Grünen-Spitze kritisiert Friedensbewegung und erhält Kontra aus den eigenen Reihen
Ostermärsche: Friedenspolitik braucht Bewegung und mehr neues DenkenZu den diesjährigen Protestveranstaltungen und Ostermärschen der Friedensbewegung erklären Claudia Roth, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Winfried Nachtwei, MdB und Sicherheits- und Abrüstungspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen: “Die jährlichen Demonstrationen der Friedensbewegung für Frieden und Abrüstung an den Ostertagen sind noch immer eine gute und wichtige Tradition. Friedenspolitik heute muss eine Politik sein, die auf Gerechtigkeit, Solidarität, Armutsbekämpfung und dem nachthaltigen Umgang mit der Natur basiert. Wir sind uns einig, dass Militär keine Konflikte lösen kann und ein Krieg gegen Iran verhindert werden muss. Geradezu notorisch wenig sagen die Aufrufe allerdings auch in diesem Jahr dazu, wie internationalen Krisen, Gewalt und Krieg begegnet werden kann. Der Blick verengt sich zu oft allein auf die pauschale Ablehnung des Militärischen. Dazu passt, dass die Vereinten Nationen in den Aufrufen auch in diesem Jahr so gut wie gar nicht auftauchen und auch die zivilen Mittel der Krisenbewältigung kaum erwähnt werden. Das ist friedenspolitisch ein Armutszeugnis. Gerade die Stärkung der Vereinten Nationen und der zivilen Friedensförderung braucht öffentliche Aufmerksamkeit, kritische Unterstützung und friedenspolitische Begleitung. Etliche Aufrufe erwecken den Eindruck als seien Bush-Administration, die EU und bundesdeutsche Politik eine einzige “Achse des Bösen”. Eine solche Schwarz-Weiß-Sicht ist so falsch wie friedenspolitisch kontraproduktiv. Friedenspolitik heute braucht auch mehr neues Denken und Differenzierung. Wir brauchen dringend neuen Schwung für eine glaubwürdige Abrüstungspolitik. Die von ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat angekündigte Modernisierung ihrer Atomwaffenarsenale lehnen wir strikt ab. Das ist brandgefährlich. Es untergräbt die ohnehin fragilen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsregime, erschwert die Verhandlungen mit Staaten, die sich heute atomar bewaffnen wollen und macht die dringend notwendige internationale Abrüstung noch unwahrscheinlicher. Abrüstung muss wieder zum Ordnungsrahmen internationaler Politik werden. Statt abrüstungspolitische Sonntagsreden zu halten oder sich taub in Fragen nuklearer Abrüstung zu stellen, muss die Bundesregierung hierzu glaubwürdig beitragen. Abrüstung fängt vor der eigenen Haustür an. Die noch in Deutschland und Europa stationierten taktischen US-Atomwaffen müssen vollständig abgezogen und unschädlich gemacht werden. Einig sind wir auch darin, dass die vom Verteidigungsministerium beabsichtigte Wiederinbetriebnahme des ehemaligen Truppenübungsplatzes in der Kyritz-Ruppiner Heide ein militärischer Anachronismus ist. Die Bundesregierung darf nicht länger über das Votum fast der gesamten Region hinweggehen. Die Pläne müssen endlich vom Tisch. In diesem Sinne wünschen wir den Ostermärschen eine gute Resonanz.”
Quelle: Bündnis 90/Die Grünen - Pressemitteilung vom 05.04.2007
Ostermärsche 2007: Offener Brief an die Grünen-Spitze
Offener Brief an
Liebe Claudia, lieber Reinhard, lieber Winni, liebe Grüne in Bundesvorstand und Bundestagsfraktion, Ihr habt in einer Erklärung zu den Ostermärschen die Friedensbewegung scharf kritisiert. Ihr habt den Aufrufen zu den Ostermärschen ein “Armutszeugnis” ausgestellt und erklärt: “Friedenspolitik in unserer globalisierten Welt ist komplizierter und schwieriger geworden. Eine Schwarz-Weiß-Sicht hilft hier nicht weiter. Heute braucht Friedenspolitik mehr neues Denken und Differenzierung.” Ihr kritisiert eine “pauschale Ablehnung des Militärischen” der Friedensbewegung, dieser fehle auch der positive Bezug auf die Vereinten Nationen. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin, Franziska Eichstädt-Bohlig, ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen; für sie sind Ostermärsche “zum Ritual geworden” und “nicht mehr zeitgemäß”. Lieber Reinhard, Du hast gesagt, dass wer z.B. alle Auslandseinsätze der Bundeswehr kategorisch ablehne, in deinen Augen keine Friedenspolitik betreibe. Die Grünen und die Friedensbewegung gehen danach - nicht nur zu Ostern - getrennte Wege. Eure massive Kritik, gerade als führende VertreterInnen der Grünen, weisen wir zurück. “Kompliziert” ist Friedenspolitik wohl vor allem für manche Grüne geworden. Das zeigte sehr deutlich die Auseinandersetzung um die Entsendung von Tornado-Flugzeugen der Bundeswehr nach Afghanistan, Flugzeuge, die die Kriegsführung der NATO im Süden Afghanistans unterstützen sollen. Die Grünen zeigten sich in einer Weise “differenziert”, die ihresgleichen sucht. Eine knappe Mehrheit in der Bundestagsfraktion und eine etwas größere Mehrheit im Parteirat stimmte der Entsendung der Tornado-Flugzeuge zu, die Mehrheit des Bundesvorstandes lehnte sie ab. In einer Erklärung des Parteirates vom 5. März werden dann die Argumente aufgelistet, die jeweils für bzw. gegen den Tornado-Einsatz vorgebracht wurden. Wir wollen nicht die gesamte Debatte um die Tornados nachzeichnen, wir wollen angesichts Eurer Forderung nach “mehr Differenzierung” in den Stellungnahmen der Friedensbewegung aber unserem Wunsch nach etwas “mehr Eindeutigkeit” in den Stellungnahmen unserer Führungsgremien Ausdruck geben. Gleichzeitig wären wir nicht überrascht, dass andere politische Gruppierungen nicht jenes Maß an Differenziertheit anstreben, wie es die Grünen derzeit bieten. Es ist weder Anspruch noch Aufgabe der Friedensbewegung, Optimierungsvorschläge für NATO-Operationen zu machen. Auch Euer Ratschlag, friedenspolitische Aufrufe sollten einen positiven Bezug auf die Vereinten Nationen enthalten, kollidiert mit dem taktischen Verhältnis, das unsere Partei in den letzten Jahren zum Völkerrecht gepflegt hat: Wer mit dem Kosovo-Krieg 1999 und dem Afghanistan-Krieg 2001 (Beteiligung an der Operation Enduring Freedom) zwei völkerrechtswidrige Kriege unterstützt hat, sollte gegenüber der Friedensbewegung nicht den moralischen Zeigefinger heben. Wir erlauben uns außerdem den Hinweis, dass der von den UN legitimierte Irak-Krieg 1991 von den Grünen völlig zu Recht abgelehnt und zum Anlass für eine breite friedenspolitische Kampagne genommen wurde. Und wenn Ihr von der Friedensbewegung einen positiven Bezug auf die UN erwartet, dann fordert dies doch bitte auch von Franziska Eichstädt-Bohlig ein, die im Tagesspiegel vom 8. April aus dem nicht UN-mandatierten Kosovo-Krieg die einfache Lehre zieht: “Es reicht nicht immer aus, gegen jegliche militärische Einsätze zu sein.” In diesem Falle erwarten wir nun auch “mehr Differenzierung”: Am Ende der außenpolitischen Debatte, die innerhalb der Partei in den Friedens- und Sicherheitspolitischen Kongress Ende des Jahres mündet, müssen differenzierte Antworten stehen. Dass es nicht genügend “friedenspolitische Begleitung” der zivilen Friedensförderung gebe, ist im übrigen ein Vorwurf, der auf Bündnis 90/Die Grünen selbst zurückfällt: Zwar wurden unter Rot-Grün friedenspolitische Fortschritte, z. B. im “Aktionsplan zivile Krisenprävention”, erzielt. Deren finanzielle und personelle Ausstattung ist jedoch im Vergleich zu den Milliardenausgaben für Militär verschwindend gering. Insofern müssen sich die Grünen der zentralen friedenspolitischen Frage stellen: Wie können die zivilen Mittel der Krisenbewältigung aus dem Würgegriff des Militärischen befreit werden? Wir möchten Euch erinnern: In unserem Grünen-Grundsatzprogramm erklären wir, dass bündnisgrüne Außenpolitik den Werten der “ökologischen Verantwortung, der Selbstbestimmung, der internationalen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Friedens” verpflichtet ist. Wenn wir unsere Politik nach diesen Werten gestalten wollen, ist die Friedensbewegung keine Gegnerin, sondern Verbündete. Ostern 2007
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