseres Volkes durch eigene Kinder keinen Anteil hat - oder haben kann -, der soll wenigstens die Gegenwart für die Kinderreichen materiell erträglich gestalten helfen.”

Gegen Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre rückte Gustav Hartz politisch immer weiter nach rechts. Gleichermaßen den “sozialdemokratischen Marxismus” wie das “bolschewistische Chaos” fürchtend, suchte er das Heil nunmehr in einem “zum Kampfe auf Leben und Tod bereite(n) Nationalismus” und einem faschistischen Ständestaat nach italienischem Vorbild.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität Köln. Zuletzt erschien von ihm Krise und Zukunft des Sozialstaates (3. Aufl. Wiesbaden 2006)

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   02 vom 12.01.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Fußnoten

Veröffentlicht am

15. März 2007

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