Dudu im HimmelVon Debora Reich Als Anfang Juni 1967 mein Bruder schließlich einberufen wurde, arbeitete ich gerade in der Bananenplantage. An einem Abend war er noch da, und am nächsten Morgen war er weg. Ich konnte ihm nicht einmal “Auf Wiedersehen” sagen. Fast alle Mädchen im Oberstufenalter wurden zur Arbeit in die Bananenplantagen geschickt, da die meisten Bananenarbeiter zu ihren Militäreinheiten abgerufen worden waren. Wir arbeiteten sehr hart, um so produktiv wie die regulären Arbeitskräfte zu sein. Wir arbeiteten bis an die Grenzen unserer Kraft. Das war auch gut so. Es hielt uns davon ab, über Dinge nachzudenken, über die man besser nicht nachdachte. In diesen letzten Wochen vor dem Krieg hatte ich von dem krummen Messer, das ich mit der rechten Hand umklammerte, viele Blasen. Mit ihm musste ich die toten Bananenstaudenblätter abschneiden, damit sich die jungen Sprösslinge besser entwickeln konnten. An meiner linken Hand hatte ich Blasen von den abgeschnittenen harten Blättern, die ich beiseite legen musste. Wenn ich heute meine Hände betrachte, scheinen all die Blasen wieder zurückzukommen. Meine Mutter war sehr beschäftigt: mit Wäsche, dem Kinderhaus, den Fenstern des alten Speiseraums, mit dem Organisieren von Matratzen und Decken für den Luftschutzkeller und was sonst noch nötig war. Mein Vater war schon Mitte Mai geholt worden, um sich an einem Schreibtisch mit Logistik herumzuschlagen. Er wusste, dass man ihn für zu alt hielt, um an einer Kampftruppe teilzunehmen. Es ärgerte ihn; denn er wollte lieber noch einmal hinausgehen - anstelle seines Sohnes Dudu, wenn es möglich gewesen wäre. Seine Gedanken waren leicht zu erraten; er konnte sie nicht verbergen. Ja, er teilte sie zweifellos mit vielen anderen Eltern, die ihre Gefühle besser verbergen konnten. Was man äußerlich an ihnen sehen konnte - wenn der Name des Sohnes genannt wurde - war der Stolz, die Entschlossenheit, die Disziplin. Ich vermute, man hatte sich nach so vielen Kriegen daran gewöhnt. Abgesehen von den Blasen hatte ich noch ein anderes Problem: das Rauchen. Ich war schon mit siebzehn von Zigaretten abhängig. Als wir aber entdeckten, dass die Militäreinheiten am Jordan entlang zelteten, gleich hinter der Farm, und keine Zigaretten hatten, sammelten wir von allen die Vorräte an Zigaretten ein, und jemand brachte sie zu den Soldaten - so wurde ich Nichtraucherin. Ich war einesteils froh, meinen Teil beizutragen, aber gleichzeitig wurde ich gereizt und ärgerlich. Es kamen auch Schuldgefühle auf. Eines Tages kam mein Vater von irgendwo her für ein paar Urlaubstunden nach Hause und brachte mir ein paar Schachteln Zigaretten mit, die ihm jemand geschenkt hatte. Er sagte nichts wegen meines Rauchens. Selbst den Dank wischte er beiseite. Er machte mit meiner Mutter Arm in Arm einen Spaziergang bei Dunkelheit an einem schwülheißen Sommerabend im Jordantal. Meine Schwester Shula rief mich an, so oft sie konnte, aber das Telefonnetz brach ständig zusammen, weil es völlig überlastet war. Meine Mutter machte sich ihretwegen Sorgen, weil ihre Einheit an vorderster Front gewesen war, und Shula war - obwohl nicht direkt in der Kampfeinheit - nicht weit entfernt von ihr gewesen. Ich vermute, dass Mutter verärgert war, weil die Araber anscheinend nicht bereit waren, den Krieg um ein paar Monate zu verschieben - bis Shula ihren Militärdienst abgeschlossen haben würde, was im September gewesen wäre. Aber natürlich sprachen wir nie darüber. Mutter war sogar noch mehr ein “Jekke”Jekke wurden die deutschen Juden genannt als Vater, wenn es darum ging, was von ihr erwartet wurde. Sie hätte es nicht als patriotisch angesehen, einem normalen mütterlichen Gefühl Ausdruck zu geben, wenn dieses den Anschein gehabt hätte, die Kriegsbemühungen nicht zu unterstützen. Ihre Angst um Dudu verbarg sie besser als andere. Während der zweiten Maihälfte, als die meisten seiner Klassenkameraden schon (zum Militär) gegangen waren, saß er nervös zu Hause. Sein Einberufungsbefehl lag wohl noch in einem bürokratischen Haufen Papier. Meine Mutter versicherte ihm mit trockener Stimme und trockenen Augen: “Dudu”, murmelte sie und goss mit ruhiger Hand Kaffee ein, “Du wirst noch früh genug dran kommen.” In der letzten Mainacht kam plötzlich ein Telefonanruf, und fast gleichzeitig kam jemand, der ihn abholte - und er ging sofort mit, ohne sich von uns zu verabschieden. Dudu schaffte es fast bis zum Ende - und fiel am letzten Tag des Krieges - am Shabbat bei der Endschlacht auf den Golanhöhen. Ich stand mit irgend jemandem am nordöstlichen Rand der Farm, und wir schauten angestrengt in die Ferne, um die Soldaten zu beobachten, die dort herum schlichen, wo von den syrischen Stellungen nach unseren Bombardierungen noch etwas übrig geblieben war. Ich sah noch mehrere Veteranen herumstehen, die auch zu den syrischen Festungen hinschauten. Auch sie beobachteten, wie unsere Männer - ihre Söhne - langsam nach oben krochen wie Ameisen durch Molasse (Erdschicht). Diese hart gesottenen Veteranen standen grimmig auf dem Rasen und verfolgten die Schlacht mit Ferngläsern - vielen liefen Tränen übers Gesicht. Und als ob dies nicht genug wäre, sprach der eine oder andere im Flüsterton von der Hand Gottes - eine besondere Wendung, wenn man bedenkt, dass er seit vierzig oder fünfzig Jahren ein überzeugter atheistischer Kibbuznik war. Wir verloren vier unserer Jungs in diesem Krieg: einen in Jerusalem und zwei andere - wie Dudu - auf den Golanhöhen. Was mich am meisten quälte, war, dass ich zwar beinahe beobachtet hatte, wie mein Bruder starb, aber keine Möglichkeit hatte, mich richtig von ihm zu verabschieden. In jedem Juni stehe ich seitdem mit einem Arm voller Blumen an seinem Grab und sage ihm: “Dudu, ich vermisse dich - und ich wünschte, wir hätten uns richtig von einander verabschieden können.” So ging es ein paar Jahre. Als Shula ihren Armeedienst beendet hatte, heiratete sie ihren Jugendfreund, der in jenem Krieg ein Auge verloren hatte. Sie lebten in seinem Kibbuz und hatten bald Kinder. Ich machte meinen Militärdienst, lernte nicht viel, was mir nichts ausmachte. Später heiratete ich Dani, den Melker aus dem Kibbuz Hazorea. Ich hatte ihn bei einem Kurs getroffen, als ich 24 Jahre alt war. Auch wir hatten bald Kinder, meine Eltern nahmen ihre Arbeit langsam nicht mehr so ernst und verbrachten mehr Zeit mit ihren Enkeln. Vor kurzem wurde mein ältester Sohn Erez achtzehn, und eine Woche zuvor ging er zum Militär. In einer Nacht machte ich eine sehr merkwürdige Erfahrung. Ich weiß immer noch nicht, ob es ein Traum war - obgleich ich vermute, dass es dies war - aber gleichzeitig war es so unglaublich real. Es war wieder fast Juni, was bedeutete, dass ich mehr als sonst an Dudu dachte. Mein Mann Dani war nicht zu Hause, weil er einen 10-wöchigen Computerkurs in Ruppin gab. Er blieb jede Woche vier Tage dort. Es machte mir nichts aus. So hatte ich etwas mehr Zeit für meine heranwachsenden Kinder Sarai und Noa, die Zwillinge sind, und für Haggai, den zweitältesten. Es begann beim Abendbrot, als die Kinder davon sprachen, was sie sich wohl wünschen würden, wenn sie einen Wunsch äußern dürften. Erez wünschte sich, dass er seinen Pilotenschein mit Erfolg abschließen könnte; Haggai, der Rothaarige, wünschte, er wäre ohne Sommersprossen geboren worden; und die Mädchen stritten wie üblich mit einander und wünschten sich eine Zauberlaterne mit einem Geist, der ihnen unbegrenzt Wünsche erfüllte. Haggai wandte sich an mich und fragte: “Und du Mutter, was würdest du dir wünschen?” Und da ich mit dem Abendessen beschäftigt war, antwortete ich, ohne viel nachzudenken: “Ich wünschte, ich könnte Dudu sehen, nur noch ein einziges Mal!” - es entstand eine plötzliche Stille um den Tisch - “Ihr wisst doch, dass ich mich nicht von ihm verabschieden konnte…” Erez senkte seinen Kopf. Sarai bat um Ketchup, Noa sagte: “Na so was, du vermisst ihn immer noch, wie das?” und Haggai sagte plötzlich - halb im Spaß - um wie üblich eine besondere Situation abzuwehren: “Ich werde meinen Wunsch, die Sommersprossen los zu werden, aufgeben und dir meinen Wunsch geben. Vielleicht kann ich dir so helfen.” Er fing meinen erstaunten Blick auf, zuckte mit den Schultern und schaute zur gegenüberliegenden Wand, an der ein Photo von seinem Onkel Dudu hing, dem er übrigens sehr ähnlich sah, wenn man vom roten Haar und den Sommersprossen absieht. … Ich öffnete meinen Mund und wollte ihm danken - aber da hatte ich einen Klumpen im Hals von der Größe einer Pampelmuse. Während der Nacht wachte ich auf - oder ich hatte das Gefühl, dass ich es tat: da stand doch mein alter Kompanieführer dort, er sah ein bisschen älter aus, aber sonst genau wie damals und sagte: “Shalom Kiki (mein Spitzname von damals), wie geht es dir?” Verblüfft sagte ich: “Danke, gut, Giora, aber was machst du hier?” (Giora starb im Libanonkrieg 1982) “Oh, sie schickten mich, weil sie sich vorstellten, dass dies so natürlicher wäre … willst du dich nicht anziehen und mit mir kommen?” “Ok!” sagte ich noch immer verblüfft, aber bereit, mitzugehen. “Ich werde im Wohnzimmer auf dich warten”, sagte er und ging hinaus. Ich zog mich an und wollte noch nach den Kindern schauen. Aber Giora sagte, “Komm - den Kindern geht es gut. Komm!” Wir gingen hinaus und stiegen in seinen Jeep, denselben alten, den er schon immer gefahren hatte und fuhren nach Norden und um Ein Gev herum… und dann ging die Straße steil nach oben. Plötzlich gab es eine Art wie dichten Nebel - was ziemlich unwahrscheinlich in dieser Jahreszeit war. Als wir aus diesem wieder herauskamen, waren wir an einem Ort, den ich nicht kannte. Er sah aus wie eine Mischung von Armeebasis und einem Club. “Hör, Kiki”, sagte Giora (ein bisschen verlegen, schien mir) “geh dort rüber zum Picknickplatz! Und komme nachher wieder hierher zum Jeep, wo ich auf dich warten will, ok?” Ich nickte und wandte mich zum Gehen. “Und mach dir keine Sorgen über irgend etwas!” rief er mir noch nach. Ich nickte. … Ich ging in die von Giora angegebene Richtung, und als ich näher kam, sah ich zwei junge Leute in Arbeitskleidung, in ein Brettspiel vertieft. Sie saßen an einem Picknicktisch in einem schattigen Hain mit gesprenkeltem Sonnenlicht, das um sie spielte. Einer (so wurde mir plötzlich klar) war Dudu - der andere war mir unbekannt oder besser gesagt: ich war ihm nie begegnet. Doch in meinem tiefsten Inneren hatte ich das Gefühl, ihn irgendwie zu kennen… Dudu schaute auf und sah mich. Er sprang auf, kam auf mich zu und umarmte mich. Wir lehnten uns aneinander - und die Jahre schienen wie weggeweht. Wir waren wieder jung. Es war die seltsamste Erfahrung, die ich je gemacht hatte, und die natürlichste. Ich vermute, dass ich geweint haben muss, denn ich habe sein Hemd an der Schulter ganz nass gemacht. “Hier, Kiki!” er zog ein zerknittertes Stück Stoff aus seiner Tasche. “Putz deine Nase”. Wir lachten und ich dachte, “seit wann hat Dudu ein Taschentuch bei sich?” Aber es schien alles normal und natürlich zu sein. Sein Freund, der Insignien an sich hatte, die ich kaum erkennen und schon gar nicht einordnen konnte, begrüßte mich mit einem breiten Lächeln. Er saß ruhig da und wartete, während Dudu und ich etwas abseits saßen und mit einander plauderten - d.h. er stellte Fragen, und ich antwortete ihm. Er wollte wissen, wie es Mutter und Vater gehe, wie Shula und mir. … Ich erzählte von unseren Hochzeiten und Kindern und dass mein Haggai ihm so ähnlich sehe, abgesehen von seinen haselnussbraunen Augen, den Sommersprossen und den roten Haaren, die von Seiten seines Vaters kämen. Und ich sagte: “Dudu, wir haben uns nie richtig verabschiedet”. Er sagte: “Ja ich weiß, meine Liebe - aber jetzt sollte dich das nicht mehr beunruhigen”. Wir legten unsere Arme umeinander. Ich wusste, dass es nun für mich Zeit war, zu gehen. Er hob einen Arm von meiner Schulter und winkte Giora, der drüben am Jeep wartete. Als ich aufstand, um zu gehen, sagte ich noch zu Dudu: “Dein Freund ist sehr ruhig.” Wir nickten einander ein Hallo und Auf Wiedersehen zu, wie man es eben tut, wenn man einander nicht vorgestellt wurde. “Habt ihr zusammen auf dem Golan gedient?” (Das klang etwas besser und diplomatischer als: Seid ihr beide auf dem Golan erschossen worden?) “Nun”, sagte Dudu mit einem schwachen Lächeln, “ja beinahe, aber nicht so, wie du meinst”. Ich hob fragend meine Augenbrauen. Er zuckte mit den Achseln. Der andere auch, als wollte er sagen: “Nun, sag es ihr doch!” “Dies ist meine Schwester Rivka, von der du schon so viel gehört hast”, sagte Dudu - “und dies ist Khaled, der Bursche, der mich erschossen hat.” Als ich mich umwandte - überrascht und doch irgendwie auch nicht überrascht - um den Soldaten, der meinen Bruder erschossen hatte, näher anzusehen, fügte Dudu hinzu - als Erklärung oder eine Art Entschuldigung: “Und ich erschoss ihn auch, wie du siehst - und nun sind wir hier.” Ich nickte langsam und versuchte, dies zu begreifen. “Hier seid ihr also”, wiederholte ich leise, “ja ich sehe.” … Irgendwie unsicher streckte ich Khaled meine Hand hin, und er schüttelte sie feierlich. Seine Berührung war warm. Ich erinnere mich, dass ich dabei dachte: das Händeschütteln fühlt sich nicht an, als wäre es mit einem toten Soldaten oder einem blutdürstigen Araber oder mit dem Mörder meines geliebten Dudu. Er ist ein normaler junger Mann mit einer ausgebeulten Tarnuniform und einem gesunden Lächeln (und vielleicht einem Schatten Heimweh um die Augen, was eine Mutter leicht bemerken würde). Und nun sitzt er an einem Picknicktisch in einem schattigen Hain und spielt mit … jemandem wie er selbst Backgammon. An die Rückfahrt mit Gioras Jeep kann ich mich kaum erinnern, nur daran, dass ich still vor mich hinweinte und nicht versuchte, es zu unterdrücken… Am nächsten Morgen wachte ich in einem von Licht durchfluteten Zimmer auf, in dem jeder winzige Staubfleck aufleuchtete. Ich fühlte mich irgendwie schwerelos, doch sehr müde, und während des Frühstücks war ich noch sehr in Gedanken…. Deutsche Übersetzung und geringfügige Kürzung: Ellen Rohlfs FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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