Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Nach ihr!

Von Gideon Levy - Haaretz, 17.03.2007

Als alles vorüber war, gaben ihr die Soldaten Keks und etwas Halva. Und um ganz sicher zu sein, fügten sie noch eine Drohung hinzu: “Wage nur nicht, dies deinen Eltern zu erzählen, sonst bringen wir dich um!” Dies sagten sie zu ihr, bevor sie sie gehen ließen; denn sie wussten, dass sie etwas Schreckliches getan hatten. Aber die kleine Jihan erzählte es ihren Eltern. Die IDF benützt kleine Kinder als menschliche Schutzschilde.

Was diese Praxis betrifft, die als “frühe Warnung” oder als “Nachbar-Prozedur” bekannt ist, so schrieb der Präsident des Obersten Gerichtshofes Aharon Barak im Oktober 2005: “Ich kam zu dem Schluss, dass die “frühe Warnung”-Prozedur nicht im Einklang mit dem Völkerrecht ist. Sie kommt sehr nah an den Kern des Verbotenen und liegt in der Grauzone des Unvorschriftsmäßigen.” … Wir erklären hiermit, dass die “frühe Warnung”-Prozedur dem Völkerrecht widerspricht”. So wurde diese Praxis als illegal erklärt, vom Obersten Gericht also verboten. Na und? Anstelle von Männern, warum nicht kleine Mädchen dazu benützen? Die “Nachbar-Prozedur” ist verboten - wir werden die “Nachbars Tochter-Prozedur” anwenden.

Jihan Dadush, 11, die in der Altstadt von Nablus wohnt, wurde mit süßer Halwa und einem Keks belohnt, nachdem Soldaten sie eines frühen Abends veranlassten das Haus zu verlassen, um sie zu einem Versteck von gesuchten Verdächtigen zu führen: einer dunklen, verlassenen Wohnung, um nachzusehen, ob sich jemand dort versteckt hält oder ob es dort Sprengkörper gibt. Sie machten dann dasselbe mit Amid Amira, einem 15jährigen Jungen in einem anderen Teil von Nablus. Auch er wurde während der Dämmerung in eine dunkle Wohnung geschickt, um den Ort genauer zu untersuchen. Arfa Amira, 12, wurde beauftragt, seine eigene Wohnung zu überprüfen. Anstelle der berühmten “Nach mir!”-Ethik des IDF-Erbes, heißt es nun “Nach ihr!” - ein junges Mädchen, das von bewaffneten Soldaten weggeführt wird, um sich hinter ihr zu verstecken.

Wir gingen mit zwei ausgezeichneten Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisation B’tselem durch die Gassen der Altstadt von Nablus - tausend Jahre alte Gebäude, die es mit denen in der Jerusalemer Altstadt aufnehmen können. Es waren Salma Dabi und Abdel Karim Sa’adi. Zwei Wochen nach der letzten IDF-Operation war die Altstadt jetzt voller Leute. Es ist die Zeit von Aqub, einer Pflanze, die nur kurze Zeit in den Bergen wächst. Der Preis wird schon höher. Diese Woche wurde sie in der Altstadt verkauft - 25 NIS das Kilo - es sind die Trüffel von Nablus.

Während wir an Ständen mit Weintraubenblättern und Lammrippen vorbeigingen, betraten wir ein halbdunkles Steingebäude. In seinem inneren Hof, in dem Wolldecken gelüftet wurden, wurden während der “Operation Schutzschild” 14 Leute getötet. Fünf Jahre später während der “Operation warmer Winter” haben Soldaten diesen unübersichtlichen, mysteriösen Bau mit seinen schmalen Treppen, die in alle Richtungen führen, vier mal überfallen. Nur die Einheimischen kennen diese engen Gassen und Durchgänge. Die Soldaten suchten nach Tunnels. Aber in der Altstadt kann man über die Dächer von einem Gebäude zum andern gehen.

Steile Stufen führten uns zu der Wohnung der Dadush-Familie: Tahni, Nimr und ihre vier Kinder wohnen in drei kleinen sauberen Räumen mit Gewölbedecken. Während wir auf Jihan warten, die bald von der Schule kommt, erzählt uns Tahni, ihre Mutter, von ihren Alpträumen während der zweiten “Operation warmer Winter”. Als die Operation am 25. Februar begann, besetzten Soldaten zwei benachbarte Wohnungen. Die Hawah und Jadallah-Familie sollten sich in einem kleinen Raum zusammendrängen. Als eine Gruppe Soldaten in die Wohnung der Hawah-Familie einbrachen, war dort schon eine andere Gruppe Soldaten. “Sie waren geschockt, als sie andere Soldaten in der Wohnung vorfanden”, lachte Tahni.

Ein paar Stunden später kamen sie zu ihrer Wohnung. Zu neunt - einschließlich Schwager und einer Schwester - waren sie gezwungen, sich in einem winzigen Wohnzimmer, in dem wir jetzt saßen, sich aufzuhalten. Der Vater Nimr wurde verhaftet und zum Hawarra-Verhörzentrum gebracht. Er kehrte nach 14 Stunden zurück. Er wird zu uns kommen, wenn er seine Schicht im Restaurant in der Altstadt beendet hat. Mittags wollten die Soldaten aufs Dach, nachmittags gingen sie wieder. In der Nacht war die Familie zu verängstigt, um zu schlafen. Rund herum waren Soldaten. Es war eine sehr gespannte Lage.

Am nächsten Abend etwa um sechs Uhr kamen die Soldaten zurück, dieselben wie am Tag zuvor und waren überrascht, dass Nimr entlassen worden war. Diesmal brachten die Soldaten sehr viel Ausrüstung mit, was Tahni noch ängstlicher machte. Sie bat darum, in ihre Küche gehen zu können, um sich für eine längere Besetzung des Hauses vorbereiten zu können. Die Soldaten waren damit einverstanden. Wie wurde sie behandelt? Einige waren nett, einige nicht. Sie befahlen den beiden Töchtern Jihan und Hanan, 11 und 15, nach draußen zu gehen. Dort wurden sie getrennt und gefragt, ob sie wüssten, wo sich die gesuchten Männer verstecken würden. …

Die beiden Mädchen kamen von dem kurzen Verhör zurück - direkt in die Arme ihrer erschrockenen Mutter. Kurz danach kam ein Soldat wieder zurück und sah nach Jihan. Er befahl dem Kind, nach draußen zu gehen. Tahni schrie den Soldaten an: “Sie ist noch so klein, sie ist ein kleines Mädchen und sie hat solche Angst!” Aber er ignorierte dies. Ihre Mutter war auch in Sorge um sie, weil sie einen angeborenen Herzfehler hat. Der Soldat hinderte Tahni daran, das Haus zu verlassen, um nachzusehen, was mit ihrer Tochter geschieht. Sie war nahe dran, in Ohnmacht zu fallen. Sie versuchte eine Hilfsorganisation wie Medical Relief anzurufen; dort sagte man ihr, sie könnten wegen der Ausgangssperre nicht kommen.

Nimr, 36, sagte zu den Soldaten: “Nehmt mich mit ins Gefängnis oder zur Hölle, aber rührt das Mädchen nicht an.” Aber sie stießen ihn beiseite, sagten ihm, er solle still sein und im Raum bleiben. Tahni wagte, die Tür zu öffnen und sah, dass die Soldaten und Jihan nicht mehr in der Nähe der Tür waren. Nun begann der Alptraum der Familie.

Jihan konnte ihren Eltern nicht gleich erzählen, was geschehen war - erst einige Tage später. Die Soldaten hatten sie - wahrscheinlich - mit einem Shin Bet-Mann in zivil nach draußen genommen und ihr gesagt, ihr Vater hätte ihnen gesagt, sie wüsste, wo sich gesuchte Männer verstecken würden. Sie sagten dem Mädchen außerdem, der Vater hätte auch gesagt, sie kenne auch den Tunnel, in dem die gesuchten Leute sich verborgen halten. Sie sagte zu ihnen, dass sie von einem Tunnel oder einer Wohnung keine Ahnung habe. Sie sagten, sie lüge. Jihan sagte, die Soldaten versuchten ihre Hände zu fesseln, aber sie ließ es nicht zu. “Vor lauter Angst hätte sie auf eine seit langem leere Wohnung gezeigt und gesagt, dort würden sich Leute verstecken”, sagte die Mutter.

Drei Soldaten nahmen sie zu der verlassenen Wohnung. Man befahl ihr, die dunkle Wohnung zu betreten und folgten ihr, die Gewehre auf sie gerichtet. Einer der Soldaten beleuchtete den Weg. Jihan bettelte darum, sie nach Hause gehen zu lassen.

Jetzt kam Hanan, die ihre gestreifte Schuluniform trug. Dann kam Nimr von der Arbeit. Er spricht auch Hebräisch. Schließlich kam Jihan, auch in Schuluniform. Eine Sechstklässlerin, die allerdings älter und reifer aussieht - ein fröhliches und energisches Mädchen mit Pferdeschwanz. Sie überraschte uns mit der Bereitschaft, ihre Geschichte zu erzählen.

“Die Soldaten sagten mir, ich solle mit ihnen kommen. Einer fragte mich nach Tunnels und nach den jungen Leuten. Ich sagte zu ihnen, dass ich nichts wüsste. Einer sagte, ich sei eine Lügnerin. Sie drohten mir mit Haft. Ich hatte solche Angst. Also erzählte ich ihnen, dass es da eine leere Wohnung gebe - vielleicht schlafen dort die gesuchten Leute. Die Soldaten nahmen mich zu der von mir genannten Wohnung und danach brachten sie mich wieder zurück. Nach einer halben Stunden kamen noch einmal zwei Soldaten und baten mich, nach draußen zu kommen. Sie ließen mich vorneweg gehen, gingen hinter mir her und hielten das Gewehr auf mich. Als ich zu der Wohnung kam, sagten sie, ich solle hinein gehen. Mit einem Laserstrahl von ihrem Gewehr beleuchteten sie den Weg für mich. Sie sagten mir, ich solle in die Küche gehen und in alle andern Räume. Dann fragten sie mich, wie man aufs Dach komme.”

Jihan kannte den Weg in und um die Wohnung; denn bis vor einiger Zeit lebte eine ihnen befreundete Familie dort. Jihan sagt, die Soldaten hätten in der Wohnung mit einander hebräisch gesprochen, das sie nicht verstand. Sie ließen sie in einem der Räume und gingen zum Dach hinauf. Das Ganze dauerte anderthalb Stunden.

Nachdem sie von den Soldaten entlassen worden war, kehrte sie etwa gegen 10 Uhr nach Hause zurück und ging direkt ins Bett, zog sich die Bettdecke über den Kopf und sagte kein Wort mehr. Ihre Mutter sagte, sie habe sehr ängstlich ausgesehen. Oft rief sie nach der Mutter und fragte, ob die Soldaten noch mal gekommen seien. In der Hand hielt sie Halva und ein Keks, das ihr die Soldaten gegeben hatten. Sie habe in letzter Zeit wieder ins Bett gemacht.

Im Al-Balat-Viertel von Nablus, nur wenige Minuten Autofahrt von der Altstadt entfernt, wacht Amid Amira, 15, mit der Familie bei einem lauten Knall auf. Das war etwa um 5 Uhr morgens am 25. Februar, am Tag als die “Operation warmer Winter” begann. Sieben Familienmitglieder waren zu Hause, der Vater war gerade in Amerika. Eine Lärmgranate explodierte direkt vor der Haustür. Die Rußflecken sind noch immer zu sehen. Die Löcher in der Tür, in den Wänden und der Decke weisen darauf hin, dass innerhalb des Hauses auch geschossen wurde.

Naima die Mutter, öffnete die Tür und war erschrocken, dort Soldaten zu sehen. Man sagte ihr, alle im Haus sollten herauskommen. Die ganze Familie, einschließlich zwei Babys und einer 80jährigen Großmutter mussten in die Wohnung der Nachbarn. Schließlich drängten sich drei Familien in einem Raum. Die Soldaten befahlen Manal, Naimas 17-jähriger Tochter, in ihre Wohnung zu gehen, alle Lichter anzumachen, alle Fenster zu öffnen, alle Schränke und Türen zu öffnen. Manal verstand aber das gebrochene Arabisch der Soldaten nicht. Deshalb nahmen sie Arfa, 12, und befahlen ihm, alles zu öffnen und alle Lichter für sie anzumachen.

In seiner noch kindlichen Sprache, erzählte Arfa, dass einer der Soldaten ihn mit seinem Helm in die Stirne stieß. “Mein Kopf schmerzte ein wenig”, sagte er. Die Soldaten suchten nach Amer, einem der Söhne, und nach Ala, dem Verlobten von Manal, deren Bruder Omar Aqub auf der Liste der Gesuchten steht. Sie fragten einen Sohn, Ahmed, 28, und als er ihnen erzählte, dass er keine Ahnung habe, wo die beiden steckten, nahmen sie Amid mit sich.

Amid: “Sie sagten, sag uns, wo dein Bruder Amer ist oder wir erschießen dich. Ich sagte den Soldaten, dass ich es nicht wüsste. Er schlug mich von hinten. Dann fragten sie mich, wem die Wohnung nebenan gehören würde. Ich sagte ihnen, sie gehöre meinem Onkel. Dann sollte ich mit ihnen dorthin gehen. Dort hießen sie mich ins Haus gehen, alle Türen und alle Schränke öffnen und alle Lichter an machen. Sie warfen eine Rauchgranate hinein und befahlen mir, hinein zu gehen. Sie folgten mir und gingen in alle Räume. Mich steckten sie in den letzten Raum. Als sie niemanden fanden, ließen sie mich laufen. Er erhielt kein Halva und kein Gebäck.

Der IDF-Sprecher antwortete, dass die Vorfälle untersucht werden sollten.

Veröffentlicht am

30. März 2007

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von