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Sind wir Bürger oder Politiker?

Von Howard Zinn - The Progressive / ZNet 25.03.2007

Während ich dies hier schreibe, debattiert der US-Kongress Zeitpläne für einen Rückzug aus dem Irak. Als Antwort auf den Versuch der Bush-Administration, die Truppen zu “verstärken” beziehungsweise als Reaktion auf die Weigerung der Republikaner, unsere Besatzung überhaupt zeitlich zu begrenzen, legen die Demokraten ihre übliche furchtsame Tour an den Tag. Rückzug ja, aber erst in einem Jahr oder in achtzehn Monaten. Überdies scheinen sie zu glauben, sie erhielten die Unterstützung der Antikriegsbewegung.

In einer aktuellen Notiz der Organisation MoveOn, die ihre Mitglieder befragt hat, um zu erfahren, was diese vom Vorschlag der Demokraten halten, heißt es: Die Progressiven im Kongress “denken - wie die meisten von uns - dass der Antrag (bill) nicht weit genug geht, sie sehen ihn aber als ersten konkreten Schritt zur Beendigung des Krieges”.

Was für eine schockierende Ironie. Mit demselben Antrag wird nämlich eine Summe von $124 Milliarden genehmigt, um den Krieg fortzusetzen. Stellen Sie sich folgendes (absurde) Szenario vor: Es ist die Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, und die Gegner der Sklaverei akzeptieren die Verschiebung der Sklavenbefreiung um weitere ein, zwei oder fünf Jahre, gekoppelt an die Bereitstellung von Geldern, um flüchtige Sklaven einzufangen und so den Fugitive Slave Act durchzusetzen.

Eine soziale Bewegung, die sich darauf einlässt, legislative Kompromisse zu übernehmen, hat vergessen, was ihre Rolle ist. Ihre eigentliche Rolle besteht darin, Politiker herauszufordern, Druck auf sie auszuüben - und nicht, sich bescheiden hinter ihnen einzureihen.

Wir, die wir gegen diesen Krieg protestieren, sind keine Politiker, wir sind Bürger. Was auch immer unsere Politiker letztendlich tun, zunächst sollten sie die geballte Macht der Bürgern zu spüren bekommen - Bürger, die für das eintreten, was richtig ist (und nicht für das Machbare, wie unser schändlich feiger Kongress).

Im Falle einer brutalen Besatzung sind “Zeitpläne” nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch unlogisch. (Würden Sie einem Gangster, der in Ihr Haus eindringt, Ihre Kinder terrorisiert und alles, was er sieht, kurz und klein schlägt, einen Zeitplan für den Rückzug anbieten?) Falls unsere Truppen (im Irak) wirklich einen Bürgerkrieg verhindern, falls sie den Menschen dort helfen und die Gewalt eindämmen, warum sollten sie dann überhaupt abziehen? Falls sie jedoch das Gegenteil tun - Menschen verletzen, den Bürgerkrieg provozieren, die Gewalt fortführen -, sollten sie so schnell wie möglich verschwinden, so schnell, wie Schiffe und Flugzeuge sie abtransportieren können.

Vor vier Jahren begann die Invasion des Irak - mit einem furchtbaren Bombardement, mit ‘shock and awe’. Vier Jahre sind genug, um sich ein Urteil darüber zu bilden, ob unsere Truppen das Leben der Irakis verbessert haben oder verschlimmbessert. Die Beweislast ist erdrückend. Seit dem Einmarsch starben Hunderttausende Iraker, rund 2 Millionen haben das Land (laut dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge) verlassen. Annähernd 2 Millionen Iraker gelten als intern Vertriebene; aus ihren Häusern verjagt, suchen sie Zuflucht in anderen Landesteilen.

Stimmt, Saddam Hussein war ein brutaler Tyrann. Aber durch seine Gefangennahme und seinen Tod hat sich das Leben der Iraker nicht verbessert. Die US-Besatzung hat ein Chaos geschaffen: Es gibt kein sauberes Wasser, immer mehr Menschen hungern, die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, an allem herrscht Knappheit - an Nahrung, Strom und Benzin. Immer mehr Kinder sind unterernährt, immer mehr Kleinkinder sterben. Hat die US-Präsenz wenigstens die Gewalt eingedämmt? Im Gegenteil, die Zahl der Angriffe durch Aufständische hat dramatisch zugenommen - auf 180 pro Tag, Stand Januar 2007.

Wie reagiert die Bush-Administration auf vier Jahre des Scheiterns? Sie entsendet weitere Truppen in den Irak. Das klingt wie die Definition von Fanatismus: Du läufst in die falsche Richtung? Okay, dann renn’ einfach doppelt so schnell. Das erinnert mich an einen Arzt im alten Europa, Anfang des 19. Jahrhunderts, der behauptet hat, mit einem Aderlass könne man eine Lungenentzündung kurieren. Wenn es nicht klappte, war einfach zu wenig Blut geflossen, so seine Schlussfolgerung.

Der Vorschlag, den die Demokraten im Kongress eingebracht haben, hieße, noch mehr Geld in diesen Krieg pumpen - gekoppelt an einen Zeitplan, der den Aderlass um ein weiteres Jahr verlängert. Es müssten Kompromisse gemacht werden, diese seien nötig, behaupten die Demokraten, und einige aus der Antikriegsbewegung stimmen zu. Es ist jedoch ein Unterschied, ob man einen Kompromiss eingeht, weil man damit ein unmittelbares Teilzugeständnis erzielt oder ob dies nicht der Fall ist. Ersteres könnte ein Sprungbrett für künftige Zugeständnisse sein. Eine solche Situation wird in dem Kinofilm ‘The Wind That Shakes The Barley’Der Kinofilm ‘The Wind That Shakes The Barley’ (deutsch: ‘Wie Wind in der Gerste’) über den irischen Unabhängigkeitskrieg (Regie Ken Loach) wurde 2006 mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet. beschrieben. Er zeigt, wie den irischen Rebellen, die sich gegen die britische Herrschaft auflehnten, eine Kompromisslösung angeboten wurde: ein Teil Irlands sollte frei werden - als Irish Free State. Der Film beschreibt, wie damals Bruder gegen Bruder kämpfte, weil man sich uneins war, ob dieser Kompromiss akzeptabel sei. Die Akzeptanz dieses Kompromisses - so ungerecht er war -, hat zumindest die Bildung eines Freien Staates Irland bewirkt. Der Rückzugszeitplan der amerikanischen Demokraten hingegen würde nichts Konkretes bewirken, nichts Greifbares - er beinhaltet lediglich ein Versprechen. Ob dieses Versprechen eingehalten wird, bliebe der Bush-Administration überlassen.

Die Arbeiterbewegung sah und sieht sich einem ähnlichen Dilemma ausgesetzt. Es ist durchaus normal, dass Gewerkschaften, wenn sie um einen neuen Tarifvertrag ringen, über Angebote entscheiden müssen, die nur einen Teil ihrer Forderungen berücksichtigen. Solche Entscheidungen fallen nie leicht. Aber in den allermeisten Fällen wird letztendlich etwas Greifbares erzielt - ob das Ergebnis nun als Sieg oder als Niederlage zu werten ist, zumindest wurde etwas erreicht, was die Situation der Arbeiter bis zu einem bestimmten Grad verbessert. Würde man ihnen nur ein Versprechen für die Zukunft auf den Tisch legen und sie ansonsten in ihrer unerträglichen Situation belassen, würde dies sicher nicht als Kompromiss gewertet, sondern als Offenbarungseid. Ein Gewerkschaftsführer, der sagt, “nehmt es hin, es ist das Beste, was ihr kriegen könnt” (wie dies MoveOn im Falle der Resolution der Demokraten vorschlägt), würde vom Podest gebuht.

Ich erinnere mich an eine Situation anlässlich der nationalen Jahresversammlung der Demokraten 1964 in Atlantic City. Die schwarze Delegation aus Mississippi repräsentierte die schwarzen Bürgerinnen und Bürger ihres Bundesstaates, sie repräsentierte 40 Prozent der Bevölkerung des Staates Mississippi. Man bot ihnen folgenden “Kompromiss” an: zwei Sitze, ohne Stimmrecht. “Das ist das Beste, was wir kriegen können”, sagten einige der Schwarzenführer. Aber die Leute aus Mississippi - allen voran Fannie Lou Hamer und Bob Moses - lehnten ab. Sie hielten ihren inneren Kampfgeist aufrecht. Später half ihnen dieser Kampfgeist, das zu erreichen, was sie gefordert hatten. Das Mantra “das Beste, was wir kriegen können” hingegen ist ein Rezept für Korruption.

Es ist sicher nicht leicht, in der korrupten Atmosphäre Washingtons an der Wahrheit festzuhalten und nicht der Versuchung zu unterliegen aufzugeben - eine Versuchung, die im Gewande des Kompromisses daherkommt. Aber einige halten durch. Denken wir nur an Barbara Lee. In den hysterischen Tagen unmittelbar nach dem 11. September war sie die einzige Abgeordnete im Repräsentantenhaus, die gegen die Resolution stimmte, mit der Bush autorisiert wurde, in Afghanistan einzumarschieren. Heute ist sie eine der Wenigen, die sich weigern, finanzielle Mittel für den Irakkrieg bereitzustellen. Lee beharrt auf der sofortigen Beendigung des Krieges im Irak und weist faule, unehrliche Kompromisse zurück.

Außer einigen Wenigen - Barbara Lee, Maxine Waters, Lynn Woolsey und John Lewis - verhalten sich unsere Vertreter als Politiker und opfern ihre Integrität. Sie behaupten, dies sei “Realismus”.

Wir sind keine Politiker, wir sind Bürger. Wir haben keine Ämter. Wir haben nur unser Gewissen. Und unser Gewissen verlangt von uns, dass wir die Wahrheit sagen. Die Geschichte lehrt uns: Die Wahrheit auszusprechen, ist das Realistischste, was wir Bürger tun können.

Howard ZinnsSiehe http://www.nachdenkseiten.de/?p=2106 Auf dieser Nachdenkseite findet sich ein interessanter Artikel über die (aktuellen) Aktivitäten des “Urgesteins” Howard Zinn. aktuelles Buch heißt: ‘A Power Governments Cannot Suppress’.

Copyright 2007 für diesen Artikel bei The Progressive.

Quelle: ZNet Deutschland   vom 23.03.2007. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Are We Politicians or Citizens?”

Fußnoten

Veröffentlicht am

29. März 2007

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